Israel und die Völker: Der Prophet Sacharja

Am Beispiel des Propheten Sacharja untersucht van Loopik die Erwählung des Volkes Israel zum Gottesvolk, das Verhältnis von Israel und den Völkern und beleuchtet in diesem Zusammenhang die innerjüdische Spannung von Partikularismus und Universalismus.

Israel und die Völker

Der Prophet Sacharja

Zeitliche Einordnung

Der Prophet Sacharja, Autor eines der letzten Prophetenbücher im Tenach, war Zeitgenosse und Nachfolger des Propheten Haggai. Nach Esra 5,1 und 6,14 war er der Sohn des Priesters Iddo, der zur Zeit des Stadthalters Serubbabel und des Hohenpriesters Jehoschua lebte. Er folgte seinem Vater als Priester (Neh 12,16). Sacharjas Botschaft konzentriert sich auf den Wiederaufbau Jerusalems und des Tempels, der im Jahr 516 v. d. Z. endlich vollendet wurde.1 Genau wie Haggai hat Sacharja sich voll Feuer für den Wiederaufbau des Heiligtums eingesetzt: „Dieses Volk sagt: Die Zeit ist noch nicht gekommen, das Haus des Ewigen zu bauen“ (Haggai 1,2). Nach ihrer beider Meinung stellte die Wiedererrichtung des Hauses Gottes die Bedingung für das Kommen des Königreiches Gottes dar. Der Prozess des Tempelbaus hatte etwa 20 Jahre nahezu stillgestanden, als Folge der Angst und des Mangels an Durchsetzungsvermögen der zurückgekehrten Verbannten, die anfänglich mehr Interesse für ihre eigene Sicherheit und den Bau der Stadtmauern als für die Wiederrichtung des Tempels zeigten.

Wir erkennen in diesem Buch die bewegte Zeit der Verwandten nach ihrer Rückkehr. Dagegen setzt sich der Prophet kaum mit den die umringenden Völkern auseinander, die dem Wiederaufbau des Tempels entgegenarbeiteten und die Zurückgekehrten in ihrem nackten Dasein bedrohten. Zwischen den Zeilen sind wir Zeugen eines endgültigen Risses zwischen dem jüdischen Juda im Süden und der samaritanischen Gemeinschaft im Norden, beide miteinander in einem religiösen und kulturellen Kampf verwickelt. Es blieb eine Wunde die niemals heilte.

Kurz nach der Wiederaufnahme der Arbeit am Tempel unterstützt Sacharja die Initiative von Haggai. Die nahende Vollendung des Tempels ließ bei ihm das Feuer der messianischen Erwartung hoch auflodern.

Ein Buch, ein Prophet?

Die ersten sechs visionären Kapitel des Buches Sacharja zeugen von der utopischen Begeisterung, die für diesen Propheten so kennzeichnend ist. Vor allem in diesem Teil merken wir, wie Sacharja den Übergang von der Prophetie zur Apokalyptik darstellt. Die wunderliche Visionen voller Symbolsprache müssen auch für den Propheten selbst durch einen sogenannten madrich, einen himmlischen Führer erklärt werden, der die metaphorische Bedeutung der Vision transparent macht. Dieses typisch apokalyptische Phänomen erinnert uns an das Buch Daniel, das in der rabbinischen Tradition schon nicht mehr zu den Propheten gerechnet wird.

In akademischen Kreisen herrscht die Meinung, das Buch Sacharja bestehe so wie Jesaja aus zwei Teilen. Danach sollen die Kapitel 9-14 mit ihren universalistischen und utopischen Zukunftsbildern von einem anderen Autor stammen als die ersten acht Kapitel. In der Tat finden wir im letzten Teil Elemente und Angaben, die auf eine viel spätere Zeit verweisen. Aus dem Blickwinkel der rabbinischen Bibelinterpretation sind dergleichen textkritische Unterscheidungen trotzdem nicht von wesentlicher Bedeutung. Dort ist nur der endredaktionelle Zusammenhang des Ganzen für die Interpretation der verschiedenen Teile bestimmend. Auch im Buch Sacharja gehen Drohrede und Heilsprophezeiungen sinnvoll zusammen. Es besteht kein inhaltlicher Grund, das Buch zu teilen.

Die Propheten erfüllen eine doppelte Aufgabe. Mit drohenden Worten ermahnen sie die Gottlosen; die Bußfertigen trösten sie mit messianischen Verheißungen. Viel schärfer als Haggai rief Sacharja zu einer sittlichen Erweckung auf. In seinen Predigten tritt er für die Rechtsstellung von Fremdlingen, Witwen und Waisen innerhalb der Gemeinschaft ein. So wie viele andere Propheten stellt er Ethik über das Rituelle.

