Jenseits der Toleranz

Eine Standortbestimmung des christlich-jüdischen Gesprächs

Gerhard Bodendorfer

„Jenseits der Toleranz“

Eine Standortbestimmung des christlich-jüdischen Gesprächs


50 Jahre Staat Israel – welches Gedenken ist möglich? 

Gedenkjahre sind zumeist schwierige Angelegenheiten. Sie erwachsen nicht aus dem kulturellen Gedächtnis der sie betreffenden Völker, Religionen oder Nationen. Anders als regelmäßig wiederkehrende Feste oder Erinnerungsfeiern dringen sie deshalb kaum in die Tiefenschichten der menschlichen Existenz. Sie bleiben häufig oberflächlich, getragen von pompösen Auftritten und äußerlichem Festgehabe, um schon im nächsten Jahr vergessen zu sein. Und so überstehen wir Mozart- und Schubert- und Heine- und Brechtjahre meistens innerlich unbeschadet. Will ein solches Gedenken mehr sein als eine gebotene Zeremonie aufgrund von Jahrestagen, muß es verschiedene Bedingungen erfüllen.

Die jüdische Tradition bietet dafür ein herausragendes Beispiel, die Pesachnacht. Seit biblischen Zeiten ist das Pesach eine Leidensgedächtnisfeier in Erinnerung an das Leiden in und den hastigen Auszug aus dem "Sklavenhaus" Ägypten. Diese Erinnerung ist wörtlich zu nehmen als Ver-Innerlichung eines vergangenen Ereignisses in den Herzen und im Denken der Jetztzeit. Das daraus resultierende Gedächtnis stiftet über die Jahrhunderte hinweg Identität im gemeinsamen Glauben des Volkes. Die Pesachhaggada verpflichtet zur Erinnerung an den Exodus nicht als vergangenes, sondern als ein im Hier und Heute stattfindendes Ereignis. Tatsächlich wird die Erinnerung zum ver-gegenwärtigenden, also die Gegenwart bestimmenden und aus ihr Leben stiftenden Erlebnis. Und der lebendige Vollzug des Ritus ermöglicht jeder Generation neu, sich in die Geschichte des Volkes einzubringen und einzugliedern. Das jüdische Volk wird angesichts der gemeinsamen Erinnerung an Auszug und Rettung zum Wir, zur an der Schwelle der Befreiung stehenden hoffenden und glaubenden Einheit. Nach Auschwitz ist dieses Erleben einer befreienden Wirklichkeit sehr schwer geworden. Wie Christoph Münz in seiner hervorragenden Dissertation (Der Welt ein Gedächtnis geben. Geschichtstheologisches Denken im Judentum nach Auschwitz, Gütersloh 1995) einem breiten Publikum zeigte, hat die Post-Schoa Theologie Erinnerung und Gedächtnis zum bedeutsamsten Anliegen gemacht und selbst für die modernen Pesachhaggadot die Notwendigkeit erkannt, die Schoa miteinzubeziehen, zu verinnerlichen. Arthur Cohen machte darauf aufmerksam, daß jeder Jude sich beim Pesach buchstäblich real in den Todeslagern, in der Erfahrung der Schoa befinden solle, um diese zu vergegenwärtigen, wenn er des Exodus gedenkt. Und Irving Greenberg läßt zu den vier Kindern in der Pesachnacht ein fünftes treten, ein Kind der Schoa, welches nicht überlebt hat, um noch zu fragen. Die Erinnerung, die dieses Kind weckt, ist die Bewahrung des gottebenbildlichen Antlitzes der Juden im Kampf um ihr Leben, Erinnerung an Ghettos und Lager, an die Sedernacht, als das Warschauer Ghetto sich zur Revolte erhob. Dieses Erinnern geschieht schweigend, weil die Worte fehlen.

Auf diese Weise vergegenwärtigte und verinnerlichte Geschichte wird zum tragenden Grund und zum Motor einer gemeinsamen Existenz. Nur wenn es gelingt, einen solchen Grund in den Menschen zu legen, wird eine Feier oder ein Fest auch tatsächlich über die Zeit hinweg Identität stiften können.

Nun wäre natürlich gerade die Gründung des Staates Israel im Mai 1948 aufs hervorragendste geeignet, einen solchen tiefen Grund zu legen. Zum ersten Mal nach 2000 Jahren konnten Juden wieder selbst ihr Schicksal bestimmen und ihre Geschicke lenken. Und zum ersten Mal nach Jahren der schrecklichsten Verfolgung und Vernichtung des Judentums als Volk, Kultur und Religion konnten Juden als Menschen einen Akt der Auferstehung und der Zukunftshoffnung miterleben. Am Ende der Dunkelheit schien ein schwaches Licht. Dieses Lichtes, dieser Auferstehung zu gedenken, ist mehr als legitim. Dieses Gedenken muß aber eingebettet sein als Teil der Jahrtausende währenden Erfahrung jüdischer Existenz als Gemeinschaft des Gedächtnisses, als Einheit im gemeinsamen Erinnern an Ursprung und Geschichte der jüdischen Existenz, die nie zu haben sein wird ohne Bewußtsein des Urgrundes dieser Existenz in der Erwählung Israels durch Gott.

