Ist in Auschwitz das Christentum gestorben?

Was hat das Christentum mit Auschwitz zu tun? Es ist eine der wichtigsten, vielleicht überhaupt die wichtigste Einsicht vieler Christen in den vergangenen Jahrzehnten, dass das Christentum zu den Mitverursachern und Mitschuldigen für Auschwitz gehört.

Rolf Rendtorff

Ist in Auschwitz das Christentum gestorben?

Elie Wiesel hat gesagt: "Der nachdenkliche Christ weiß, daß in Auschwitz nicht das jüdische Volk, sondern das Christentum gestorben ist." Lassen Sie uns diesem Satz genauer nachdenken. Das erste ist: In Auschwitz ist das jüdische Volk nicht gestorben. Wir wären heute nicht hier versammelt, wenn die Pläne derer aufgegangen wären, die Auschwitz erfunden und realisiert haben. Die teuflische Vernichtungsmaschinerie hat Millionen von Juden ermordet. Aber sie hat zugleich mit beigetragen, daß das jüdische Volk seiner Existenz als Volk eine neue Form gegeben hat: als jüdischer Staat in dem Land, das seit der Zeit seiner biblischen Väter seine Heimat gewesen war. Das jüdische Volk ist nicht gestorben. Und wir wollen Gott dafür danken, daß es nicht gestorben ist.

I

Aber was ist mit dem Christentum? Was hat das Christentum mit Auschwitz zu tun? Ich bin überzeugt, dass es eine der wichtigsten, vielleicht überhaupt die wichtigste Einsicht vieler Christen in den vergangenen Jahrzehnten gewesen ist, zu erkennen, dass das Christentum zu den Mitverursachern und Mitschuldigen für Auschwitz gehört. Einzelne Christen haben es schon länger gesagt. Im Jahr 1980 hat es dann die Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland zum ersten Mal in der Geschichte des Christentums klar und deutlich ausgesprochen. Inzwischen haben auch die deutschen katholischen Bischöfe und andere kirchliche Gremien beider Konfessionen ähnlich lautende Erklärungen abgegeben. Fast möchte man sagen, dass solche kirchlichen Äusserungen ein Zeichen dafür sind, dass das Christentum doch noch nicht gestorben ist. Aber gerade darin wird auch die Wahrheit dieses Satzes von Elie Wiesel deutlich. Es musste erst zu diesen Einsichten und Erklärungen über die Mitschuld der Christen am Holocaust kommen, um das Christentum von einem höchst gefährlichen Weg abzubringen, auf dem es schon viel zu lange gegangen war. Ich denke, dass der Satz, von dem wir ausgegangen sind, — und viele ähnliche Äusserungen, die sich bei Elie Wiesel finden — auch und vor allem eine Kritik am Selbstverständnis der Christen enthält.

Das Christentum versteht sich als Botschaft der Liebe, der Liebe Gottes zu allen Menschen und der Liebe der Menschen untereinander; als Botschaft der Gnade, die uns zuteil wird und aus der wir leben. Wie kann aus einem so verstandenen Christentum Feindschaft gegen eine andere Gruppe von Menschen erwachsen? Ist ein solches Christentum nicht ein Widerspruch in sich selbst? Und vor allem: Kann sich ein Christentum, in dem die Feindschaft gegen die Juden weithin zu einem konstitutiven Element geworden ist, auf den berufen, dessen Namen es trägt: auf Jesus, den wir den Christus nennen? Wir finden bei Elie Wiesel immer wieder Sätze, in denen diese Frage aufgeworfen wird — meistens nur kurze Sätze; denn er hat es nie für seine Aufgabe gehalten, die Christen ihr Christentum zu lehren. Aber er hat es sehr wohl als seine Aufgabe angesehen, den Christen Fragen zu stellen. Ist das, was Ihr Christentum nennt, die Botschaft Jesu? Er stellt uns gleichsam zwei mögliche Antworten zur Auswahl: Die eine heisst: "Die Christen haben Jesus mehr betrogen als die Juden." Das heisst: vielleicht liegt es nicht an Jesus, sondern an den Christen, die seiner Botschaft nicht gefolgt sind. Das wäre dann eben dieses Christentum, das nach Auschwitz geführt hat und das sich dort selbst ad absurdum führte. Die andere mögliche Antwort ist wesentlich schärfer: "Ein Messias, in dessen Namen gefoltert wird, kann nur ein falscher Messias sein." Ist es also nicht nur Schuld der Christen? Ist das Christentum auf einer falschen Voraussetzung aufgebaut? War es ein falscher Messias, dem die Christen gefolgt sind? Bei näherem Nachdenken zeigt sich aber, das diese beiden Fragen zwei Seiten derselben Frage sind. Das Problem liegt nicht in der Person des Messias, sondern darin, wie seine Anhänger ihn sehen und verstehen und was für Folgerungen sie daraus ziehen. Ist ein Messias, in dessen Namen gefoltert und gemordet wird, der Messias der Christen, der Messias, der der Grundstein der Kirche geworden ist? Ganz gewiss nicht! Im Namen der Kirche, und damit dann in der Tat im Namen ihres Herrn Jesus Christus, zu foltern und zu töten, ist etwas, das gänzlich ausserhalb des Horizonts der grundlegenden Schrift des Christentums, des Neuen Testaments, liegt.Aber das macht die Sache für uns nicht leichter. Denn wenn wir heute die Mitschuld der Christen am Holocaust bekennen, dann müssen wir ja fragen, wie es dazu gekommen ist. Und dann genügt es auch nicht, zu sagen "Nie wieder"; denn die Wurzeln des Problems liegen ja viel tiefer.

