Israel und Erstes Testament in den Gesangbüchern der Kirchen

Im christlichen Liedgut wird eine Menge über das Verhältnis der Kirche zu Israel ausgesagt, leider sehr oft Sätze, die unsere Wurzel im Glauben abwerten oder verdrängen. Das schmerzt, weil so über die emotionale Verknüpfung alte Stereotype wieder weiter getragen werden.

Markus Himmelbauer, Roland Ritter-Werneck

Israel und Erstes Testament in den Gesangbüchern der Kirchen

Alle programmatischen Stellungnahmen der Kirchen zum christlich-jüdischen Dialog betonen, wie notwendig es sei, dass die neue Wertschätzung des Ersten Testaments und des Judentums die Praxis der Kirchen in Lehre, Predigt und Katechese ganz durchdringe. Relativ unkompliziert können Gottesdienstleiterinnen und Gottesdienstleiter eigene Gebete formulieren und so liturgisch die Verbundenheit mit Israel ausdrücken. Neue Lieder zu schreiben, ist da schon schwieriger. Noch schwieriger ist es, alte Lieder aufzugeben und neue mit der Gemeinde zu lernen.

Lieder stellen einen sehr traditionsreichen stabilen Schlüssel zur Vermittlung theologischer Inhalte dar. „Wer singt, betet doppelt!“, so wird in einem Sprichwort der spirituelle Mehrwert der Musik dargestellt. Text und Musik gehen eine Einheit ein und füllen das Herz des Menschen. Ein vertonter Text bleibt länger im Gedächtnis und wird weiter getragen als ein Gedicht allein. Im christlichen Liedgut wird eine Menge über das Verhältnis der Kirche zu Israel ausgesagt, leider sehr oft Sätze, die unsere Wurzel im Glauben abwerten oder verdrängen. Das schmerzt, weil so über die emotionale Verknüpfung alte Stereotype wieder weiter getragen werden.

„Aber das singt man doch nur so. Man denkt nicht, was es bedeutet“, hören wir manchmal als Einwand zur Entschuldigung. Warum ist es dann so schwer, Lieder an den Ergebnissen des christlich-jüdischen Dialogs zu messen und Veränderungen vorzuschlagen? Neuauflagen des Gotteslob haben eine Korrektur der „Brüder“ gebracht, bereits früher sind „von Gott verfluchte Gründe“ und der „Seelenbräutigam“ einem neuen Bewusstsein für theologische Sprache gewichen. Die Zeit ist reif, dieses auch im Verhältnis zu Israel und dem Ersten Testament zu zeigen! In diesem Beitrag sollen daher einige Konsequenzen aus dem christlich-jüdischen Dialog für die Praxis des Kirchengesangs vorgeschlagen und zur Diskussion gestellt werden. Dabei wollen wir unsere Analyse auf die beiden traditionellen Liederbücher der Kirchen konzentrieren, das Neue Geistliche Lied wäre jedoch ebenfalls eine Untersuchung wert.

Unter folgenden Kriterien wollen wir das Evangelische Gesangbuch und das katholische Gotteslob im Geist des christlich-jüdischen Erneuerungsprozesses betrachten:

  • Werden Israels Heilsweg und das Erste Testament als unvollkommen oder minderwertig dargestellt?
  • Werden Traditionen des Ersten Testaments nur eingeschränkt und einseitig wahrgenommen? Präziser: Die Fülle der Themen und Traditionen des Ersten Bundesbuches ermöglichen es, viele Bezüge herzustellen und unzählige Deutungen daraus zu entwickeln. Christliche Interpretationen sind selbstverständlich legitim. Kritisiert werden soll nur, wo sich diese christliche Deutung gegen Israel richtet und wo sie sich so massiv darbietet, dass sie den Blick auf den ursprünglichen Zusammenhang des Textes gänzlich verstellt.
  • Stellen sich Kirche und Christenheit an den Platz Israels und verdrängen es?

