Marie-Theres Arnbom
Ist die Matthäus-Passion antijüdisch?
Die Matthäus-Passion ist sicherlich als eine der größten Kompositionen Johann Sebastian Bachs anzusehen, sie wurde zur besonderen Gestaltung des Vespergottesdienstes am Karfreitag 1727 in der Leipziger Thomaskirche komponiert. Am 22. April 1723 war Bach vom Großen Rat der Stadt Leipzig zum Thomaskantor gewählt worden und widmete sich somit also hauptsächlich der Kirchenmusik. Bach hatte in den beiden Hauptkirchen St. Thomas und St. Nikolai für die musikalische Verkündigung der Schrift zu sorgen. Geniale künstlerische Leistungen wurden dabei nicht erwartet, im Gegenteil: Wenn die Musik zu kunstvoll war, musste der Kantor eine Ermahnung in Kauf nehmen. An jedem Sonntag hatte Bach eine Kantate aufzuführen, die er in kürzester Zeit komponieren und mit dem Chor der Thomasschule sowie einem Instrumentalensemble, das sich aus städtischen Musikern zusammensetzte, einstudieren musste. Die Musik erklang in der "Frühpredigt", die um sieben Uhr begann und nicht selten bis 11 Uhr dauerte. Dieser Gottesdienst wurde von zumeist einfachen, frommen Menschen besucht, die im Glauben erzogen worden waren und für die der sonntägliche Gang in die Kirche selbstverständlich war. Oft beschränkte sich die Bildung dieser Gemeinde auf die Bibel und Luthers Katechismus. Das Kirchenjahr, beginnend mit der Adventszeit und seinen wichtigsten Festkreisen Weihnachten und Ostern, strukturierte das Leben dieser Menschen.
Bachs Passionen stellen heute für viele Christen den Inbegriff christlicher Verkündigung dar, doch auch kirchenferne Menschen werden von diesen musikalischen Meisterwerken berührt. Gerade über die Passionen, die solch überdurchschnittliche Verbreitung haben, hat sich in den letzten Jahren eine intensive Diskussion entsponnen. Was passiert, wenn Menschen, die gegenüber christlichem Antijudaismus sensibel geworden sind, sich mit Bach"scher Kirchenmusik befassen? Kann man den Inhalt, den Bibeltext und die hinzugeschriebenen Arien und Choräle unkommentiert und unreflektiert konsumieren?
In der heutigen Zeit sollte die Matthäus-Passion nicht nur als losgelöstes musikalisches Meisterwerk betrachtet werden. Der Zuhörer hat doch eine Verantwortung gegenüber den historischen Geschehnissen und den Tendenzen, die diese mit verursacht haben.
Im 13. Jahrhundert beginnt in Europa die Tradition der Passionsspiele außerhalb des liturgischen Kontextes. Die Mischung von Bibeltexten und Volkskunst hat eine Unheil bringende Wirkung für die Mitglieder der jüdischen Gemeinden - das geht soweit, dass die Herrscher in der Osterzeit Maßnahmen zum Schutz der jüdischen Bevölkerung ergreifen, die Ghettos bewachen lassen, um die Juden vor dem aufgebrachten Pöbel zu beschützen, der sich an den Darstellungen, die Juden seien ein blutdürstiges Volks, aufgeheizt hatte und danach regelrechte Pogrome veranstaltete. Das Geschehen ist ein historisches, die Reaktionen darauf sind aber immer zeitgenössisch.
Das Problem muss auf unterschiedlichen Ebenen betrachtet werden. Einerseits die Entstehungszeit des Matthäus-Evangeliums, andererseits die Traditionen zur Zeit Bachs und schlussendlich die Wirkungen, die die Aufführung von Passionen auf "das Volk" hatte.