Nun mag freilich jeder jüdische Leser und jede jüdische Leserin kritisch anfragen, warum ein katholischer Christ wie ich eine Aussage über das Selbstbewußtsein jüdischer Menschen geben kann, und ich stelle mich dieser Kritik. Es sind nun knapp 20 Jahre, die ich in geistiger Auseinandersetzung mit der jüdischen Existenz mein Leben verbringe, als Judaistikstudent, als Abteilungsleiter für Judaistik in Salzburg und schließlich als Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Österreich. Ich äußere meine Ansichten als Mensch, der in tiefer Verbundenheit mit dem Judentum einen wichtigen Teil meiner Identität aus der Erfahrung der jüdischen Tradition erworben hat. Als Christ habe ich zudem – ohne auch nur im mindesten die jüdische Geschichte beerben zu wollen – Anteil bekommen an der durch die gemeinsame Bibel vermittelten Urerfahrung mit dem gemeinsamen Gott. Nun wäre eine geistige Verbrüderung einfach, würde ich in Amerika oder in Australien leben.

Doch kann ich als katholischer Christ in Österreich niemals jene Schwelle übersteigen, die meine Vorväter – ich selbst bin 1960 geboren – hinterlassen haben, als eine gemeinsame Schuldgeschichte. Als katholischer und österreichischer Christ muß ich daher auch fragen, wie ich 50 Jahre Staatsgründung Israels erinnern kann im Bewußtsein dieser Geschichte der Schuld und der Verbrechen, die meine Glaubensbrüder und -schwestern an jüdischen Menschen begangen haben und aus der ich mich nicht nehmen kann, im Bewußtsein, daß 50 Jahre Staatsgründung überschattet sind von 60 Jahren Erinnerung an die Reichspogromnacht und fast 2000 Jahren christlicher Herrschaft über das Judentum.

Wie können also Christen ihren Beitrag zu einer Erinnerung leisten?

Erinnerung als erster Schritt zum Dialog

Erinnerung und Gedächtnis kann auf drei Ebenen laufen, die nebeneinander existieren.

1. Eigene Identität erinnern

Zum einen besagt es, wie etwa am Beispiel der Pesachhaggada gezeigt, die Stiftung und Lebendigerhaltung der eigenen Identität als Gemeinschaft, die auf gemeinsamer Geschichte beruht. Dazu bedarf es Fest und Feier. Im Christentum geschieht diese Erinnerung beispielhaft im Gottesdienst durch die Vergegenwärtigung von Leiden und Sterben Jesu in der Eucharistie.

2. Erinnern der Wurzel

Zum zweiten ist Erinnerung und Gedächtnis auch ein Prozeß der Bewußtmachung der eigenen Wurzeln. Ein nicht unerheblicher Teil der Anstrengung, die in den Kirchen erfolgen muß und zur Zeit auch langsam aber stetig erfolgt, ist daher der dauernde Verweis auf die jüdischen Wurzeln in Glauben und Gottesdienst. Gerade aufgrund der unabdingbaren Abhängigkeit des Christentums von seiner jüdischen Wurzel ist der Dialog zwischen Christentum und Judentum, wie es Papst Johannes Paul II. selbst einmal sagte, nicht zuletzt ein innerer Dialog zwischen dem Alten und Neuen Testament. Wie Kardinal Schönborn in einem Interview darlegte, ist daher das Gespräch mit dem Judentum ein Teil der Ökumene und nicht ein Teil des Dialogs mit den "Weltreligionen". Das Judentum gehört zum Innersten des Christentums, es ist sein eigentlicher Kern. Gerade aus diesem Grund hat die Kirche lange das Judentum zu vereinnahmen getrachtet, indem es sich selbst als Volk Israel verstand, die jüdische Erinnerung für sich reklamierte und die jüdische Bibel als Teil der christlichen für sich vereinnahmte. Gerade als Bibeltheologe kämpfe ich seit Jahren dagegen für eine Neubesinnung auf den Eigenwert des Alten Testaments, das – mit Erich Zenger – besser als Erstes Testament, als hebräische Bibel oder einfach Tanach bezeichnet werden sollte. Zudem nimmt die Kirche erst langsam Abschied von einem Verständnis des Ersten Testamentes als Vorläufer und Vorschein auf das Ereignis Jesu. Wie Erich Zenger nachdrücklich beschreibt, muß das Erste Testament in einem dialogischen Prozeß mit dem Zweiten gelesen werden, und, wie nicht zuletzt Manfred Görg insistiert, auch die über das Zweite Testament hinausgehenden und diese notwendig ergänzenden Teile für das Christentum so erinnert werden, daß die Bibel als Einheit aus zwei Teilen gesehen wird, die gleichberechtigt sind. Ja, mehr noch, die Praxis der frühen Kirche zeigt, daß man nicht das Erste Testament als Illustrierung des Zweiten lesen darf, sondern umgekehrt die frühe Kirche die Erlebnisse mit Jesus ganz in den Kontext des Ersten Testamentes gestellt hat, dieses unverändert und vollständig bewahrt und die Botschaft von Jesus als genuin ersttestamentliche vorsichtig und behutsam angereiht hat.

Während also das Erste Testament für sich existieren kann und dies als jüdische Bibel auch tut, kann eine christliche Bibel nie nur aus dem Zweiten (Neuen) Testament bestehen. Sie wäre schlicht ein unverständlicher Torso. Und die Kirche hat zurecht gegen ein solches Herausreißen des Ersten Testamentes, wie es Marcion vorschlug, ihr Veto eingelegt. Dieses Verständnis von Bibel ist nun symptomatisch für ein Verständnis für das Verhältnis zum Judentum insgesamt. Nur wenn das Judentum einerseits als unabdingbare Wurzel des Christentums und andererseits als eigenständige Größe anerkannt wird, kann ein Dialog entstehen.