Wir können in der Kirchengeschichte bestimmte Entwicklungen aufzeigen, die zu diesem militanten Selbstverständnis des Christentums geführt haben. Zweifellos liegt der erste, entscheidende Wendepunkt dort, wo das Christentum eine Verbindung mit der staatlichen Macht einging, also zur Zeit des Kaisers Konstantin am Anfang des 4.Jahrhunderts. Hier beginnt dann sehr bald die Diskriminierung der Juden durch eine staatliche Macht, die sich zugleich als christliche versteht. Hier, so konnte man sagen, beginnt das "Christentum" sein Gesicht zu zeigen, das sich in Auschwitz selbst ad absurdum geführt hat. Und dies hat sich dann das ganze Mittelalter hindurch fortgesetzt und gesteigert bis in die Neuzeit hinein. Aber die Tatsache, das sich eine solche Verbindung von Christentum und staatlicher Macht mit ihren antijüdischen Konsequenzen einstellen konnte, zeigt sehr deutlich, dass die Grundelemente der christlichen Judenfeindschaft schon längst vorhanden waren und das sie jetzt nur eine neue, für die Juden diskriminierende und bald auch immer wieder gefährliche Machtstellung erhielten. Wir müssen also zurückgehen bis in die Anfänge des Christentums, um eine Antwort auf die Frage zu finden, worin die christliche Judenfeindschaft begründet ist.

II

Das führt uns auf das Thema des Antijudaismus im Neuen Testament. Es steht ausser Frage und wird heute auch wohl von niemandem mehr bestritten, dass es antijüdische Äusserungen im Neuen Testament gibt. Dabei meine ich jetzt nicht die Auseinandersetzungen zwischen Jesus und den Pharisäern. Sie sind sozusagen innerjüdische Streitgespräche, bei denen Jesus als jüdischer Lehrer und Prediger verstanden wird, der mit anderen jüdischen Autoritäten um die richtige Auslegung der Schrift streitet. Allerdings muss man auch hier sagen, das die Art und Weise, in der die Pharisäer in manchen Texten des Neuen Testaments dargestellt werden, schon Elemente einer Judenfeindschaft zeigt. Ich erinnere etwa an das grose Kapitel Matthäus 23, in dem die Pharisäer in einer langen Anklagerede als Heuchler bezeichnet werden; daher kommt ja die Verwendung des Wortes Pharisäer als Schimpfwort in unserer Sprache. Es geht aber vor allem um diejenigen Texte, die pauschal von "den Juden" reden und sie in einem eindeutig negativen Licht und vor allem in einer antithetischen Stellung den Christen gegenüber zeigen. Manche von diesen Texten haben tiefe Spuren in der christlichen Judenfeindschaft hinterlassen. Dies gilt wohl vor allem für die berühmte Szene aus der Geschichte vom Prozess gegen Jesus im Matthäusevangelium: Als Pilatus sah, dass er nichts erreichte, sondern dass der Tumult immer grösser wurde, nahm er Wasser, wusch sich vor allen Leuten die Hände und sagte: "Ich bin unschuldig am Blut dieses Gerechten; sehet ihr zu!" Und alles Volk antwortete und sprach: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!" Da lies er ihnen Barrabas frei; Jesus aber überwies er, nachdem er ihn hatte geisseln lassen, zur Kreuzigung. (Mt 27,24f) Die Szene ist deutlich. Pilatus ist nicht von der Schuld Jesu überzeugt. Der Evangelist Matthäus lässt deshalb in einer sehr ambivalenten Weise die anwesende jüdische Volksmenge die Schuld fur die Hinrichtung Jesu auf sich nehmen. Das Wort: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder" findet sich nur bei Matthäus. Ich denke deshalb, wir müssen es noch mit einem anderen Wort im Matthäusevangelium zusammenstellen. Hier muss ich kurz auf eine exegetische Einzelbeobachtung eingehen.

Wir finden in zwei der Evangelien eine Gleichniserzählung von einer Einladung zu einem festlichen Mahl. Bei Lukas lehnen die Eingeladenen mit allen möglichen Entschuldigungen die Einladung ab, woraufhin der Gastgeber Arme, Blinde und Lahme und schliesslich Obdachlose hereinbringen und an seinem Festmahl teilnehmen lässt (Luk 14,16-24). Matthäus hat diese Szene auf die politische Ebene verlegt. Der Einladende ist ein König. Er veranstaltet eine Hochzeitsfeier für seinen Sohn und lädt dazu prominente Gäste aus anderen Städten ein. Die Eingeladenen lehnen aber nicht nur die Einladung ab, sondern misshandeln und töten sogar die Diener des Königs, die sie an die Einladung erinnern sollen. Da wurde der König zornig. Er schickte sein Heer, liess die Mörder töten und zündete ihre Stadt an. (Mt 22,7). Es kann wohl kein Zweifel daran bestehen, dass dies im Rückblick auf die Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 u.Z. geschrieben worden ist. Matthäus deutet hier die Zerstörung Jersualems als Strafe für die Juden. Hier kommt gleichsam das zur Erfüllung, was die Volksmenge bei dem Prozess gegen Jesus gerufen hatte: Das Blut Jesu ist über sie gekommen. Wir kennen die furchtbare Nachgeschichte dieser Texte. Allerdings ist es sehr bemerkenswert, dass dieses Wort "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder" erst seit der Zeit, in der das Christentum seine Allianz mit der staatlichen Macht eingegangen war, als Argument gegen die Juden verwendet wurde. Dies zeigt noch einmal die schreckliche Fehlentwicklung des "Christentums". In der Verbindung mit politischer Macht wird aus theologischen Argumenten eine Waffe. In dem Roman "Der Letzte der Gerechten" von Andre Schwarz-Bart heist es einmal: "Sie haben das Kreuz umgedreht und ein Schwert daraus gemacht."