Das Matthäus-Evangelium ist ca. 90 nach Christus entstanden - man muss also den Text in seinem historischen Kontext verstehen. Die hohe Christologie dieses Evangeliums muss als Polemik gegen die pharisäisch geprägte Synagoge in der Stadt der Adressaten (vermutlich Antiochien in Syrien) als Reaktion auf das, was der Verfasser und seine Adressaten erlebt haben und erleben, gesehen werden. 20 Jahre davor ging der Tempel in Jerusalem in Flammen auf, die Anfeindungen zwischen einzelnen Gruppierungen wurden immer stärker. Aus diesem Kontext sind die für uns heute nicht gerade diplomatisch anmutenden Worte des Textes zu sehen.
Der Vorwurf, alle Juden wären Christus-Mörder und Gottes-Mörder, bleibt über Jahrhunderte und Jahrtausende bestehen, erst im Zweiten Vatikanischen Konzil 1965 lehnt die katholische Kirche das dezidiert ab.
Antijudaismus ist ein subtiles, oft aber auch aggressives Phänomen, das in der Geschichte der christlichen Kirchen mitsamt ihrer Theologie, Frömmigkeit und Kunst von den neutestamentlichen Anfängen an in vielen Tendenzen und Facetten auftritt. Doch erst nach der Massenvernichtung der Juden im Dritten Reich wird wirklich deutlich, wie verhängnisvoll christlicher Antijudaismus war und ist: Auch die religiös motivierte christliche Judenfeindschaft hat mit dazu beigetragen, dem Holocaust den Boden zu bereiten. Deutsche jüdische Musiker wurden enteignet, verfolgt, in die Emigration getrieben oder in Konzentrationslagern ermordet - deutsche nichtjüdische Musikwissenschafter präsentierten deren Werke zur gleichen Zeit in groß angelegten Ausstellungen zum Thema "entartete Musik". Diese Entwicklung machte auch nicht vor vermeintlich "judenfreundlichen" Passagen des Neuen Testaments und mancher Kirchenlieder halt.
Heute wird versucht, im besonderen das Verbindende zwischen Juden und Christen aufzuzeigen. Eines der diffizilsten Probleme sind in diesem Zusammenhang sicherlich die Passionsspiele und die Passionsmusik. Wie sollen wir nun diesen Werken begegnen: ignorierend, weil die Musik so wunderbar ist; zensierend, aus den genannten Gründen; oder aufklärend und reflektierend, wie hier versucht wird? Am wichtigsten erscheint es mir, Missverständnisse auszuräumen, um einerseits diese Werke nicht vorschnell zu verurteilen, um aber auch zu vermeiden, dass über den Umweg der Musik Antijudaismen in unser Denken Einlass finden können.
Kann man antijüdisch komponieren? Diese Frage kann hier nur angerissen werden, die Beantwortung würde wohl Bücher füllen. Thesen, nach denen Bach die Zeilen "Sein Blut (komme) über uns und über unsere Kinder!" besonders dissonanzenreich und dramatisch komponiert hätte und dies ein Zeichen für seinen Antijudaismus wäre, gehen meiner Meinung nach sehr weit. Doch steht gerade diese Zeile am Beginn der Judenfeindschaft, die religiöse Argumente als bequemen Vorwand für Verfolgungen nutzte. Dieser "Blutruf" wird im Jahr 2000 im Textbuch des Passionsspiel in Oberammergau gestrichen.
Man kann und darf die Musik des großen Meisters Bach nicht vom Text und von den historischen Umständen der Zeit trennen. Das ist dem Werk, aber auch dem Komponisten nicht würdig. Der Personenkult um Bach sollte nicht dazu missbraucht werden, ihn auf ein Podest zu stellen und keinerlei kritische Gedanken zuzulassen. Bach ist nicht die unantastbare Instanz des "5. Evangelisten", als die er immer wieder dargestellt wird. Er ist ein genialer und großer Komponist, der als Kind seiner Zeit gewisse Tendenzen, Vorurteile und allgemeingültige Meinungen ebenfalls vertreten hat.
Im Bewusstsein der gewalttätigen und verheerenden Wirkung in der Geschichte hat die heutige Zeit die Verantwortung, sensibel gegenüber jedweden judenfeindlichen Tendenzen, sprachlichen Wendungen und unreflektierten Traditionen zu sein. Die Auseinandersetzung mit der Matthäus-Passion bietet dazu eine gute Gelegenheit.