Unakzeptables streichen

Lässt sich aus dem eingangs zitierten Sprichwort der Umkehrschluss ziehen? Wer Böses singt, schmerzt doppelt? Kabarettistinnen und Kabarettisten wissen jedenfalls: Wenn ich jemand im Lied kritisiere oder kränke, so wirkt das stärker verachtend als Worte allein. In unseren Gottesdiensten werden Texte über Israel gesungen, die dem Stand der theologischen Lehre nicht entsprechen. Sie sollten daher aus unserem Liedschatz gestrichen werden.

Israel in Nacht und Furcht

Das prominenteste Beispiel im katholischen Bereich ist eine Verszeile aus dem Tantum ergo (GL 543): „Et antiquum documentum novo cedat ritui.“ - und die alte Urkunde muss dem neuen Ritus weichen, „cedat“ ist Imperativ, keine Möglichkeitsform! Die deutsche Textfassung des Liedes im Gotteslob bringt als neuen Gedanken dazu noch eine Verunglimpfung der Tora: „Das Gesetz der Furcht muss weichen, da der neue Bund begann“ und setzt in der Tradition Markions fort: „Mahl der Liebe ohnegleichen: Nehmt im Glauben teil daran.“.

Eucharistische Lieder haben im Katholizismus eine Tendenz der Abwertung der jüdischen Tradition. Jesus ist das „wahre Osterlamm“, das „wahre Manna“ und „wahre Himmelsbrot“ (GL 547). Zu Fronleichnam wird im österreichischen Prozessionslied „Deinem Heiland, deinem Lehrer“ (GL 831) gesungen: „Durch das Lamm, das wir erhalten, wird hier der Genuss des alten Osterlammes abgetan; und der Wahrheit muss das Zeichen und die Nacht dem Lichte weichen und das Neue fängt nun an.“ Evangelische Abendmahlslieder stellen stärker die Sündenvergebung und den Gemeinschaftsgedanken in den Mittelpunkt und kennen diese Gegenüberstellungen nicht.

Die jüdische Tradition, die Zeit vor Jesus, wird auch im Adventlied „Tauet Himmel den Gerechten“ (GL 812 vgl. auch GL 104) für unvollständig und unvollkommen erklärt. Für das Volk, „dem Gott die Verheißung gab“, gilt immer noch: „Denn verschlossen war das Tor, bis der Heiland trat hervor.“ Das Dreikönigslied „Ein Stern im hellen Brande“ (GL 818) ruft daher im Jahr 1936 Israel zur Bekehrung auf: „Jerusalem, erstehe, Stadt Sion, werde licht. Dass Rettung dir geschehe, schau Gottes Angesicht.“ Heute erkennen auch die Kirchen an, dass ungekündigter Bund und ungekündigte Erwählung Israels zum zentralen Glaubens- und Existenzbewusstsein Israels gehören.

Gottesmordvorwurf

Der Vorwurf an das jüdische Volk, Gottesmörder zu sein, sollte aus jedem christlichen Gesangbuch endlich weichen. Die lutherische Kirche Schwedens ist gerade dabei, dazu konkrete Schritte zu setzen (kathpress 02.05.2000). Bei der katholischen Kreuzverehrung am Karfreitag werden die „Improperien“, das Lied „O du mein Volkgesungen. In ihm werden die Heilstaten Gottes an Israel aufgezählt und der Undankbarkeit der Juden gegenüber gestellt die nun Christus gefoltert und ans Kreuz geschlagen haben. Im Lied spricht der sterbende Jesus vom Kreuz zu den Umstehenden: „O du mein Volk, was tat ich dir? Betrübt ich dich? Antworte mir! Ägyptens Joch entriss ich dich, du legst des Kreuzes Joch auf mich.“ Und weiter: „Das Land des Segens gab ich dir und du gibst mir das Kreuz dafür“ — sieben Strofen lang. Im Gottesdienst beziehen viele Gläubige dieses Lied im übertragenen Sinn auf sich selbst und die eigenen Verfehlungen. Doch wörtlich steht zunächst etwas anderes da. Dieser Gesang sollte daher nicht mehr verwendet werden, wie es etwa eine Kommission der US Bischofskonferenz aus dem Jahr 1987 empfiehlt (zit. in SIDIC 31/ 1989, 3; vgl. dazu die Stellungnahme des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit aus dem Jahr 1988 – sie wurde vom Pastoralamt Wien an alle Pfarren der Erzdiözese verteilt – und jene von 1999.

