Jesus und der christlich-jüdische Dialog

2016 feierte der Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit sein 60-jähriges Bestehen. Das Ringen um die Person des Propheten Jesus aus Nazareth ist ein Dauerthema zwischen den Kirchen und den jüdischen Gemeinden.

Der bekannte Satz von Schalom ben Chorin hat seine Tücken, wenn er feststellt: „Der Glaube Jesu eint uns, der Glaube an Jesus trennt uns.“ Nach vielen Jahrzehnten christlich-jüdischen Dialogs ist die Anschwärzung der Juden als „Gottesmörder“ zwar Geschichte. Aber es ist nicht so sicher, ob allen Christinnen und Christen klar ist, dass der Glaube ihres  Religionsstifters jüdisch war. Jesus ist nie Christ geworden ist, sondern hat als Jude gelebt und auch die Auferstehungserfahrung ist ein durch und durch im Judentum verwurzeltes Bekenntnis. Bei der Pastoraltagung 2017 in Salzburg-St. Virgil aber bekräftigte Bischof Alois Schwarz in seiner Eröffnungsmeditation genau das: Dass Jesus ein Verkünder der Tora Israels war. Und Schwarz sagte das ganz ohne die oft einschränkenden Zusätze, dass Jesus ein Mehr, etwas Größeres oder Besseres gebracht hätte.

Auf der Pastoraltagung in Salzburg wurde ein Workshop „Jesus der Jude – Von einer historischen Tatsache zu ihren Konsequenzen in der Verkündigung“ angeboten. Denn ob die Konsequenzen der Einsicht, dass Jesus ganz unter der Tora lebte, wirklich gezogen werden, ist fraglich. Für die katholische-kirchliche Tradition ist zwar das Mann-Sein Jesu durchaus von Bedeutung, aber seine jüdische Identität hat in der Praxis nicht diese Relevanz. Mit der Lektüre der Evangelien als jüdische Quellen wäre auch ein verstärkter Fokus der Verkündigung auf den einen und einzigen Gott Israels, den Vater Jesu, verbunden. Unter anderem zeigen der Religionsphilosoph Daniel Boyarin und der Judaist Peter Schäfer je auf ihre Weise die Verwurzelung der Predigt Jesu und der frühen christlichen Theologie im jüdischen Umfeld auf.

Jesus als einen der ihren anzusehen, ist in den jüdischen Gemeinden nicht unumstritten. Deborah Weissman, frühere Präsidentin des Internationalen Rats der Christen und Juden, meinte einmal, es sei ein beliebtes jüdisches Spiel zu ergründen „Wer ist einer von uns?“, nachzuforschen, wer aus der Welt der Kunst, Wissenschaft oder Politik Jüdin oder Jude sei. Aber genau das gelte nicht für Jesus, so Weissman. Doch im Dezember 2015 wird Jesus in einer Aufsehen erregenden Erklärung orthodoxer Rabbiner zum christlich-jüdischen Verhältnis erwähnt (Den Willen unseres Vaters im Himmel tun: Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen. 03.12.2015). Die jüdischen Autoritäten zitieren dort den Hamburger Rabbiner Jacob Emden (1697-1776), der schrieb, dass „Jesus der Welt eine doppelte Güte zuteil werden ließ. Einerseits stärkte er die Tora von Moses in majestätische Art … und keiner unserer Weisen sprach jemals nachdrücklicher über die Unveränderlichkeit der Tora. Andererseits beseitigte er die Götzen der Völker und verpflichtete die Völker auf die sieben Noachidischen Gebote.“