Aber wir würden es uns viel zu einfach machen, wenn wir nun sagen wollten: Heute hat das Christentum keine politische Macht mehr, also haben wir auch diese Probleme nicht mehr. Es bleibt ja weiterhin unser Problem, dass das antijüdische Denken tief in unserer christlichen Tradition verankert ist. Selbst wenn wir keine politischen Folgerungen mehr daraus ziehen wollen, so findet der Satz "Die Juden haben Jesus umgebracht" wohl noch immer bei vielen Christen Zustimmung — ich möchte glauben: oft eine ganz selbstverständliche, unreflektierte Zustimmung.

Im theologischen und kirchlichen Bereich hat sich diese antijüdische Haltung in die Form einer Lehre von der Verwerfung Israels gekleidet. Es ist sehr eigenartig, dass oft gerade der Apostel Paulus als Gewährsmann fur eine solche Verwerfungslehre herangezogen wird. Dabei ist er selbst mit grossem Nachdruck einer solchen Auffassung entgegengetreten. Im Brief an die Römer schreibt er: Hat denn Gott sein Volk verstossen? Keineswegs [Das sei ferne]! Denn auch ich bin ein Israelit, ein Nachkomme Abrahams, aus dem Stamm Benjam. Gott hat sein Volk nicht verstosen, das er einst erwählt hat. (Röm 11,1f)

Hier stosen wir auf einen ganz entscheidenden Punkt: Wie steht es mit der Erwählung Israels? Und wie verhält sich diese zum Selbstverständnis der neuentstandenen christlichen Gemeinde?

III

Wie konnte der Gedanke entstehen, das Gott das jüdische Volk verworfen habe? Jesus, seine Jünger und die Verfasser der meisten neutestamentlichen Schriften waren doch selber Juden. Hier zeigt sich ein grundlegendes Problem des christlichen Selbstverständnisses. Die ersten Christen waren Juden und sie haben dies auch nie in Zweifel gezogen. Das entscheidende war für sie aber die Anerkennung Jesu als des von Gott gesandten Messias. Hier hat sich offenbar ein ganz bestimmter Mechanismus des Denkens herausgebildet: Wenn Jesus der von Gott zu seinem Volk Israel gesandte Messias ist, und wenn ein Teil des Volkes dies erkennt und anerkennt, ein anderer Teil aber nicht, dann sind die, die es erkennen und glauben, das "wahre" Israel, die anderen aber sind es nicht oder jedenfalls nicht mehr. Es ist dies die typische Weise, wie Minderheiten denken, die von einem grossen Selbstbewustsein geprägt sind. Man kann solche Minderheiten als Sekten bezeichnen, ohne das dieser Begriff etwas Abwertendes an sich haben soll. Die erste christliche Gemeinschaft war eine Sekte innerhalb des Judentums. Ihre Mitglieder glaubten, dass in Jesus der von Gott Gesandte erschienen sei und das damit das Ende der Tage begonnen habe. Und deshalb begannen sie, sich selbst als die eigentlich Erwählten zu betrachten. Und daraus entstand dann fast mit Notwendigkeit die Frage, was es denn mit dem "Rest" Israels auf sich habe, einem Rest, der ja in Wirklichkeit die Mehrheit war.

Bald entstand aber ein neues Problem: Es kamen immer mehr Nichtjuden, "Heiden", zur christlichen Gemeinde hinzu. Weil sie selbst keine Juden waren, musste sich die Frage für sie von vornherein anders stellen. Sie waren in eine Gemeinschaft eingetreten, die sich selbst als die Gemeinschaft der von Gott Berufenen und Erwählten verstand. Diese Berufung war aber an Jesus als den von Gott Gesandten Christus gebunden. Deshalb haben gewiss manche oder sogar viele von ihnen die Frage, wie es sich mit den Juden verhält, die nicht an Jesus glauben, nicht als ihre Frage empfunden. Oder sie haben gesagt: Gott hat Israel verworfen, und wir sind an seine Stelle getreten. Eine solche Auffassung scheint es unter den nichtjüdischen Christen in Rom gegeben zu haben, und an sie ist die Antwort des Paulus gerichtet: "Gott hat sein Volk nicht verstosen." Paulus bekennt sich dabei sehr betont zu seinem Judesein: "Auch ich bin ein Israelit aus dem Stamme Benjamin." Hier wird ein Konflikt erkennbar zwischen der ersten Generation der Judenchristen und denen, die von ausserhalb des Judentums dazugekommen sind. Die Geschichte des Christentums hätte von hier aus auch anders verlaufen können. Im zweiten Jahrhundert hat es den berühmten Versuch Marcions gegeben, die Kirche ganz von ihrem jüdischen Ursprung zu befreien und dabei vor allem auf das Alte Testament zu verzichten. Daraus hatte — allerdings nur theoretisch — ein Christentum entstehen können, das sich nicht mehr in einem kontinuierlichen Zusammenhang mit dem Judentum gesehen hätte. Die Kirche hat diesen Versuch aber abgewiesen. Damit hat sie vor allem das Alte Testament als unaufgebbaren Bestandteil ihrer Heiligen Schrift festgehalten. Zugleich hat sie damit anerkannt, dass die Kirche sich nicht anders verstehen kann als in dieser Kontinuität mit dem Judentum. Paulus formuliert sein persönliches Bekenntnis zur Zugehörigkeit zum Volk Israel so, dass er sich ausdrücklich als Nachkommen Abrahams bezeichnet. Er sieht sich selbst also in dieser Kontinuitätslinie.