Sacharja 14

In diesem Vortrag will ich mich auf ein Hauptthema und den roten Faden im Buch Sacharja beschränken: das Verhältnis zwischen Israel und den Völkern. Nach einer kurzen Auslegung des letzten und 14. Kapitels werde ich das Thema „Israel und die Völker“ weiter vertiefen und im breiteren Rahmen der rabbinischen Tradition darstellen.

Das Zukunftsbild in Sacharja 14 ist mehr als eine prophetische Ermahnung, in der die Gemeinschaft zwischen Belohnung und Strafe wählen muss. Das Schlussbild atmet die Sphäre einer unabwendbaren Prophezeiung, was die apokalyptischen Tendenzen im Buch bekräftigt. Sacharja sagt voraus, wie der Ewige Seinen unergründlichen Plan von Katastrophe und Heil am Ende der Tage vollenden wird. Der Prophet beschreibt, was die Rabbinen die chewle jeme ha-maschiach nennen: die Geburtswehen der messianischen Zeit. Kurz vor dem Kommen des Königreiches Gottes werden alle Völker sich nach Gottes Plan gegen Israel kehren. Die Situation wird vollkommen hoffnungslos aussehen, aber dann wird Gott die Rollen umdrehen und Israels Bedrückung in Triumph verkehren.

Dieser schmerzliche Prozess ist ebenso notwendig wie die Wehen einer Frau, die der Geburt eines Kindes vorangehen. So lehrte Rabbi Schimon bar Jochai, dass drei göttlichen Geschenken jeweils eine Periode des Leidens vorangehen wird: der Gabe der Tora, der Einnahme des verheißenen Landes und dem Kommen der zukünftigen Welt. Die Tora konnte nur nach einer Wüstenperiode voller Entbehrung und Leiden in einer Situation der vollkommenen Abhängigkeit vom Ewigen gegeben werden. Die Einnahme des Landes ging von Neuem mit Prüfungen und Kampf einher. Die alte Generation musste zuerst verschwinden, um einen gänzlich neuen Anfang möglich zu machen. So wird auch das Kommen von Gottes Königreich nur nach einer Periode von Pein und Schmerz möglich sein, in der Israel, durch seine Feinde umringt, vollständig auf Gottes Hilfe angewiesen sein wird2 Die Zukunftsvision in Sacharja 14 wird durch den Gedanken von Israels Umkehr getragen, die wiederum die Umkehr der Völker einläuten wird. Umkehr ist hier nicht so sehr die prophetische Bedingung als viel mehr eine apokalyptische Gewissheit. Wir erfahren hier die wahre Tiefe des talmudischen Satzes: „Der Heilige, Er sei gepriesen, lässt ihnen einen König erstehen, dessen Verordnungen hart sind wie die Hamans. Dann tut Israel Umkehr, und Er bringt sie zum Guten zurück“ (bSanhedrin 97b3).Gezwungen durch die Situation wird die ganze Menschheit mit Israel zur Einkehr kommen. Die Katastrophe ist ebenso sicher wie die Rettung, die darauf folgen wird: „Die Hälfte der Stadt wird in die Gefangenschaft ausziehen, aber der Rest des Volkes wird nicht aus der Stadt ausgerottet werden.“ (14,2). Auch die Völker werden gestraft werden, die Übrigbleibenden aber werden zusammen mit Israel nach Jerusalem hinaufziehen um dem Ewigen zu dienen.