Auf verengende Sichtweisen aufmerksam werden

Viele Christinnen und Christen sind es nicht gewohnt, die Sprache ihres Glaubens auf den Vater Jesu, den Gott Israels zu beziehen. Die Anrede „Herr“ gilt Jesus Christus, an ihn denken sie gewohnheitsmäßig zuallererst beim „Herr, erbarme dich unser“, beim „Lobe den Herren“ und in vielen Psalmliedern. Diese Doppeldeutigkeit stand bereits ganz zu Beginn der christlichen Missionsgeschichte bei Paulus (vgl. Mayer, War Jesus der Messias?, Tübingen 1998, 199f).

Gerade in Psalmliedern verleiten dazu oft die christologische Deutung in den Texten selbst und der trinitarische Schluss, wie er sich z.B. in dem bekannten Adventlied „Macht hoch die Tür (EG 1, GL 107 zu Ps 24) findet: Ein Königspsalm wird messianisch gedeutet und trinitarisch „getauft“: „Komm, o mein Heiland Jesu Christ, meins Herzens Tür dir offen ist. Ach zieh mit deiner Gnade ein, dein Freundlichkeit auch uns erschein. Dein Heilger Geist uns führ und leit den Weg zur ewgen Seligkeit. Dem Namen dein, o Herr, sei ewig Peis und Ehr.“

Problematisch erscheint auch die Vermischung von profetischen und neutestamentlichen Stellen. So heißt es in dem Lied „Das Volk, das im Finstern wandelt (EG 20) in der 5. Strofe: „Ein Sohn ist uns gegeben, Sohn Gottes, der das Zepter hält, der gute Hirt, das Licht der Welt, der Weg, die Wahrheit und das Leben.“

Zu Ostern und bei Begräbnissen wird in katholischen Gemeinden der Vers „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“gesungen, ein Zitat aus dem Buch Ijob (Ij 19,25). Ist den christlichen Sängerinnen und Sängern bewusst, dass „Erlösung“ bereits ein Begriff der Hebräischen Bibel, und nicht erst durch Jesus in unser Glaubensgut eingeflossen ist? (vgl. Rendtorff, Christen und Juden heute, Neukirchner 1998, 50) Jedenfalls findet sich im Themenregister des weit verbreiteten österreichischen Liederbuchs „Das Lob“ unter dem Stichwort „Erlösung“ einzig der Verweis auf „Ostern“. Die Stichworte „Bund“ und „Israel“ fehlen überhaupt.

Christlich-jüdischer Dialog könnte mit Blick auf unsere Gesangstradition heißen, diese Verkürzung unserer Wahrnehmung in Predigt und Katechese zu thematisieren und den Gott Jesu und Israels wieder hervor treten zu lassen. Vielleicht könnten bei einer Überarbeitung des Gotteslobs ähnlich wie im Evangelischen Gesangbuch die biblischen Bezüge für die einzelnen Lieder angegeben werden, um die Sensibilität für ihre Herkunft zu schärfen. Dies würde auch dazu beitragen, die Qualität von Liedtexten auf die authentische Wiedergabe ihrer Quellen überprüfen zu können.

Ein grundlegendes Problem christlicher Theologie

Die hier behandelten Fragen der Sicht Israels durch die christliche Theologie hängen nicht ausschließlich mit dem Liedgut zusammen. Sie können an jeden theologischen Text, an jedes Gebet gestellt werden.

Die Auswahl der Lieder und Gesänge in der katholischen Messe ist im Prinzip frei, allein an zwei Stellen sind die Texte verpflichtend vorgegeben: Der Psalm als Antwortgesang nach der ersten Lesung und das „Heilig“ zum eucharistischen Hochgebet. Zwei Gesänge aus dem Ersten Testament! Leider wird der Psalm oft nicht gesungen und durch eine weitere Strofe des Eingangsliedes ersetzt, oder er wird gekürzt vorgetragen, vier oder sechs Verse heraus genommen. Ein besonderes Problem stellt die Doxologie dar, der Lobpreis „Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist“, mit der das christliche Psalmengebet traditionell beendet wird. Dieser Vers ist ein Schritt, jüdische Gebetstraditionen christlich zu vereinnahmen und trennt bewusst das Gebet der Kirche von der Synagoge. Gewohnt pointiert formuliert es Landesrabbiner Joel Berger: Psalmen taufen bedeutet geistliche Vernichtung. Denn brüderliche-schwesterliche Koexistenz gläubiger Gemeinschaften könne es nur dann geben, wenn die Kirche das jüdische Selbstverständnis, die jüdischen Lebensformen als wahrhaftig vollendet und gleichwertig zu betrachten bereit ist. (zit. bei Zwanger, MD evang. AK Kirche und Israel in Hessen und Nassau 2/ 2000, 12)