3. Aufarbeitung der (Schuld)geschichte

Zum dritten meint Erinnerung und Gedächtnis auch die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen – oft schuldbehafteten – Vergangenheit als Selbstreinigungsprozeß und als Weg aus den eingefahrenen falschen Wegen. Dies bedeutet einen erneuerten Zugang zur eigenen Identität. Gerade die Kirche, nicht zuletzt die katholische, ist häufig der Versuchung erlegen, ihr Selbstbewußtsein einerseits aus einer Verfolgungs- und Opfergeschichte und andererseits aus dem Triumphalismus zu gewinnen. Ein Beispiel dafür mag genügen. Auf einer internationalen Konferenz in Cordoba über die Stellung der Religion in der Gesellschaft im Februar 1998 hat der bedeutende Regimekritiker Adam Michnik auf den Umgang der Kirche in Polen mit dem Zusammenbruch des Kommunismus als triumphalistische Haltung verwiesen. Nach langen Jahren der Abwehr und der Selbstbehauptung gegen das Regime, verbunden mit einem hohen Maß an moralischer Integrität wurde die Kirche zu einem Faktor, der selbst Macht beansprucht und die Lenkung des Staates massiv beeinflussen will. Die Folgen davon sind, daß zum ersten Mal in der polnischen Geschichte starke Widerstände in Teilen der Bevölkerung entstehen, die bislang in dieser Kirche Rückhalt und moralische Unterstützung erwarteten.

Selbst die Erinnerung an eine Opfergeschichte kann mitunter zu einer Verschleierung der realen Sachverhalte und zu einer Entschuldigungsgeschichte führen. Wie lange sah sich Österreich als erstes Opfer Hitlerdeutschlands und auch die Kirche als Opfer des Nationalsozialismus und verschleierte damit die eigene Schuld an der Vorgeschichte und den Vorgängen im Dritten Reich. Und wie oft kann man nicht gerade in christlichen Kreisen von der Verfolgung der ersten Christen durch das Judentum hören, die zwei Jahrtausende Antijudaismus rechtfertigen sollen.

Eine Einteilung in Opfer- und Tätergeschichte insgesamt scheint mir äußerst problematisch zu sein. Für den interreligiösen Dialog zwischen Christen, Juden (und Moslems) sollte dies heißen, daß keine Seite von vornherein darauf pochen sollte, nur Opfer oder nur Täter zu sein. Vielmehr bedarf es in der jeweils eigenen Geschichte des unabdingbaren ersten Schrittes der Selbstkritik und schonungslosen Aufdeckung der eigenen Verantwortung für Unrecht und Leid. Dies heißt natürlich nicht, daß es zu einer Aufrechnung von Schuld kommen kann. Gerade zwischen Christen und Juden ist dies unmöglich, trägt doch die christliche Seite hier ganz eindeutig die Last der Unheilsgeschichte. Wenn es auch noch so schwer sein mag, sollte jedoch keine Seite ihre blinden Flecken haben. Dies betrifft natürlich auch eine offene und kritische Sichtung der Geschichte Israels in den letzten 50 Jahren.

Als katholischer Christ bin ich vor allem verpflichtet, auf schonungslose und nachdrückliche Art die eigene Unrechtsgeschichte nicht nur zu beschreiben, sondern sie auch in geeigneter Weise zu erinnern. Eine solche Weise kann ein öffentliches Schuldbekenntnis der Kirche gegenüber dem Judentum darstellen, das viele für das Jahr 2000 vom Vatikan erwarten. Ein Schuldbekenntnis könnte liturgisch zu geeigneter Stelle erinnert und ver-innerlicht werden. Ein Platz, wo solche Erinnerung besonders Not täte, wäre im Rahmen der Karfreitagsliturgie, die lange Zeit von Antijudaismus und Verdammnis des Judentums geprägt war. Hier wäre ein öffentliches Schuldbekenntnis der Gemeinde am Platz und könnte langsam aber sicher ein Gegengewicht in der geistigen Identität der Christenheit bilden, das sich so lange gerade zu Ostern vom Volk Israel abzuheben trachtete. Des Weiteren ist von mehreren Seiten der 17. Januar als letzter Tag vor der Weltgebetswoche als Tag einer solchen Erinnerung vorgeschlagen worden.

Diese liturgischen Zeichen müssen getragen und unterstützt sein von der intellektuellen und wissenschaftlichen Aufarbeitung von Antijudaismus und Antisemitismus der Kirche, die in jüngster Zeit zwar vorangetrieben wurde, aber immer wieder Rückschläge erleidet.