Umschlag

In seinem Vorausblick auf „den Tag des Ewigen“ wendet sich der Prophet direkt an die Stadt Jerusalem: „Siehe, ein Tag kommt für den Ewigen, da verteilt man in deiner Mitte dein Plündergut“ (14,1). Die apokalyptische Spannung zwischen Katastrophe und Befreiung finden wir in den sehr auseinandergehenden Auslegungen dieser Einleitungsworte widergespiegelt. Nach einer auf der Hand liegenden Erklärung werden sich Jerusalems Plünderer so sehr des endgültigen Sieges sicher wähnen, dass sie in aller Ruhe ihre Beute inmitten der heiligen Stadt verteilen. In 14,4 sieht der Prophet voraus, dass es einst gerade die Einwohner Jerusalems sein werden, die die Reichtümer der Völker innerhalb ihrer Stadtmauern sammeln werden. Der Targum4, der vor allem die Gemeinschaft ermutigen will, wartet diesen apokalyptischen Wechsel in den Geschehnissen nicht ab. Der Targum-Übersetzer greift schon beim ersten Vers voraus auf die günstige Wende im Geschick Israels und übersetzt: „Und das Haus Israels wird die Besitzungen der Völker in deiner Mitte verteilen, o Jerusalem“. Israels Verfluchung wird sich in einen Segen verändern: „So wie ihr ein Fluch unter den Völkern gewesen seid, Haus Juda und Haus Israel, so werde Ich euch retten, und ihr werdet ein Segen sein“ (8,13). Der akademischen textkritischen Zerlegung des Buches zum Trotz wird doch immer wieder seine klare redaktionelle und inhaltliche Einheit deutlich! Nach Gottes unergründlichem Ratsschluss werden die Völker zuerst gegen Jerusalem zum Kampf ziehen: „Ich werde alle Völker gegen Jerusalem zusammenbringen“ (14,2; vgl. 12,3). Die Heilige Stadt wird verwüstet und geplündert werden; die Hälfte ihrer Bewohner wird weggeführt werden, die andere Hälfte aber wird zurückbleiben. Die letzte Aussage stellt einen kleinen Hinweis auf die zukünftige heilsame Wendung dar. Denn unversehens wird der Ewige Selbst auf dem Kampfplatz erscheinen und mit Israels Feinden abrechnen: „Dann wird der Ewige ausziehen und gegen jene Nationen kämpfen wie am Tag Seines Kampfes, dem Tag des Treffens“ (14,3).

Was meint der Prophet mit „wie am Tag des Kampfes, dem Tag des Treffens“? Nach der Targum-Übersetzung und den meisten Kommentaren bezieht er sich damit auf den Tag, an dem Gott Israel beim Schilfmeer aus der Hand Pharaos rettete5 „Der Tag“ beim Schilfmeer stellt die Vorausbildung des „Tages des Ewigen“ und der zukünftigen messianischen Befreiung dar. Auch dann wird es sich nicht um einen gewöhnlichen Kampf handeln sondern um ein persönliches Treffen (keraw) zwischen Israels Feinden und dem Ewigen Selbst. So wie der Ewige in der Vergangenheit das Schilfmeer spaltete, um Israel einen Ausweg zu bahnen, so wird Er an „diesem Tag“ den Ölberg mittels eines Erdbebens in zwei Teile spalten (14,4). Es wird ein Tal von Osten nach Westen entstehen, durch das Israel anders als seine Feinde der Vernichtung dieser Naturkatastrophe entkommen wird: „Und ihr werdet in das Tal Meines Berges fliehen“ (14,5). Der Targum liest die Konsonanten des Hebräischen hier auf eine verschiedene Weise, nicht nastem (ihr werdet fliehen) sondern nistam (es wird aufgefüllt oder abgeschlossen werden). Wir lesen dann „und das Tal Meines Berges wird abgeschlossen (aufgefüllt) werden.“ Nach Raschi können wir dies als eine inhaltliche Erklärung verstehen: Wenn im Ölberg ein Riss von Osten nach Westen entsteht und der nördliche und südliche Teil des Berges auseinandergehen, wird das frühere Tal um den Berg herum durch die Verlagerung beider Berghälften aufgefüllt. Hat aber der Targum wirklich eine rein inhaltliche Erklärung im Blick? Zweifellos will er mehr. Die aramäische Übersetzung unterstreicht noch einmal besonders die Übereinstimmung mit dem Wunder am Schilfmeer. Wie beim Schilfmeer wird der Fluchtweg Israels für seine Verfolger abgeschlossen werden. Vielleicht werden gar Israels Feinde durch ein Meer von Erde [Grund] verschüttet werden. Israel wird in die Ebene fliehen so wie bei dem großen Erdbeben zur Zeit König Usias (14,5).6

In einem bewegten und erhabenen Augenblick scheint nun der Prophet seine Hörerschaft zu vergessen. Er verlässt seine beschreibende Wiedergabe der Zukunft und richtet sich in einem persönlichen Zeugnis an Gott: „Dann wird der Ewige, mein Gott, kommen, alle Heiligen mit Dir“ (14,5). Gottes himmlisches Heer wird in Jerusalem einziehen, um „dem Rest“ Israels im Kampf gegen ihre Belagerer beizustehen. Die zukünftige Rettung wird noch wunderbarer sein als der Auszug aus Ägypten. Der Tag des Ewigen hat zwar einen Vorläufer in der Geschichte, er wird jedoch einmalig sein: „Und es wird ein einzigartiger Tag sein“ (14,7). Nur Gott ist der verborgene Zeitpunkt bekannt, kez ha-jamim - der durch Gott festgelegte definitive Zeitpunkt der Erlösung, ein typisch apokalyptisches Motiv mit einem prophetischen Unterton. Gerade weil der Zeitpunkt nicht bekannt ist, muss sich der Mensch jeden Tag aufs Neue darauf vorbereiten.