Auch das „Heilig, heilig, heilig!“ (Jes 6,3) wird im Christentum traditionell trinitarisch gedeutet, der jüdische Hintergrund bleibt dabei unsichtbar.

Israel nicht verdrängen

Israel ist Israel und das Volk Gottes sind zunächst Israel und die Juden. Die Christen haben das vergessen und sich an seine Stelle gesetzt: „Komm o komm Emmanuel, nach dir sehnt sich dein Israel“ (GL 813). In einer Meditation über Ps 136 werden in GL 284 Israel und die Christenheit in einem Zug „Volk“ genannt – mit folgendem Unterscheidungsmerkmal: „Sein neues Gebot ist die Liebe“; auch singen wir „Freut euch, wir sind Gottes Volk“ (GL 646). Eine überzeugende Bestimmung des Verhältnisses von Christen und Juden mit Hilfe des Volk-Gottes-Begriffs, ist bislang noch nicht gelungen (Streit um das Gottesdienstbuch „Erneuerte Agende“ des Evangelischen AK Kirche und Israel Hessen und Nassau, 4). Jedenfalls sollte die Bezeichnung „Volk Gottes“ die heilsgeschichtliche Kontinuität des Handelns Gottes von den alttestamentlichen Verheißungen bis zur kommenden Vollendung ausdrücken und nicht einen Bruch.

Ein Beispiel sei hier zur Diskussion gestellt: Das Lied „Gott ruft sein Volk zusammen“ (GL 640) hat die Volk Gottes Theologie des 2. Vatikanums in Worte gefasst: „Gott ruft sein Volk zusammen rings auf dem Erdenrund, eint uns in Christi Namen zu einem neuen Bund.“ Der Text ist neutral formuliert und kann nicht nur auf eine Ablöse Israels durch die Kirche hin gedeutet werden. Bei einer Umfrage unter katholischen Seelsorgerinnen und Seelsorgern in Österreich (Zauner 1999) sehen immerhin 36% diese mögliche Tendenz der Abwertung konkret in diesem Lied. Vielleicht könnte der Text mit heutigem Bewusstsein für christlich-jüdische Beziehungen neu gefasst werden, so dass vom alten Gehalt nichts verloren geht, aber der Bezug zu Israel deutlich wird? Hier ein unpoetischer erster Versuch: „Gott ruft aus allen Völkern uns auf dem Erdenrund, eint uns in Christi Namen mit Israel zum Bund.“

Der „gute Hirt“ im Lied „Aus tiefer Not (GL 163 und EG 299 zu Ps 130), wird er in der Gemeinde mit Blick auf Ps 23 und Gott Vater wahrgenommen, oder ausschließlich durch das Wort Jesu interpretiert „Ich bin der gute Hirte“ (Joh 10,11)? Die Strofe spricht weiter von Sündenvergebung an Israel. Wer ist gemeint? Der Text im Gotteslob ist bearbeitet und gekürzt. Die ursprüngliche Fassung des Liedes, der Text von Martin Luther (EG 299) klärt die Denkrichtung in Strofe 4: „So tu Israel rechter Art, der aus dem Geist erzeuget ward.“ Israel aus dem Geist ist die Kirche.

Zion

Woran denkt die christliche Gemeinde, wenn sie in ihren Liedern Zion besingt? Hier zeigen sich verschiedenste theologische und Frömmigkeitstraditionen.