Aber nun kommt erneut die doppelte Frage: Wie steht es mit den Christen, die keine Juden sind — und wie steht es mit den Juden, die Jesus nicht anerkennen? Die Kirche hat mehrheitlich diese Frage so beantwortet, dass sie sich selbst an die Stelle Israels gesetzt hat. Sie hat die jüdische Bibel, die fur Jesus und die erste Generation von Christen einfach "die Schrift" war, als das "Alte Testament" zum Bestandteil ihrer neuen, zweiteiligen "Heiligen Schrift" gemacht; aber sie hat nun auch den ersten Teil nur noch als Bestandteil der christlichen Bibel verstanden und hat alles, was sich darin an göttlichen Zusagen und Verheissungen an Israel findet, auf sich selbst bezogen. Sie hat Israel "enterbt", oder genauer gesagt: sie hat geglaubt, Israel enterben zu können.

Hier beginnt nun diese theologische Frage zu einer Frage von wachsender politischer Bedeutung zu werden. Wenn die jüdische Bibel jetzt nur noch den Christen gehört, dann wird damit den Juden ein entscheidendes Element ihrer Identität genommen. Sie werden sozusagen für nichtexistent erklärt. Diesen Zusammenhang hat die Synode der Rheinischen Kirche in ihrer wegweisenden Erklärung von 1980 sehr treffend charakterisiert:

Durch Jahrhunderte wurde das Wort "neu" in der Bibelauslegung gegen das jüdische Volk gerichtet: Der neue Bund wurde als Gegensatz zum alten Bund, das neue Gottesvolk als Ersetzung des alten Gottesvolkes verstanden. Diese Nichtachtung der bleibenden Erwählung Israels und seine Verurteilung zur Nichtexistenz haben immer wieder christliche Theologie, kirchliche Predigt und kirchliches Handeln bis heute gekennzeichnet. Dadurch haben wir uns auch an der physischen Auslöschung des jüdischen Volkes schuldig gemacht. (4.7)

Wir haben Israel zur Nichtexistenz verurteilt, indem wir uns alles angeeignet haben, was Israel gehörte — und, wie wir heute zu erkennen begonnen haben, auch weiterhin gehört. Und weil das Christentum und die Kirche über viele Jahrhunderte hinweg die Juden für nichtexistent erklärt haben, gab es auch von seiten der Christen und der Kirchen keinen Widerstand, wenn die Juden auch physisch vertrieben und ermordet wurden. Im Gegenteil: es gibt allzu viele Beispiele in der Kirchengeschichte, wo die Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der Juden gerade im christlichen Namen und Auftrag geschah.

Deshalb mussen wir an dieser Stelle ansetzen, wenn wir uns der Frage wirklich stellen wollen, was Christsein nach Auschwitz bedeuten kann. Ich möchte nicht missverstanden werden: Es gibt eine Fülle von ethischen, politischen und anderen Aspekten, welche die Christen genauso angehen und über die auch in diesen Tagen ausführlich gesprochen wird. Aber dies ist ein ganz spezifisch christliches Thema. Und vor allem bedeutet es den Versuch, auf Elie Wiesels Anfrage zu reagieren.Warum haben Christen die Juden für nichtexistent erklärt? Ich glaube, die Antwort ist sehr deutlich: Weil die Christen glaubten (und vielfach noch glauben), selber dort zu stehen, wo die Juden stehen müssten, wenn sie existent wären. Die Christen glaubten, das "neue Israel" zu sein, das "wahre Israel"; dann musste aber das "alte Israel" vergangen sein, untergegangen in den Trümmern des von den Römern zerstörten Jerusalem. Die Christen glaubten, dass Gott sie in einen "neuen Bund" hineingestellt habe, durch den der "alte Bund" abgelöst und erledigt sei. Kurz gesagt: die Christen haben ein Selbstverständnis entwickelt, in dem für die Existenz des jüdischen Volkes kein Raum mehr war.

Dies hatte unter anderem zur Folge, das über das real existierende Judentum kaum gesprochen wurde. Als ich studierte, gab es an den meisten Theologischen Fakultäten gar keine Möglichkeit, etwas über das gegenwartige, das wirkliche Judentum zu erfahren. Die Juden begegneten in der Bibel, auch noch im Neuen Testament; aber mit der Zerstörung Jerusalems durch die Römer entschwanden sie aus dem Blickfeld der Theologen. Hie und da tauchten sie in der Kirchengeschichte auf, meistens als Opfer christlicher Verfolgungen, etwa zu Beginn des Ersten Kreuzzuges, als die Kreuzfahrerhaufen, aus Frankreich kommend, sich nach Norden wandten und in den jüdischen Gemeinden am Rhein von Speyer über Worms, Mainz, Köln bis nach Xanten und Moers ein grosses Morden anrichteten. Oder in der Geschichte der Inquisition mit ihrem Höhepunkt in der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492. Aber als theologisches Problem erschienen sie praktisch nie, schon gar nicht als Anfrage an das christliche Selbstverständnis.