Die letzten Geheimnisse bleiben in den Worten des Propheten verhüllt: „Und es wird geschehen an jenem Tag, da wird kein Licht sein, Nebelschwaden und dunkle Bewölkung“ (14,6).Jekarot (Nebelschwaden) von jakar (schwer sein).7We-kippa’on (anstelle von jekippaon (dunkle Bewölkung) von kefei (dick werden, verklumpen). So interpretiert Raschi den hebräischen Text, der schwer zu begreifen ist. Er weist uns auf eine verwandte Vorhersage über „den Tag des Ewigen“ in Jes 13,10 hin: „Denn die Sterne des Himmels und seine Sternbilder werden ihr Licht nicht leuchten lassen. Die Sonne wird finster sein bei ihrem Aufgang, und der Mond wird sein Licht nicht scheinen lassen.“ David Kimchi übersetzt ungefähr in der gleichen Richtung jedoch von einer etwas positiveren Betrachtung aus: an diesem Tag wird es geschehen, dass es weder helles Licht noch dichte und düstere Bewölkung geben wird. Nach seiner Meinung wird am „Tag des Ewigen“ ein vages Licht scheinen, ohne deutlichen Unterschied zwischen Tag und Nacht. Die Worte in Vers 7 „weder Tag noch Nacht“ scheinen seine Ansicht zu bestätigen. „Weder Tag noch Nacht“ bezeichnet die geheimnisvolle Vermengung von Unheil und Befreiung, die den Tag des Ewigen kennzeichnen wird. Am Ende des Abends, in der tiefsten Tiefe der Verbannung wird das klare Licht der messianischen Befreiung durchbrechen (Vers 3): „Zur Zeit des Abends wird Licht sein“. So lehrt eine rabbinische Tradition, dass der Messias im gleichen Augenblick geboren wird, in dem Jerusalem (im Jahr 70) verwüstet wurde. In einer verwandten Erklärung deutet auch Raschi „Tag und Nacht“ in bildlichem Sinn: Der Prophet spricht nicht über einen normalen Tag von vierundzwanzig Stunden sondern über „den Tag des Ewigen“, von dem die Psalmen sagen: „Tausend Jahre sind in Deinen Augen wie der Tag von gestern“ (90,4). Sacharja spricht über das sogenannte Tausendjährige Reich, in dem das Licht der Kommenden Welt noch nicht durchgebrochen, in dem aber schon ein Ende der langen Nacht von Israels Unterdrückung angebrochen ist. Erst am Ende dieser tausend Jahre, am Abend, wird das volle Licht der Kommenden Welt strahlen.

Andere Ausleger verstehen „Tag und Nacht“ in Vers 7 wörtlich. „Sonne und Mond, der Rhythmus von Tag und Nacht werden verschwinden: Und es wird geschehen, dass kein Licht sein wird, noch das Köstliche (jakar) Licht der Sonne, noch das kalte (kefei) Licht des Mondes“8 Solch eine Lesart erinnert an die Verheißung des Propheten Jesaja: „Nicht mehr wird die Sonne dir als Licht am Tag dienen, noch als heller Schein der Mond dir leuchten; sondern der Ewige wird dir zum Ewigen Licht sein.“ (60,19). Die letzte Auslegung schließt hervorragend an die wunderbaren Segnungen an, die Sacharja nun folgen lässt (14,8): „Und es wird geschehen an jenem Tag, da werden lebendige Wasser aus Jerusalem fließen usw.“ Von Jerusalem aus wird alle Jahreszeiten hindurch lebensweckendes Wasser fließen und das ganze Land befruchten. In dieser Verheißung hören wir die Stimme des Propheten Joel: „Und eine Quelle wird aus dem Haus des Ewigen hervorbrechen und das Tal Schittim bewässern“ (4,18).