Eine besondere Jesusfrömmigkeit wird etwa in dem Lied „Jesus soll die Losung sein“ (EG 62) angesprochen. In Strofe 2 heißt es: „Jesu Name, Jesu Wort soll bei uns in Zion schallen ...“ Die Gleichsetzung Zion=Kirche kommt auch in dem Lied „Jesu, der du bist alleine“ (EG 252) zum Ausdruck: „Ich umfasse, die dir dienen; ich verein´ge mich mit ihnen, und vor deinem Angesicht wünsch ich Zion tausend Segen ...“

Im Gotteslob findet sich das bekannte Lied „Ein Haus voll Glorie schauet“ (GL 639). Die singende Gemeinde preist die Kirche „aus ewgem Stein erbauet, von Gottes Meisterhand“ und stellt sie triumphierend auf den Zionsberg. Die zweite Strofe könnte für sich genommen ein festlicher Lobpreis für Jerusalem sein, der beispielhaft für unser Anliegen hier steht. Doch aus dem Kontext des Liedes geht hervor, dass „Gottes heilge Stadt“ die (römisch katholische) Kirche ist und nicht Jerusalem. „Auf Zion hoch gegründet, steht Gottes heilge Stadt, dass sie der Welt verkündet, was Gott gesprochen hat.“

In anderen Liedern ist Zion eine eschatologische Größe, es steht für das himmlische Jerusalem. So wird die Hoffnung auf Erlösung im Pfingstlied „Schmückt das Fest mit Maien“ (EG 135) besungen: „... trag nach Zions Hügeln uns mit Glaubensflügeln ...“ (Strofe 6)

Uns geht es darum, dass Israel in den Liedern unserer Kirchen nicht weiterhin enterbt wird, dass gerade bei Begriffen wie „Israel, Jerusalem oder Zion“ nicht vergessen wird, dass es sich dabei um real existierende Größen handelt, auch wenn sie in unserem Liedgut oft spiritualisiert wurden. Es ist zu hoffen, dass die Entwicklungen des jüdisch-christlichen Dialogs, die Anerkennung des Staates Israel durch den Vatikan 1993, der Besuch des Papstes in Israel zum Heiligen Jahr 2000 in Verbindung mit einer positiven Bewertung des jüdischen Glaubens durch den Papst und die verschiedenen Erklärungen evangelischer Landeskirchen Wirkung zeigen und auch in der Lex orandi und im Gemeindegesang Spuren hinterlassen.

Die Schrift authentisch wahrnehmen

Noch einmal das Lied „Tauet Himmel“, es bezieht sich auf Jes 45,8 (siehe den erklärenden Verweis in der Einheitsübersetzung). Hier lesen wir: „Taut, ihr Himmel, von oben, ihr Wolken lasst Gerechtigkeit regnen.“ Das Lied bringt eine falsche Übersetzung, um das Erste Testament auf Jesus hin auslegen zu können: „Tauet Himmel, den Gerechten“.

Durch einen Filter lesen wir auch Jes 58,6.9 im Gesang zur Fastenzeit „Bekehre uns, vergib die Sünde“(GL 160). Aus den scharfen Worten des Profeten „Das ist ein Fasten, wie ich es liebe: die Fesseln des Unrechts zu lösen, die Stricke des Jochs zu entfernen, die Versklavten frei zu lassen, jedes Joch zu zerbrechen“ wird in der eher sanften Übertragung des Liedes mit karitativer Tendenz: „Tut Gutes allen, helft den Unterdrückten und stiftet Frieden, liebet euren Nächsten.“ Es ist wiederum ein generelles Problem christlicher Verkündigung, die Klarheit und Schärfe der ersttestamentlichen Profetie zu verdrängen. Diese Spiritualisierung und Individualisierung findet sich auch im Liedgut.