Eine andere "Nebenfrucht" (sozusagen) dieser Verdrängung des realen Judentums aus dem Bewusstsein möchte ich an einem konkreten Beispiel verdeutlichen: Karl Barth war zweifellos einer der bedeutendsten Theologen dieses Jahrhunderts, wohl der bedeutendste protestantische Theologe überhaupt und vor allem derjenige mit der weitestreichenden Wirkung. In einem Brief an einen seiner Schüler, Friedrich-Wilhelm Marquardt, hat Barth 1967 geschrieben:

In der persönlichen Begegnung mit dem lebendigen Juden (auch Judenchristen!) hatte ich, solange ich denken kann, immer so etwas wie eine völlig irrationale Aversion herunterzuschlucken — (die ich) natürlich von all meinen Voraussetzungen her sofort herunterzuschlucken und gänzlich zu verdecken wusste, aber eben doch herunterzuschlucken und zu verdecken hatte. Pfui! kann ich zu diesem meinem gewissermassen allergischen Reagieren nur sagen. Aber es war und ist nun einmal so.*

Es war und ist nun einmal so: eine irrationale Aversion. Wie vielen Menschen unter uns, auch guten Christen und Theologen, fällt es auch heute immer noch schwer, das Wort "Juden" unbefangen auszusprechen. Umschreibungen wie "jüdische Menschen" oder "jüdische Mitbürger" sind oft nur Ausdruck dieser Verlegenheit. Es liessen sich noch viele andere Beispiele und Aspekte dafür anführen, dass die Existenz der Juden und die Beschäftigung damit fur viele unter uns keineswegs selbstverständlich ist. Der Grund dafür ist zweifellos, dass damit unser eigenes Selbstverständnis berührt wird.

IV

Daraus ergibt sich nun aber mit Notwendigkeit: Wenn wir unser Verhältnis zu den Juden und zum Judentum revidieren wollen, müssen wir unser eigenes Selbstverständnis revidieren. Es genügt nicht, eine neue Beziehung zu den Juden zu finden. Auch das ist natürlich wichtig, aber das trifft noch nicht den Kern des Problems. Wir müssen damit beginnen, den Juden zurückzugeben, was ihnen gehört und was wir uns unrechtmässig angeeignet haben. Liebe Freunde, täuschen wir uns nicht: Diese Aufgabe ist alles andere als leicht. Sie konfrontiert uns mit Fragen, die sich die Christenheit in ihrer bisherigen Geschichte noch nicht gestellt hat. Dabei ist entscheidend, wo wir den Ausgangspunkt unserer Überlegungen wählen. Wir sind es gewöhnt, von unserem Standpunkt als Christen auszugehen und von dort aus bestimmte Fragen zu stellen. Das würde dann bedeuten zu fragen: Welche Bedeutung hat das Judentum aus unserer christlichen Sicht? Anders augedrückt: Wir versuchen, dem Judentum einen bestimmten Platz in unserem christlichen Denkgebäude zu geben. Aber eben dies ist nicht mehr möglich, wenn wir anfangen, die Fragen in der Grundsätzlichkeit und Radikalität zu stellen, die jetzt unausweichlich geworden ist. Denn nun müssen wir zunächst einige Grundpfeiler dieses christlichen Denkgebäudes in Frage stellen. Ja noch mehr: Wir müssen die Frage umdrehen: Es geht jetzt nicht mehr darum, aus christlicher Sicht Israel zu definieren, sondern es kommt darauf an, angesichts des Weiterbestehens des jüdischen Volkes die Kirche neu zu definieren. Ich möchte jetzt nicht missverstanden werden. Es geht nicht darum, die Existenz oder gar die Existenzberechtigung der Kirche in Frage zu stellen. Im Gegenteil: das Bestehen der christlichen Kirche ist die Voraussetzung für unser neues Nachdenken. Was aber neu durchdacht und neu formuliert werden muss, ist die Definition des christlichen Selbstverständnisses. Und dieses muss, um es noch einmal zu sagen, neu definiert werden "im Angesicht Israels", wenn ich es einmal so ausdrücken darf. Was bedeutet das? Wir müssen versuchen, zwei Dinge miteinander zu verbinden. Wir müssen einerseits an den Anfang der Geschichte des Christentums zurückgehen, dorthin, wo es entstanden ist, und müssen versuchen zu verstehen, was damals geschehen ist. Und wir müssen dabei in grosser Offenheit, auch kritischer Offenheit gegenüber dem grundlegenden Dokument unseres Christseins, dem Neuen Testament, überprüfen, ob die damals gefällten Entscheidungen aus unserer neuen, veränderten und verschärften Sicht, Bestand haben können — und ob die Kirche in den folgenden Jahrhunderten den Entscheidungen des Neuen Testaments treu geblieben ist.

Die zweite Aufgabe muss dann sein, die dabei gewonnenen Einsichten in angemessene theologische Formulierungen zu bringen.