Gerade in bezug auf die Stellung der Kirche zum Staat Israel ist hier zu bedenken, daß die unheilvolle Verbindung des Todes Jesu mit der Kollektivschuld des Judentums bis vor kurzem eine Anerkennung eines eigenen jüdischen Staates verunmöglicht hat (vgl. zum folgenden Heinz Schreckenbergs dreibändige Sammlung der christlichen Adversus-Judaeos-Texte in den Europäischen Hochschulschriften Reihe XIII):

Das Motiv von der Schuld der Juden am Tod Jesu ist so alt wie das Christentum selbst. Apg 2,23.36; 3,13-17; 4,25; Jak 5,6; 1 Thess 2,14-16 sind hier als neutestamentliche Belege zu nennen. Kann man diese aber immer noch als innerjüdische Mahnreden verstehen, steigert sich der Vorwurf als Anklage an das nun fremde Judentum massivst in den ersten Jahrhunderten: Melito, Bischof von Sardes schreibt in seiner Osterpredigt um 160/170:

„Dieser wurde getötet. Und wo wurde er getötet? Mitten in Jerusalem. Warum? Weil er ihre Gelähmten geheilt . . . hatte (Z. 523ff.)... Welch schlimmes Unrecht, Israel, hast du getan? Du hast den, der dich ehrte, geschändet; den, der dich verherrlichte, hast du entehrt; den, der sich zu dir bekannte, hast du verleugnet; den der dir gepredigt hat, hast du abgelehnt; getötet hast du den, der dich lebendig gemacht. Was hast du getan, o Israel? (Z. 534-540)... Gewiß, er mußte leiden, aber nicht durch dich (Z. 546)... Du bereitetest ihm spitze Nägel und falsche Zeugen und Fesseln und Geißeln und Essig und Galle und das Schwert und die Trübsal wie für einen Raubmörder; denn du auferlegtest ihm Geißeln für seinen Leib und Dornen für sein Haupt; und du bandest seine schönen Hände, die dich aus Erde gebildet haben; und seinen schönen Mund, der dich mit Leben ernährt hatte, den nährtest du mit Galle; und so tötetest du deinen Herrn an dem großen Festtag. Und du warst fröhlich, jener aber hungerte; du trankest Wein und aßest Brot, jener Essig und Galle (Z. 572-583)... Du aber wurdest nicht als Israel erfunden, denn du hast Gott nicht gesehen; du hast den Herrn nicht erkannt, du hast, o Israel, nicht gewußt, daß dieser der Erstgeborene Gottes ist (Z. 603-607)... Getötet hast du den Herrn inmitten Jerusalems! Höret es, alle Geschlechter der Völker und sehet: Unerhörter Mord geschah inmitten Jerusalems in der Stadt des Gesetzes, in der Stadt der Hebräer, in der Stadt der Propheten, in der Stadt, die für gerecht galt! Und wer wurde gemordet? Wer ist der Mörder? (Z. 710-718)... Der die Erde aufhing, ist aufgehängt worden; der die Himmel festmachte, ist festgemacht worden; der das All festigte, ist am Holz befestigt worden. Der Herr - ist geschmäht worden; der Gott - ist getötet worden; der König Israels ist beseitigt worden von Israels Hand. 0 des unerhörten Mordes! 0 des unerhörten Unrechts!" (Z. 731-738).

Die Anklage des Gottesmordes, dazu noch in Verbindung mit dem Kollektivschuldvorwurf, trug wesentlich dazu bei, aus dem jüdisch-christlichen Nebeneinander immer mehr ein feindliches Gegeneinander werden zu lassen. Diese ungeheuerliche Behauptung wird nicht abgeschwächt durch den Gesichtspunkt des Nichtwissens, der einmal zur Sprache kommt (Z. 604-607), vielmehr ist das Nichterkennen Gottes nur ein neuer Punkt des ganzen Anklagekataloges und kommt nicht im Sinne eines Verzeihung befürwortenden mildernden Umstands zum Zuge wie im Neuen Testament (Apg 3,14-15.17; vgl. Lk 24,34).

Der Vorwurf des Mordes zieht sich nun durch die ganze Kirchengeschichte: Er verschärft sich sogar noch gegenüber Melito, indem bald die mildernden Umstände alle fallen und nur mehr vom brutalen und absichtlichen Mord die Rede ist. War bei Melito und auch noch in der Didaskalia der Begriff Jude ein Ehrentitel, den die Juden selber durch ihr Handeln verlieren, so wird er mehr und mehr zum Schimpfwort.

Typisch für die Mordanschuldigung wird schon bei Tertullian und später durchgängig die Verantwortlichkeit des Kollektivs aller Juden. „Das Blut des Herrn selbst klebt an ihnen in Ewigkeit" (De oratione 14), sagte schon Tertullian und er war es auch, der schrieb:

„Wie sehr sie sich verfehlt haben... das würde, selbst wenn sie es nicht selbst zugäben, ihre heutige Katastrophe beweisen. Zerstreut, unstet umherirrend, vertrieben vom Boden und Himmel ihrer Heimat durchstreifen sie den Erdkreis, ohne einen Menschen, ohne Gott zum König zu haben. Und es wird ihnen nicht einmal erlaubt, als Fremdlinge kurz ihr Vaterland zu besuchen" (Adv. Jud. 21,5-6).

Hier haben wir im ausgehenden 2. nachchristlichen Jahrhundert schon die schmerzliche Antwort auf die Frage, warum wir überhaupt eines Theodor Herzl gedenken und warum das Judentum eines solchen Mannes bedurfte. Schon in dieser Zeit hat ein Kirchenvater niedergelegt, was später in der Legende vom unstet umherirrenden Juden Ahasver ("The Wandering Jew") ihren markantesten Niederschlag gefunden hat. Das Judentum ist heimatlos, weil es Christus ans Kreuz geschlagen hat. Diese Vertreibung sei eine wohlverdiente Strafe, noch besonders dadurch unterstrichen, daß mit dem Verlust Jerusalems auch der jüdische Kult ein Ende gefunden habe. Die Schwere der jüdischen Schuld sollte mit der Schwere der Strafe korrelieren. So schreiben Origenes, Commodianus, Hieronymus, Chrysostomus, Aphrahat, Ephraem, Basileios, Prudentius, Augustinus, Eucherius, Papst Leo (bei ihm allerdings gemäßigt durch das Erbarmen Gottes), Abogard, Amolo von Lyon oder Christian von Stablo im ersten Jahrtausend schon die leidvolle und katastrophale These immer weiter, wonach, wie Abogard sagt, die Juden "unseren allergrößten Haß" verdienen (5,190,32). Bei ihm sind sie Teufelskinder und auf alle Zeit kollektiv verflucht:

"Verflucht ist die Frucht ihres Leibes, ihrer Erde und ihres Viehs; verflucht sind ihre Speisekammern, Speicher und Vorratskammern, ihre Speisen und sogar die Speisereste..." (5,200,44-201,9).