Die irdischen Segnungen der messianischen Zeit sind kein Ziel in sich selbst. Sie sind die äußere Formgebung von Gottes Königsschaft: „Und der Ewige wird König sein über die ganze Erde“. Voll von verborgenen Verheißungen klingt es dann weiter: „An dem Tag wird der Ewige einzig sein und sein Name einzig“ (14,9). Alle Völker werden Gott als den Einzigen erkennen und nur seinen Namen ausrufen. Hier zeigt das Buch Sacharja seinen klaren Zusammenhang. Auch in 2,10-11; 8,21-22; 12,3 erkennen wir dieses überraschende universalistische Motiv, das Israel über allen Partikularismus und über alle geschichtliche Frustration erhebt.

Echte Heilung kann nur dort stattfinden, wo jeder Groll überwunden ist. Mit dieser Verheißung von Einheit zwischen Israel und den Völkern schließt das Alenu-Gebet, mit dem Israels Synagogengottesdienste schließen:

Darum hoffen wir zu Dir, Ewiger unser Gott, bald den Triumph deiner Herrlichkeit zu schauen, dass alle Greuel von der Erde verschwinden und die Götzen ausgerottet werden; dass die Welt durch das Reich des Allmächtigen vervollkommnet werde, dass alle Menschenkinder Deinen Namen anrufen und alle Frevler auf Erden sich zu dir bekennen; das alle Bewohner des Erdkreises erkennen und einsehen, dass vor dir allein jedes Knie sich beugen und jede Zunge bei dir schwören soll usw.9

Die Stadt Jerusalem wird das religiöse Herz der Welt bilden. Weitläufig10 und ganz bewohnt wird jedoch Jerusalem über das umliegende Land hinausragen (14,10). Das Land Juda wird sich wie eine Ebene rundum die Stadt ausstrecken, von Gewa im äußersten Norden bis Rimmon, nahe bei Beerschewa im äußersten Süden. Das prophetische Ideal von Gottes Königreich ist nicht nur ein spirituelles. Es umfasst auch das Verlangen des Volkes, tatsächlich in Recht und Sicherheit leben zu können: „Und man wird in ihr [Jerusalem] wohnen“ (14,11). In ihrer Erhabenheit wird die Stadt unantastbar sein: „Es wird keinen Bann [Vernichtung] mehr geben, Jerusalem wird in Frieden wohnen“.

Das Urteil über die Völker

In diese vertraute Sphäre einer sicheren Stadt lässt der Prophet nun wie einen Donnerschlag den Hammer des Urteils über Israels Feinde niedergehen: „Und dies wird die Plage sein, mit der der Ewige alle Völker plagen wird, die gegen Jerusalem in den Krieg gezogen sind“ (14,12). Von einem auf den anderen Augenblick werden sie vergehen: „Ihr Fleisch wird verwesen, während sie noch auf ihren Füßen stehen und ihre Augen werden verwesen in ihren Höhlen, in ihrem Mund wird ihre Zunge verwesen“ (14,12). Sacharja malt ein bitteres Bild der Panik, die sich Israels Feinden bemächtigen wird. Wenn jemand die Hand seines Nächsten fassen will, um Hilfe zu suchen oder zu geben, wird dieser es als eine Bedrohung verstehen und unverzüglich zum Angriff übergehen: „Und es wird geschehen an jenem Tag, da wird eine große Verwirrung von dem Ewigen unter ihnen entstehen, so dass einer die Hand des anderen packen und sich seine Hand gegen die Hand seines Nächsten erheben wird“ (14,13; vgl. 12,4). Die Bewohner Jehudas werden sich in den Kampf gegen die Plünderer Jerusalems mischen, um die dort übrig gebliebenen Volksgenossen zu befreien (vgl. 14,2). »Und auch Jehuda wird (in - für) Jerusalem kämpfen (14,14; vgl. auch 12,6-7).“ Da nun die Rollen vertauscht sind, werden Israels Plünderer selbst mittellos (14,14).