Zunächst also zu der ersten Aufgabe. Ich möchte dazu ein Zitat bringen. Mein erster und entscheidender theologischer Lehrer im Blick auf die jüdisch-christlichen Beziehungen war Krister Stendahl, der grosse schwedisch-amerikanische Theologe, der für Jahrzehnte die Harvard Divinity School geprägt hat. Er hat schon im Jahr 1967 in einem Bericht über ein Kolloquium in Harvard folgendes geschrieben:

Am Anfang lief etwas falsch. (Something went wrong in the beginning.) Ich sage "lief falsch" (went wrong), weil ich nicht überzeugt bin, dass das, was mit der Trennung der Beziehungen zwischen Judentum und Christentum geschah, der gute und ausdrückliche Wille Gottes war. Könnte es nicht sein, dass wir zu der Einsicht kommen, dass wir nicht nach dem Willen Gottes, sondern gegen ihn auseinandergegangen sind? Ich weiss, das ist eine befremdliche Weise zu reden. Ich weiss, dass es als historischer Romantizismus abgestempelt werden könnte, als ein Versuch, die Uhr zurückzudrehen. Aber warum soll man es nennen "die Uhr zuruckdrehen"? Warum kann man nicht stattdessen sagen, dass die Zeit für uns gekommen ist, die Alternativen zu finden, die damals verlorengegangen sind, Alternativen, die der theologische Ausdruck unserer Reue sind und unserer Einsichten, die sich uns heute aufdrängen.

Mich haben diese Sätze damals sehr beeindruckt, und sie sind mir seither immer im Gedächtnis geblieben: Am Anfang lief etwas falsch. Was konnte falsch gelaufen sein? Stendahl fragt, ob die Trennung von Judentum und Christentum nötig war und ob sie dem Willen Gottes entsprach. Ich möchte den Versuch einer Antwort einmal so formulieren: Das neuentstehende Christentum hatte das Bewusstsein dafür bewahren sollen, dass es ein Teil des Judentums war.

Dies ist meines Erachtens der entscheidende Ansatzpunkt für unsere Suche nach den verlorengegangenen Alternativen. Wie grundsätzlich diese Alternative verlorengegangen ist, möchte ich wiederum durch ein Zitat eines grossen Theologen dieses Jahrhunderts verdeutlichen. Adolf von Harnack hat in einer berühmt gewordenen öffentlichen Vorlesungsreihe über "Das Wesen des Christentums" in der Berliner Universität im Wintersemester 1899/1900 das Auftreten Jesu folgendermassen beschrieben:

Er trat sofort den offiziellen Führern des Volkes, in ihnen aber dem gemeinen Menschenwesen überhaupt entgegen. Sie dachten sich Gott als den Despoten, der über dem Zeremoniell seiner Hausordnung wacht, er atmete in der Gegenwart Gottes. Sie sahen ihn nur in seinem Gesetze, das sie zu einem Labyrinth von Schluchten, Irrwegen und heimlichen Ausgängen gemacht hatten, er sah und fühlte ihn überall. Sie besassen tausend Gebote von ihm und glaubten ihn deshalb zu kennen; er hatte nur ein Gebot von ihm, und darum kannte er ihn. Sie hatten aus der Religion ein irdisches Gewerbe gemacht — es gab nichts Abscheulicheres —, er verkündete den lebendigen Gott und den Adel der Seele.

Jesus als Anti-Jude — und die Juden als das hässliche Gegenbild Jesu!

Diese Vorlesung Harnacks hat als Buch in den folgenden Jahrzehnten nicht weniger als 14 Auflagen erlebt und ist in ebensoviele Sprachen übersetzt worden. Seine Äusserungen haben also einen durchaus repräsentativen Charakter für das Christentum am Beginn dieses Jahrhunderts. Sie zeigen in einer sehr deutlichen und, ich möchte sagen, massiven Weise den grundsätzlichen Gegensatz zwischen Judentum und Christentum in der Sicht Harnacks und vieler seiner Zeitgenossen. Sie zeigen auch die Nachwirkungen des negativen Bildes der Pharisäer im Neuen Testament, das ich schon erwähnt habe. Dass in der Art der Schilderung Jesu das Pathos der Jahrhundertwende mitschwingt, lasse ich jetzt einmal auf sich beruhen.Ich füge aber noch einige Sätze Harnacks hinzu, die sich mit dem weiteren Weg des Christentums beschäftigen:

Paulus ist es gewesen, der die christliche Religion aus dem Judentum herausgefuhrt hat.... Er ist es gewesen, der das Evangelium sicher als etwas Neues beurteilt hat, das die Gesetzesreligion aufhebt.... Paulus hat (diese Religion) der israelitischen Religion entgegengesetzt. "Christus ist des Gesetzes Ende." Sie hat die Entwurzelung und den Übergang nicht nur ertragen, sondern es zeigte sich, dass sie auf den Übergang angelegt war. Sie hat dann dem römischen Reiche und der gesamten abendländischen Kulturwelt Halt und Stütze geboten.

Und dann noch einmal über die Jünger Jesu, die sich der neuen Lehre des Paulus anschlossen:

Hier hat...die Geschichte selbst... gezeigt, was Kern und was Schale war: Schale war die ganze jüdische Bedingtheit der Predigt Jesu. Schale waren auch so bestimmte Worte wie das: "Ich bin nicht gesandt, denn nur zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel." In Kraft des Geistes Christi haben die Jünger diese Schranken durchbrochen.