Es mutet sonderbar an, daß gerade jenes Christentum, das davon sprach, daß Jesus wegen der Sünden und für die Sünden aller Menschen gestorben ist, das Judentum kollektiv anklagte und es zur Vertreibung und Knechtschaft als Strafe für den Tod Jesu verurteilte. Obwohl die Ansicht eines Anselm von Canterbury in der Kirche Furore machte, wonach Christus sterben mußte, um die völlige Verderbnis der Welt zu heilen, wurde bis in unsere Tage das Judentum dennoch nicht entlastet.

Vielmehr hat dieser Vorwurf maßgeblich den christlichen Antisemitismus beeinflußt und bei der unheilvollen Allianz mit dem Rassenantisemitismus der Nazis eine wichtige Rolle gespielt. So warf Erzbischof Gröber in seinem Hirtenbrief von 1941 den Juden vor, am Tod Jesu Schuld zu sein, was das Tun der Nationalsozialisten rechtfertigen würde. Die Juden hätten sich "selbst verflucht" durch "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder".

Die katholische Kirche, und nur für die will ich hier sprechen, hat sich erst im Zweiten Vatikanum nach langwierigen Beratungen und nach peinlichen Diskussionen zur Frage der Gottesmörder zu einer Stellungnahme gegen den Vorwurf der kollektiven Schuld der Juden am Tod Jesu durchgerungen: "Was sich bei seinem Leiden ereignet hat, kann man weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen."

Die nationale Konferenz der katholischen Bischöfe der Vereinigten Staaten von Amerika hat den neuen Weg der Kirche als Dialog mit dem Judentum in ihrer Erklärung über katholisch-jüdische Beziehungen vom 20. November 1975 auf den Punkt gebracht:

„Der erste größere Schritt in diese Richtung war die Verwerfung der Anklage: Juden waren und seien kollektiv schuldig am Tode Christi. Nostra aetate und die neuen Richtlinien haben diesen Mythus endgültig zur Ruhe gelegt, der dem jüdischen Volk so viel Leiden verursacht hat. Als Daueraufgabe bleibt jedoch, dafür Sorge zu tragen, daß man in keiner Weise auch nur die geringste Vorstellung jüdischer Kollektivschuld in irgendeinem katholischen Medium findet, sei es im Ausdruck oder sonstiger Kommunikation. Genaugenommen betrifft die Verwerfung dieser Anklage der Kollektivschuld von Juden ebenso die Reinheit des katholischen Glaubens wie die Verteidigung des Judentums. Die Verwerfung dieser Anklage gegen die Juden durch das Konzil wurde von einigen Kommentatoren als eine `Entlastung´ des jüdischen Volkes interpretiert. Solch eine Ansicht über den Tatbestand besteht noch immer. In Wahrheit hat das Konzil anerkannt, daß das jüdische Volk niemals am Tode Christi schuldig war noch heute ist."

Und die Pastoralkommission Österreichs hat in ihrer Erklärung auf Initiative des Koordinierungsausschusses für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit im April 1982 noch ergänzt: "Entscheidender ist, daß alle Schriften des Neuen Testaments die eigentliche Schuld am Leiden und Tod Jesu der Sünde zusprechen, in der alle Menschen verhaftet waren und sind."

Ob diese Worte und diese Appelle ausreichen, bleibt dahingestellt. Tatsache ist, daß die lange Geschichte des Antijudaismus in der Kirche, die nicht zuletzt von der kollektiven jüdischen Schuld am Tod Jesu gespeist war, einen nicht zu kleinen Mosaikstein für die Erklärung der Schoa darstellt und erklärt, warum sich die Kirche nicht nur aus politischen Gründen – Rücksicht auf die palästinensischen Christen – sondern auch aus theologischen so schwer tat mit der Anerkennung Israels.

Ist aber der Schritt der Aufdeckung einmal gewagt und gibt es davon kein Zurück mehr, muß dem Anerkennen der Schuld ein Akt der Buße folgen.

Die Umkehr muß sichtbar sein

Der Schulderkenntnis folgt Reue, hebräisch teshuba, was im Deutschen mit „Umkehren" wiedergegeben werden muß. Umkehr meint ein aktives Handeln im Sinne eines konkreten, spürbaren und sichtbaren Tuns, nicht bloß einen inneren Neuanfang ohne Konsequenzen nach außen. Umkehr muß sich in deutlichen Zeichen des Neubeginns äußern, nicht in Lippenbekenntnissen, nicht in intellektuellen Reden. Hier bedarf es der Einrichtung und Förderung von Organisationen wie des Koordinierungsausschusses für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, die vor Ort in der Praxis an der Basis für ein erneuertes Verständnis von Glauben arbeiten, das sich der Wurzel aus dem Judentum und der bleibenden Bedeutung des Judentums für das Selbstverständnis von Kirche bewußt ist. Es müssen die Fehler der Vergangenheit nicht nur bereut, sondern angesprochen werden, um aus ihnen zu lernen.