So fehlen in der Übertragung von Ps 34 im Lied GL 493 „Lob sei dem Herrn, Ruhm seinem Namen“ die Armen, die vom Herrn erhört werden. Dass den Reichen gleichzeitig gedroht wird zu hungern, fällt ebenfalls unter den Tisch. Die Gerechten, die Verfolgung leiden, werden auch nicht erwähnt, dafür wird aber jener Vers zitiert, in der von den zerbrochenen und zerknirschten Herzen die Rede ist. Genauer ist die Übertragung von Cornelius Becker im Evangelischen Gesangbuch (EG 276), allerdings findet sich auch hier wieder die trinitarische Doxologie in Strofe 5. Die textgetreue Übertragung eines Psalms geschieht im Lied „Lobt Gott, den Herrn der Herrlichkeit“ (EG 300). Hier bleibt Zion der Ort, von wo Gott kommt: „Gott heilge dich in seinem Haus und segne dich von Zion aus ...“ Auch das ökumenische Lied „Danket Gott, denn er ist gut“ (EG 301) orientiert sich eng am Psalm 136. Hier bleibt Israel das biblische Volk.

Interessant ist eine Gegenüberstellung zweier Psalmlieder zum Ps 146 (EG 302 - EG 303). Während Paul Gerhardts Übertragung „Du meine Seele, singe“ nahe am biblischen Text bleibt (Strofe 2.: „Wohl dem, der einzig schauet nach Jakobs Gott und Heil“) kommt bei Johann Daniel Herrnschmidts „Lobe den Herren“ die Jesusfrömmigkeit auch hier zum Ausdruck: „Selig, ja selig ist der zu nennen, des Hilfe der Gott Jakobs ist, welcher vom Glauben sich nicht lässt trennen und hofft getrost auf Jesus Christ. Wer diesen Herrn zum Beistand hat, findet am besten Rat und Tat.“ (Strofe 3)

„Er nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen, das er unseren Vätern verheißen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig!“ So wird Gott in den letzten Versen des Magnificats (Lk 1,46-55) gepriesen. Die Übertragung von Marie Luise Thurmair im Lied GL 261 „Den Herren will ich loben“ lautet so: „Jetzt hat er sein Erbarmen an Israel vollbracht, sein Volk mit mächtgen Armen erhoben aus der Nacht.“ Wieder einmal wird christlicherseits von Israel im Zusammenhang mit den Begriffen „vollbringen/Vollendung“ (durch Christus) und „Nacht“ gesprochen.

Aus Bewährtem schöpfen

An der Gesamtzahl der Lieder und Gesänge in unseren Choralbüchern gemessen, sind die oben kritisierten Stellen eine Minderheit. Ist an allen anderen Texten alles in Ordnung, wird dort ohne Verachtung von Israel gesprochen?

Man muss schon genau suchen, um im traditionellen Liedgut positive Anknüpfungspunkte zu finden, in denen die Verbundenheit von uns Christinnen und Christen mit Israel thematisiert wird. „Lobe mit Abrahams Samen!“, diese Liedzeile aus „Lobe den Herren, den mächtigen König“ (EG 317, Strofe 5) fehlt in der ökumenischen Fassung (EG 316) und im Gotteslob (GL 258). Psalmlieder könnten dazu dienen, wieder neu die Verwurzelung unseres Bekenntnisses in Israel zu bedenken. Zu nennen ist „Völker aller Land“ (GL 556 nach Ps 47), jedoch mit einem Wermutstropfen. Das Land, das im Psalm „Jakob, den er liebt“ verheißen ist, erhalten im Lied zum Erbe „alle, die er liebt“. Aus dem Evangelischen Gesangbuch ist positiv zu nennen: „Nun preiset alle Gottes Barmherzigkeit“ (EG 502). Hier wird in Strofe 1 gesungen: „Freue dich, Israel, seiner Gnaden!“ Im Lied „Nun danket Gott, erhebt und preiset“ (EG 290) heißt es in Strofe 3: „O Israel, Gott herrscht auf Erden. Er will von dir verherrlicht werden; er denket ewigs seines Bunds und der Verheißung seines Munds, die er den Vätern kundgetan: Ich lass euch erben Kanaan“.