Der Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit wagte und wagt sich immer wieder in die Mitte dieses Streits um Jesus. Es zeugt vom guten Verhältnis mit der Israelitischen Kultusgemeinde, dass man eine Diskussion um die Jesus-Bücher von Josef Ratzinger/ Benedikt XVI. direkt im Wiener jüdischen Gemeindezentrum abhalten konnte. Viel beachtet und dicht besucht war auch ein Gesprächsabend „Jesus der Jude“ im Saal der Pfarre St. Nepomuk in der Wiener Leopoldstadt: Dabei sprach Rabbiner Schlomo Hofmeister mit Agnethe Siquans und Wolfgang Treitler von der Universität Wien. Auf einer persönlichen – aber nicht minder theologisch relevanten Ebene – thematisiert die Autorin und Koordinierungsausschuss-Vorstandsmitglied Ruth Steiner dies in ihren Vorträgen „Daheim in zwei Religionen – Mein Bekenntnis zu Judentum und Christentum“.

Die Bildungsarbeit des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit möchte einen neuen Schlüssel für die Interpretation des Evangeliums anbieten. Sie möchte Sätze in den Vordergrund rücken, die bislang nicht diese grundlegende Bedeutung erhalten haben: Sowohl „Auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes wird vergehen“ (Mt 5,18) der Bergpredigt als auch „Tut und befolgt also alles, was sie (die Pharisäer) euch sagen“ (Mt 23,3) schaffen einen Blickwinkel auf Predigt und Wirken Jesu mit Bezug zur Tora. Auch können wir das gesamte Auftreten Jesu als „Gnadenjahr des Herrn“ (Lk 4,19) deuten. Ein erneuertes Verständnis, wie Jesus Gesetz und Propheten „erfüllt“, bedeutet mit Frank Crüsemann: Die Tora „wird als gültig vorausgesetzt, inhaltlich bestätigt und vor allem endlich befolgt und praktiziert.“

Die Stellungnahme der orthodoxen Rabbiner von 2015 festigt den Weg wachsender Anerkennung des Christentums auch von jüdischer Seite ohne die bestehenden und bleibenden Unterschiede zu überdecken. Aus jüdischer Sicht gelten für Christinnen und Christen die Noachidischen Gebote. Aber wenn das Christentum nun entdeckt, dass Jesus die heilige Tora als Evangelium verkündete, was bedeutet das für seine religiöse und ethische Praxis? Die Noachidischen Gebote gelten für alle nicht jüdischen Menschen guten Willens: Um sich daran zu halten, dazu bräuchte es Jesus nicht. Eine „aus der Tora inspirierte Praxis“ könnte in den Kirchen wachsen: Noch ist kaum angedacht, wohin dies konkret führen könnte.

Die Annäherung an den Juden Jesus geht für den Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit nur über einen Dialog mit der lebendigen jüdischen Tradition, nur im Kontakt mit den konkreten jüdischen Gemeinden. Denn es sollen kein hypothetisches Judentum konstruiert und das Judentum nicht um seine zentralen und heiligen Wahrheiten beraubt werden. Die Wahrnehmung des Jüdischen in Jesus darf auch nicht eine folkloristische Kopie des Judentums werden. Der Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit begleitet die Kirchen, hier einen neuen Traditionsstrang zu begründen, für den es keine Vorbilder gibt.

Der christlich-jüdische Dialog findet seine Notwendigkeit im Aufarbeiten einer langen christlichen Schuldgeschichte und in einem neuen Blick auf die christliche Identität, die ohne das Judentum nicht zu ihrer Fülle kommen kann. Buße tun und mehr aus der Quelle des Glaubens schöpfen, das sind zwei genuin religiöse Haltungen. Doch mit dem Einüben in einen Dialog mit dem Anderen vermittelt der Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit die soziale Fähigkeit, Unterschiede anzuerkennen und auszuhalten, die wir in dieser multikulturellen und multireligiösen Welt mehr und mehr brauchen. Die Verbindung vom Ursprung des Christentums mit einem lebendigen und praktischen Bezug für heute können weder rein philosophische Gottes-Konzepte noch am Lehrbuchwissen orientierte Ansätze kirchlicher Erneuerung bieten. Dafür seien dem Koordinierungsausschuss noch viele weitere segensreiche Jahrzehnte gewünscht!