Ich habe bewusst diese repräsentative Stimme des Christentums vom Anfang dieses Jahrhunderts etwas ausführlicher zitiert, weil sie uns deutlich machen kann, wie sich das Christentum, jedenfalls das mehrheitlich liberale protestantische Christentum in Deutschland und in der westlichen Welt damals verstand. Ich könnte auch Zitate von Theologen späterer Generationen bringen, von Rudolf Bultmann bis in die Gegenwart, in denen das gleiche Grundverständnis uber das Verhältnis von Judentum und Christentum zum Ausdruck kommt. Harnacks Bemerkungen über die Bedeutung des Christentums für das römische Reich zeigen übrigens auch, dass die Verbindung von Christentum und politischer Macht in seinen Augen etwas durch und durch Positives war. Es geht mir jetzt aber überhaupt nicht darum, frühere Generationen zu schelten. Im Gegenteil: ich möchte noch einmal bewusst machen, dass wir, unsere Generation, erst nach dem Holocaust, nach dem furchtbaren Missbrauch dieser Macht und der ihr aus dem Christentum zugewachsenen antijüdischen Tradition in der Lage sind, diese Fehlentwicklungen als solche zu erkennen.

Dieses Christentum ist in Auschwitz gestorben.

Darum erscheint mir Stendahls Wort von der Suche nach den verlorengegangen Alternativen so wichtig. Stendahl hat selbst einen ersten, wenn auch noch eher zögernden Versuch gemacht, die Richtung zu zeigen, in der er sich einen Neuanfang vorstellen konnte:

Wir müssen die Juden fragen, trotz allem, ob sie bereit sind, uns wieder einen Teil ihrer Familie werden zu lassen, gewiss einen besonderen Teil, aber doch Verwandte, die sich selbst als eine besondere Art von Juden betrachten.

Das war damals in der Tat eine befremdliche Art zu reden (a strange way to speak). Aber es zeigt sehr klar, worin für Stendahl die entscheidende falsche Weichenstellung lag: in eben dem, was für Harnack und für sehr viele vor und nach ihm das "Wesen des Christentums" ausmachte: die Trennung vom Judentum, die Überwindung des Judentums, der fundamentale Gegensatz gegen das Judentum. Dem stellt Stendahl ganz betont die Gegenthese gegenüber: Wir müssen zurück zu unseren jüdischen Ursprüngen.

Das ist mehr als nur zu sagen: Das Christentum ist aus dem Judentum hervorgegangen. Denn die entscheidende Frage ist ja gerade, wie das Verhältnis zwischen beiden nach der Etablierung eines selbständigen Christentums war und gesehen wurde. Es genügt übrigens auch nicht zu sagen: Jesus wurde als Jude geboren. Das lässt ja noch alle Möglichkeiten offen, wie seine Entwicklung weiterging. Pilatus wusste es und hat es der Nachwelt überliefert: Jesus wurde als "König der Juden" gekreuzigt. Jesus war und blieb ein Jude.

Der bedeutende jüdische Jesusforscher David Flusser in Jerusalem hat vor einigen Jahren ein Buch veröffentlicht mit dem Titel: "Das Christentum — eine jüdische Religion." Ein kühner Titel, der gewiss vielen nicht gefällt. Flusser begründet ihn so:

Historisch gesprochen konnte() sich das Christentum....nur darum zu einer Weltreligion entfalten, weil es...ein jüdischer Glaube und ein jüdisches Bekenntnis gewesen ist....Es ist also verständlich, dass, als sich das Christentum unter den Nichtjuden verbreitet hatte, der jüdische Monotheismus, der Glaube an den einen sittlichen Gott, die liebende Zuneigung zum Nächsten, die sittlichen Imperative, das gesunde Familienleben, die Sorge um die Armen und Behinderten und die Ehrfurcht vor dem Leben viele Heiden angezogen haben. Das Christentum konnte darum von den Heiden angenommen werden, weil es sich vor ihnen als jüdische Religion legitimiert hat, und diese Heiden, die Christen geworden sind, haben vielfach von dem Judentum schon früher gewusst, und manche waren, wie es uns Paulus bestätigt, Kenner der jüdischen heiligen Schriften.

Es klingt fast wie eine Antwort an Stendahl, wenn Flusser sagt: Die Christen sind ja eine besondere Art von Juden, ihr Glaube ist "ein jüdischer Glaube". Was beide Aspekte miteinander verbindet, ist aber vor allem dies: Der erste, grundlegende Schritt zur Definition des Christentums muss es sein, die enge und unlösbare Zusammengehörigkeit mit dem Judentum festzuhalten. Ein Christentum, das sich ohne diesen Zusammenhang zu definieren versucht, steht gleichsam im luftleeren Raum. Aus diesem Ansatz ergibt sich von selbst, dass es dann keine Art von christlicher Judenfeindschaft geben kann, denn sie würdeBezih ja gegen die eigenen Grundlagen richten. Das wäre also das erste Kennzeichen, welches ein so gewonnenes neues Selbstverständnis der Christen charakterisieren würde: dass es sich seiner jüdischen Wurzeln bewust ist. Dort muss dann das Gespräch darüber beginnen, wie diese Zugehörigkeit der Christen zum Judentum genauer zu definieren ist und was daraus folgt. In diesen Fragen stehen wir noch ganz am Anfang, und es sind bisher auch nur wenige, die sich damit auseinandersetzen. Denn in der Tat: dies rührt an die Grundlagen der Definition des christlichen Selbstverständnisses. Lassen Sie mich dazu mit dem entscheidenden Punkt beginnen: Wenn wir von der Voraussetzung ausgehen, dass das jüdische Volk in unmittelbarer Kontinuität mit dem von Gott erwählten Volk Israel in der Hebräischen Bibel steht, dann gehört ihm auch die biblische Bezeichnung "Volk Gottes". Damit stellt sich aber die Frage, ob wir Christen diese Bezeichnung auch für uns verwenden können, wie die Kirche es seit vielen Jahrhunderten mit grosser Selbstverständlichkeit tut. Das zeigt erneut, dass wir bestimmte Dinge nur tun konnten, solange wir nicht zur Kenntnis nahmen, dass das jüdische Volk, das Volk Israel, weiterhin in ungebrochener Kontinuität besteht. Können wir es aber jetzt noch tun, wenn wir uns der leibhaftigen, lebendigen Existenz des jüdischen Volkes wieder bewusst geworden sind?