Der Unterschied von Kirche aus den Heidenvölkern und Israel wird in einigen Chorälen des Evangelischen Gesangbuches angesprochen (Nun komm der Heiden Heiland EG 4, Lobt Gott den Herrn, ihr Heiden all, EG 293 nach Ps 117). Im Gotteslob kommen die Völker im Adventlied „Herr, send herab uns deinen Sohn“ (GL 112) vor. Die Christen und Juden gemeinsame Hoffnung auf eine Vollendung der Zeiten wird auch im Adventlied „Kündet allen in der Not“ (GL 106) ausgedrückt, wenn wir es nicht ausschließlich auf die Geburt Jesu in Bethlehem hin deuten. „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ (GL 110/ EG 147) verarbeitet vielfältige Bilder aus den Traditionen des Ersten Testaments und deutet sie auf Jesus hin, freilich ohne dadurch ihre Herkunft abzuwerten oder zu verleugnen. Jesus als Jude ist im Choral „Wie schön leuchtet der Morgenstern (GL 554/ EG 70) angesprochen: „Du Sohn Davids aus Jakobs Stamm“. Vielleicht kann der Gottesdienst am „Tag des Judentums“, der am 17. Jänner von den Kirchen des Ökumenischen Rates in Österreich begangen wird, ein Ausgangspunkt für eine neue Sichtweise dieser Lieder werden.

Neue Traditionen begründen

Einen Lichtblick bietet das Neue Geistliche Lied. „Kommt herbei, singt dem Herrn“(GL 270/ evangelisches Liederheft für Jugend und Gemeinde in Österreich 604, nach Ps 95 - ohne Doxologie!) und „Auf dein Wort, Herr, lass uns vertrauen“ (GL 624) sind nach Melodien aus Israel vertont. Es gibt eine deutsche Übertragung von „Jeruschalajim schel zahav“ von Christine Heuer, die auch an Katholiken- und Evangelischen Kirchentagen gesungen wurde: „Ihr Mächtigen, ich will nicht singen“. Bei anderen Liedern ist allerdings zu diskutieren, ob eine christologische Dichtung („Zünde an dein Feuer“) auf die Melodie der Hatikva wirklich passend ist. Die Quellenangabe für die Melodie der israelischen Nationalhymne im Liederbuch „Das Lob“ lässt jedenfalls jedes Bewusstsein für ihre Herkunft vermissen. Es heißt da: israelische Melodie aus: „Jesu Name nie verklinget“.

Die beiden jüdischen Lieder „Hevenu Schalom aleichem“ (EG 433) und „Schalom chaverim“ (EG 434) gehören zum festen Repertoire engagierter Gruppen. Sie finden sich auch im Liederbuch „David“ (die Hinzufügung der „chaverot“, der Freundinnen, muss jedoch erst eine zukünftige Neuauflage bringen), ebenso wie die Vertonung des Gedichts von Schalom ben Chorin: „Freunde, dass der Mandelzweig wieder wächst und blüht.“ Letztere ist auch in der bayerischen Ausgabe des Evangelischen Gesangbuchs enthalten. Das Neue Geistliche Lied kennt eine Vertonung des Sch’ma Jisrael „Höre Israel“ der Jesusbruderschaft Gnadenthal, durch das bekannte Miriamlied von Claudia Mitscha-Eibl wird ebenfalls eine wertvolle Tradition der Hebräischen Bibel weiter getragen.

Viele biblische Bilder, die die Beziehung der Gläubigen aus den Völkern zu Israel darstellen, sind in ihrem Reichtum als Quelle der Poesie und für das Liedgut noch nicht erschlossen: Die Völkerwallfahrt zum Zion, die wilden Zweige auf dem edlen Ölbaum, der Segen über Abraham, die Weisheit, die unter allen Menschen wohnt und unsere Freude, als Heidenvölker in den Bund Gottes mit Israel hineingenommen zu sein. Hier ist noch weiter Raum für dichterische und musikalische Kreativität, die Erneuerung des christlich-jüdischen Verhältnisses über den Weg der Musik in den Herzen der Gläubigen zu verankern. Es ist an der Zeit, neue Traditionen der Wertschätzung Israels zu begründen!

Editorische Anmerkungen

Mag. Roland Ritter-Werneck ist evangelischer Pfarrer und Vorstandsmitglied des österreichischen Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit.

Adresse: Gumpendorferstrasse 129/ 8, A 1060 Wien

Mag.Dr. Markus Himmelbauer ist katholischer Theologe, Leiter des christlich-jüdischen Informationszentrums Wien und als Kirchenmusiker tätig.

Adressse: Gentzgasse 14/ 5/ 1, A 1180 Wien

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