Unabdingbar gehört zur Umkehr der Kirche daher auch die Solidarität mit dem jüdischen Volk in Israel. Bei aller berechtigten Kritik an politischen Umständen, die nicht mit der Gesellschaft und dem Staat als solchem gleichzusetzen sind, übernimmt jeder Christ auch eine Verantwortung für die Existenz des Judentums in einem völkerrechtlich anerkannten Staat.

Dies ergibt sich allein aus der klaren und unmißverständlichen biblischen Hoffnung auf eine Existenz in Freiheit und Frieden im eigenen verheißenen Land. Diese Hoffnung hat das Christentum mit der unverfälschten Übernahme des Ersten Testaments solidarisch übernommen. Es mag hier ein Text der Bibel besonders herausgegriffen werden, der mir symptomatisch für diese Hoffnung erscheint. Im 1. Buch der Könige 5,5 heißt es: "Juda und Israel lebten in Sicherheit von Dan bis Beerscheba; ein jeder saß unter seinem Weinstock und seinem Feigenbaum, solange Salomo lebte." Diese Sicherheit meint einen wirklichen Frieden ohne Bedrohung von äußeren Feinden, ohne Angst vor Terror. Er ist aber auch gebunden an den Besitz von eigenem Land – auch wenn er noch so bescheiden sein mag. Der Friedenskönig Salomo, der von seinem Namen her der Frieden selbst ist, garantierte einst diesen Frieden. Wie kann Israel nach 50 Jahren eigenständiger Existenz ihn wieder finden? Jedenfalls sollten Christen alles dazu tun, um zu helfen.

Erst wenn mit dem offenen Bemühen um Umkehr auch gegenüber dem Partner eine Vertrauensbasis hergestellt wurde, kann langsam und behutsam das Gespräch mit dem Partner selbst gesucht werden, ein Gespräch, daß aber Voraussetzungen hat. Diese Voraussetzungen seien hier kurz angerissen.

1. Pluralismus und Offenheit als wichtige Voraussetzung für den Dialog

Eine der zentralen Voraussetzungen für einen interreligiösen Dialog besteht in der Akzeptanz unterschiedlicher Bewegungen und Gruppen in der eigenen Glaubensgemeinschaft. Solange mit inquisitorischen Mitteln gegen Mitglieder in den eigenen Reihen vorgegangen wird, ist die geistige Reife für einen Dialog mit den "anderen" nicht gegeben. Erst ein offener und ernstgemeinter Dialog mit den kritischen Kräften in den Konfessionen kann ein Klima der Verständigung schaffen, aus dem heraus auch der Schritt nach außen gewagt werden kann. Dies bedeutet freilich nicht, daß die Gemeinschaften sich nicht gegen Extremismen und Fundamentalismen wehren dürfen, das Gegenteil ist der Fall. Gerade der Fundamentalismus zeichnet sich dadurch aus, daß er einen exklusiven Wahrheitsanspruch vertritt, der selbst mit gewalttätigen Mitteln verteidigt wird. Möglicherweise bilden die Dialogbereitschaft und die Bereitschaft, sich selbst in seiner Haltung immer wieder in Frage stellen zu lassen, ein eigentliches Kriterium der Abgrenzung. Die Offenheit der katholischen Kirche für innere Kritik und Bestrebungen nach Reform wird daher auch ein Gradmesser für die Bereitschaft der Kirche sein, den Dialog mit anderen Glaubensgemeinschaften zu führen und diesen nicht bloß als Lippenbekenntnis vor sich her zu tragen.

2. Klärung der "Sprache" und der verwendeten Begriffe

Ein Gespräch zwischen zwei Partnern braucht eine Übereinkunft über die Hilfsmittel, mit denen man überhaupt den Dialog führen möchte, braucht Regelungen zur Hermeneutik, zum Gesamtverständnis und zur Begrifflichkeit. Gerade im interreligiösen Dialog ist besonders auffällig, daß die Partner häufig aneinander vorbeireden, weil sie unter denselben Begriffen ganz andere Inhalte verstehen oder gar nicht wissen, auf welcher Basis sie diskutieren. Wieder mag ein Beispiel genügen: Das Stichwort "Dialog" etwa konnte ein hochrangiger moslemischer Vertreter der schon erwähnten Religionskonferenz in Cordoba im Februar 1998 mit der Hinführung der Weltvölker zum Islam und seinen Prinzipien gleichsetzen, so wie er den Begriff "Islam" auf die Wurzel "slm", also "Frieden" zurückführte, um daraus zu schließen, daß Friede und Islam dasselbe wären. Das würde wiederum bedeuten, daß die Menschen sich nur zum Islam hinwenden müßten, um den Weltfrieden zu erreichen. Gerade in einer Kirche, wo es langsam klar wird, daß Rettung der Welt nicht mit Mission gleichgesetzt werden kann und Taufe nicht mehr die einzige Eintrittskarte in die zivilisierte Gesellschaft bedeutet, sollten solche Worte hellhörig machen. Vor dem konkreten Gespräch muß also die Sprachregelung geklärt werden. Der Gegenstand, um den es geht, die Voraussetzungen und die jeweils eigenen Verständnisse sind zu klären, ehe man daran geht, sie anderen zu vermitteln oder gar um Konsens bemüht ist. Will Dialog nicht vereinnahmen, braucht er ein ungeheuer großes Maß an Verständnis für die andere Seite, womit mein nächster Punkt angezielt ist.