Diese Frage scheint uns in ein Dilemma zu führen. Wenn wir weiterhin uns selbst, die Christenheit oder die Kirche, als Volzuerttes bezeichnen, nehmen wir den Juden weg, was ihnen gehört. Wenn wir aber für uns selbst auf diese Bezeichnung verzichten, könnte es scheinen, als verlören wir gleichsam den Boden unter den Füssen. Denn an dem Begriff des Volkes Gottes hängt viel. So ist der Gedanke der Erwählung eng damit verbunden, um nur ein Beispiel zu nennen. Können wir uns vielleicht als Angehörige des Volkes Gottes neben den Juden und mit den Juden verstehen? Verträgt der Gedanke und Begriff des Volkes Gottes eine solche Ausweitung?

Die Rheinische Synode hat in ihrer Erklärung von 1980 eine Unterscheidung zu machen versucht. Sie hat erklärt:

Wir glauben die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes als Gottes Volk und erkennen, das die Kirche durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit seinem Volk hineingenommen ist (4.4).

Hier wird also der Begriff "Bund" eingeführt, und er wird ausdrücklich von dem Begriff des Volkes Gottes unterschieden. Der letztere bleibt dem jüdischen Volk vorbehalten, das allein als "Gottes Volk" bezeichnet wird. Aber die Christen sind mit dem Volk Gottes gemeinsam in den Bund hineingenommen.

Dabei ist die Absicht leitend, dem jüdischen Volk nichts wegzunehmen, was ihm gehört, zugleich aber die Kirche so eng wie möglich in die biblische Tradition hineinzustellen und seine Verbundenheit mit dem jüdischen Volk zu betonen. In jüngster Zeit ist über diese Frage eine lebhafte Diskussion in Gang gekommen. (Ich verweise dafür vor allem auf die Zeitschrift "Kirche und Israel".) Dabei verbinden sich biblisch-theologische Untersuchungen mit grundsätzlichen Überlegungen über das Verhältnis von Christen und Juden, von Kirche und Israel.

Eine andere Überlegung findet sich bei Friedrich-Wilhelm Marquardt in seinen Prolegomena zur Dogmatik, die den schönen Titel tragen "Von Elend und Heimsuchung der Theologie". Er stellt den kontinuierlichen Zusammenhang zwischen Israel und der Kirche unter dem Gedanken der Abrahamskindschaft her. Wir haben ja schon davon gesprochen, dass Paulus ausdrücklich seine Abstammung von Abraham betont; und im Brief an die Galater erklärt er ausführlich, dass alle, die glauben, Abrahams Kinder sind (Kap.3). Auch dies könnte ein Zugang zu der Frage sein, wie wir die Zugehörigkeit der Christen und der Kirche zur göttlichen Erwählungsgeschichte denken und formulieren können, ohne in die Rechte des jüdischen Volkes einzugreifen.

Wie gesagt, wir stehen in diesen Fragen noch am Anfang, und es sind bisher noch wenige, die sich auf solche Fragen eingelassen haben. Der erste Schritt ist aber der wichtigste, und auf ihn möchte ich zum Schluss noch einmal hinlenken. Der christliche Antijudaismus, aus dem der Antisemitismus erwachsen ist, hat seine erste Wurzel darin, dass die Christen geglaubt haben, sich selbst an die Stelle Israels setzen zu können. Das war aber nur möglich, indem Israel theologisch enteignet wurde. Und es zeigte sich dann allzu bald, das dies nicht nur ein theologischer Vorgang war, sondern dass mit dieser Enteignung eine "Verurteilung zu Nichtexistenz" verbunden war, wie es die Rheinische Synode formuliert hat. Und weil Israel theologisch und im Glauben der Kirche nicht mehr existierte, gab es auch keinen ernsthaften Grund, sich um das Schicksal der immer noch unter uns lebenden Juden zu kümmern.

Dies ist die negative Seite. Zugleich hat die Christenheit sich dadurch aber um ein ganz wesentliches Element ihrer eigenen Identität gebracht, indem sie ihre eigenen jüdischen Wurzeln, oder, noch genauer gesagt: das grundlegende jüdische Element ihrer eigenen Identität vergessen hat. Beides müssen wir versuchen wiederherzustellen. So könnten schliesslich die neuen Einsichten, die wir durch die Erkenntnis und das Bekenntnis der christlichen Mitschuld am Holocaust gewonnen haben, den Christen dazu helfen, ein neues Selbstverständnis zu gewinnen, das sie ganz neu in ihrer Herkunft und ihren Wurzeln verankert.

* Karl Barth, Gesamtausgabe, V.Briefe, Briefe 1961-1968 (Zürich 1975), 420f

Editorische Anmerkungen

Vortrag gehalten auf einer Tagung in Stuttgart im Mai 1995, an der Elie Wiesel beteiligt war.

© 1996 Prof. Dr. Rolf Rendtorff. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.