3. Zuhören und Lernen vom Anderen als dritter Schritt im Dialog

Nachdem mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte begonnen wurde, nachdem es auch zu einem Eingestehen der Schuld und zu einem klaren Bemühen um Umkehr gekommen ist, braucht es Zeit und Muße, seine Denkvoraussetzungen und seine spezifischen Zugänge verstehen zu lernen, den Standpunkt des Partners anzuhören, sein Selbstverständnis wahrzunehmen. Ein solches Lernen kann passiv sein, kann aber auch bereits Hand in Hand mit einem ersten Austausch von Denkvoraussetzungen und hermeneutischen Prinzipien gehen, um auf einer gemeinsamen Basis reden und hören zu können. Dieses Lernen vom anderen ist im christlich-jüdischen Bereich für Christen nicht zuletzt ein Wiedererwerben der eigenen Wurzeln, ein Einlassen auf einen vernachlässigten Teil der eigenen Identität, ist also auch so etwas wie Selbstfindung. Besonders schwierig und besonders notwendig erscheint ein Einlassen auf den Islam, dessen Unkenntnis geradezu erschütternd ist und wo die Folgen dieser Unwissenheit direkt Vorurteil und Fehlbeurteilung sind. Doch auch ein Verständnis des Judentums ist für Christen noch immer schwierig und das Wissen gering. Viele Vorurteile beruhen auf Unkenntnis und auf einer völlig fehlgeleiteten Basis des Verstehens, so etwa, wenn der Begriff der Tora stets im Kontext "sklavischer Gesetzlichkeit" mißverstanden wird und nicht als Lebensspendung, Befreiung, Identitätsstiftung oder aber auch als Offenbarung gesehen wird.

Hat dieser Prozeß des Lernens stattgefunden, und er wird als wechselseitiger Prozeß angelegt sein, um wirklichen Dialog zu ermöglichen, kann erstmals ein inhaltliches Abklären von Positionen erfolgen, das nicht nur zur – mitunter notwendigen – Abgrenzung führt, sondern auch zu einem wichtigen Vorgang der Reflexion, einer Neubesinnung und vielleicht auch Revision mancher eigenen Voraussetzungen. Das Gespräch verändert auch die eigene Position, ohne uns alle gleichzumachen. Das Ziel ist dabei eben gerade nicht die Einheitsreligion oder ein "Weltethos", sondern ein erneuertes und neu reflektiertes plurales Christentum, ein offenes und vertrauendes Judentum und ein Islam, der die westliche Kultur nicht mehr als "Großen Bruder" erleben muß und sich auch öffnen kann für das, was daran "eben nicht so übel" ist.

Diese eben beschriebenen Schritte sind freilich lediglich Skizzen eines verschlungenen und beschwerlichen Weges, der nicht in aufzählbaren Punkten, sondern in Höhen und Tiefen, in Verästelungen und Verirrungen führen kann, ohne daß das Ziel aus dem Auge verloren werden darf. Dieses Ziel nun, und damit komme ich zu me sto Eingangstitel, ist eben nicht die "Toleranz".

Toleranz als Irrbegriff im interreligiösen Gespräch

Immer wieder ist im Gespräch mit anderen Religionen von "Toleranz" die Rede. Dabei handelt es sich um einen Begriff, der gänzlich ungeeignet ist für ein solches Vorhaben. Tolerieren meint schon von seiner Wortbedeutung her lediglich Duldung, Duldung nämlich eines Schwächeren durch einen Stärkeren, der die Macht hat, diese auszusprechen und ebenfalls wieder zurückzunehmen, wenn es ihm beliebt. Duldung hat meistens eine zeitliche und inhaltliche Grenze und ist häufig an Bedingungen gebunden. Solche Bedingungen waren in der christlichen Duldung des Judentums zum Beispiel die Zahlung von Abgaben oder die Aufgabe der spezifischen religiösen und kulturellen Identität, die Annahme neuer (deutscher) Namen, der Verlust der Sprache oder der Eigenständigkeit bei der Erziehung, das Verbot des Synagogenbaus und des religiösen Unterrichts oder die Verpflichtung auf die Monarchie gegen nationale Tendenzen. Toleranz sollte dadurch zur Assimilation führen. Diese Toleranz ging von dem Urteil aus, daß Juden "verbesserungswürdig" sind und daher "verbessert" werden müssen, um ein "sinnvoller" Bestandteil der bürgerlichen (christlichen) Kultur zu werden. In erschreckender Weise hat dann die Schoa gerade dort ihren Ausgang genommen, wo dieser Versuch am weitesten gediehen war und am meisten Erfolg hatte, in Deutschland.

Das Gegenteil von Toleranz ist die Intoleranz, die wohl niemand im Kontext des Miteinander anstrebt. Erwünscht wäre ein Umgang miteinander "jenseits" der Toleranz, ein Umgang, indem es nicht mehr Stärkere und Schwächere, sondern gleichberechtigte Partner gibt, ein Umgang also zwischen Menschen, die auf derselben Ebene diskutieren und sich akzeptieren. Akzeptanz und Koexistenz wären weit vor der Toleranz als Voraussetzung und Ziel anzustreben, die Koexistenz gleichberechtigter Partner, die miteinander für eine bessere Zukunft arbeiten.

Abzulehnen ist auch jede Form der Vereinnahmung durch Umarmung, wie sie derzeit durch einige fundamentalistische Gruppen in den evangelischen und – in geringerem Maße – auch katholischen Kirchen geschieht. Solche Bewegungen, die sich betont ihrer "jüdischen Wurzel" erinnern, indem sie Sabbat feiern oder Elemente der jüdischen Liturgie verstärkt in den Gottesdienst einfließen lassen, sind nur auf den ersten Blick förderlich für den Dialog. Letztlich geht es ihnen um Aufhebung des Judentums im Christentum, um Mission und Bekehrung. Es wird nicht eine religiöse Koexistenz zweier unabhängiger Partner angestrebt, die auch Differenzen aufweisen und unterschiedliche theologische Entwicklungen reflektieren, sondern auf sehr fundamentalistische Weise das Römerbriefzitat 11,25f. umzusetzen gesucht: "Verstockung liegt auf einem Teil Israels, bis die Heiden in voller Zahl das Heil erlangt haben; dann wird ganz Israel gerettet werden, wie es in der Schrift heißt: Der Retter wird aus Zion kommen, er wird alle Gottlosigkeit von Jakob entfernen." Da werden Stiftshüttenmodelle ausgestellt und viel aus dem Alten Testament und auch aus dem Talmud zitiert, doch letztlich soll immer wieder bewiesen werden, daß "die Wirklichkeit, die uns in Jesus Christus begegnet, so viel herrlicher ist als die schwachen alttestamentlichen Vorbilder" (Alfred Edersheim).

Das Judentum muß sehr vorsichtig sein mit den Akten der Umarmung, denn schon oft wurde bei zu heftigem Umarmen jemand erdrückt. Nur in diesem Sinne ist der Talmud in Sanhedrin 59a richtig zu verstehen, wenn es heißt: "Ein Nichtjude (goj), der sich mit der Tora befaßt, ist des Todes schuldig". Es bedarf nach rabbinischer Ansicht überhaupt nicht des Torastudiums und damit einer Konversion zum Judentum, um als Nichtjude dem endgültigen Heil teilhaftig zu werden. Es "genügt", ein Leben in Gerechtigkeit zu führen. So gesehen wäre ein Leben in der Nachfolge Christi, würde es tatsächlich gelebt, der Inbegriff einer Existenz, mit der Nichtjuden dem Judentum gegenüber in Gerechtigkeit handeln könnten, ohne es zu vereinnahmen. Freilich heißt es im selben Traktat Sanhedrin gleich anschließend im Namen des R. Meir: "Sogar ein Heide, der Tora studiert, ist wie ein Hohepriester", begründet mit Lev 18,5: "Wer sie tut (ha-adam), soll durch sie leben". Der Text sagt ja ganz allgemein adam (Mensch), nicht "Priester, Leviten, Israeliten".

Man merkt an diesem Beispiel die Schwierigkeit, die das Judentum über die Zeit mit dem Umstand eines Torastudiums durch Nichtjuden hat. Heute sehen wir erneut die Notwendigkeit, einen Weg zu finden, bei dem das verstärkte Interesse am Judentum nicht zu einer egozentrischen Vereinnahmung wird und damit zurecht abzulehnen ist. Andererseits sollen die Bemühungen von Menschen im Studium des Judentums, im Hören und Lernen, verstärkt werden, wenn es ein Lernen zum Verstehen des Anderen ist. Nur dann wird dieses Studium einen Dienst erweisen, den R. Meir ansprach.

Wenn Christen vom "Volk Gottes" reden, sollten sie sich bewußt sein, daß sie nicht einfach sich selbst meinen, sondern immer des Volkes Israel gedenken, durch das sie erst Zugang zu diesem Gott bekommen haben. Diese Reflexion verbindet uns, sie bindet uns auch an das Judentum, sie bindet das Judentum aber nicht an uns.

Theologisch gesprochen bleiben wir Abhängige vom Volk Gottes, bleiben in unserer Identität immer an das Judentum verwiesen. Diese Verwiesenheit darf sich jedoch nicht in theologisch-abstrakten Höhen verdeutlichen, sondern in der Solidarität mit dem hier und heute lebenden Judentum, im Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung für das Judentum, im solidarischen Eintreten gegen Antisemitismus, Antizionismus und Judenfeindlichkeit allgemein. Anstelle von Jahrhunderten der Verfolgung, Vernichtung, der Vereinnahmung und Beerbung soll die religiöse Koexistenz treten, die Akzeptanz zweier Partner, die – unter verschiedenen Voraussetzungen, aber durch eine gemeinsame Geschichte aneinandergeschweißt – aufeinander zugehen.

Und schließlich kann gerade die religiöse Koexistenz zu einem gemeinsamen Handeln gegen einen Werteverlust und für eine Neubesinnung in einer säkularisierten Welt führen. Esoterik, neue Gnosis und der alles verschlingende Moloch des Konsums fordern alle religiösen Kräfte gleichermaßen heraus, ebenso wie die Bewältigung von Leid und Ungerechtigkeit als Probleme uns alle betreffen. Die Frage am Ende darf daher nicht sein, wie wir uns gegeneinander abgrenzen können, sondern wie wir dieser Gesellschaft gemeinsam einen Impuls der Erneuerung liefern können, einen Impuls, den sie dringend benötigt.