Universalistischer Zukunftstraum

Genauso abrupt, wie Sacharja das Urteilsschwert über die Völker zur Hand nahm, steckt er es endgültig wieder in die Scheide (14,16). Er lässt die Völker an der messianischen Zukunft teilhaben11. Die Überlebenden unter den Völkern werden Gottes Königsschaft anerkennen und jährlich nach Jerusalem hinaufziehen um dort zusammen mit Israel das Laubhüttenfest zu feiern. Warum das Laubhüttenfest? Die Sukka, die Laubhütte, ist das Symbol von Gottes beschirmender Gegenwart: »Denn Er wird mich bergen in Seiner Sukka am Tag des Unheils, Er wird mich verbergen im Versteck Seines Zeltes; auf einen Felsen wird Er mich heben« (Psalm 27,5). Der Schlusssatz der Segenssprüche nach dem Abend-Schema lautet: „Möge Er die Sukka des Friedens über uns und über das ganze Volk Israel ausbreiten“12. Zum Sukkafest zogen die meisten Pilger nach Jerusalem. Als Dankfest für die Ernte und als Anleitung zum Gebet um Regen (vgl. 10,1.2) ist das Laubhüttenfest für alle Völker bedeutsam. Die Verpflichtung, zu bestimmten Zeiten in einer Laubhütte zu wohnen, gilt für jede und jeden. Kein Fest fördert so stark die Zusammengehörigkeit der Gemeinschaften. Alle Unterschiede von Rang und Stand fallen in der Laubhütte weg. Darum ist dieses Fest in besonderer Weise Symbol für die Gleichwertigkeit aller Menschen. Die Völker aber, die nicht mit Israel und den anderen dienen wollen, werden kein Teil an der Segnung des Regens und der guten Ernte haben (14,17). Nur auf Ägypten wartet in diesem Fall vielleicht noch eine besondere Strafe. Dieses Land wird ja durch den Nil bewässert und ist darum weniger abhängig vom Regen. Ägypten sieht der Strafe entgegen, mit der die Völker schon am Tag des Gerichtes getroffen werden (14,18).

Das ganze Leben wird geheiligt sein. Pferde sollen keine Soldaten mehr befördern, sondern Pilger auf ihren Rücken tragen, auf dem Weg nach Jerusalem. An den Glöckchen ihrer Geschirre werden die gleichen Worte stehen wie auf dem Stirnblatt des Hohenpriesters: „Heilig dem Ewigen“ (14,2013). Für die schier unzählbaren Friedensopfer Israels und der Völker werden alle Töpfe und Pfannen in Jerusalem und Jehuda benötigt werden. Händler von Opfertieren werden sich nicht mehr beim Tempel zeigen, denn jeder Besitzer eines Tieres wird dieses freiwillig für den Opferdienst abgeben.

Israel und die Völker

Soweit die Auslegung dieses prächtigen Kapitels am Ende des Buches Sacharja. Roter Faden durch das Kapitel ist die ambivalente Beziehung zwischen Israel und den Völkern. „Der ist ein Held, der aus einem Feind einen Freund zu machen weiß“, sagt der Talmud. Gerade dieser Aspekt verleiht diesem Schlusskapitel von Sacharja seinen heroischen Glanz. Es ist kein billiges Siegeslied, kein billiger Vorgeschmack auf den Tag der Rache, sondern hier spricht aufrechte Liebe für die Menschheit und die Hoffnung, dass das Gute schließlich siegen wird.

Mit Blick auf dieses Kapitel will ich nun der Beziehung zwischen Israel und den Völkern innerhalb der rabbinischen Tradition eine kurze Betrachtung weihen.

Gebannt

aus der Gemeinschaft des Ewigen

Der Tenach beschreibt die Geburt und die weitere Entwicklung des jüdischen Volkes. Israels Geschichte ist wie das Auf- und Absteigen der Engel auf der Leiter in Jakobs Traum. Israel machte eine bewegte und wechselhafte Geschichte durch. Erlebnisse blieben von Ausschlag gebender Bedeutung für die Weise, wie es sich selbst und die anderen Völker betrachtet.

Der Ewige hat Israel im Land Ägypten wie einen Fötus im Bauch seiner Mutter gewogen (vgl. Psalm 139,13). Die Entstehung des jüdischen Volkes war traumatisch. Die Israeliten flüchteten über den schmalen Pfad durch das Schilfmeer dem Leben und der Freiheit entgegen. Außer Freiheit wartete aber auch das Ringen des Erwachsenwerdens. Ägypten steht dem kollektiven Gedächtnis als eine erbarmungslose Nation eingegraben, in dem das Leben unzählbarer Zwangsarbeiter den immensen Grabmonumenten geopfert wurde. Ägypten ist das „Sklavenhaus“ (bet awadim; Ex 20,2) seltsam genug aber auch „der Garten des Ewigen“ (gan ha-Schem; Gen 13,10). Die ambivalente Haltung gegenüber Ägypten erkennen wir in der Mischung von Respekt und Abneigung wieder, mit der Israel die Außenwelt betrachten wird. Ägypten und Edom (Esau) - letzteres identifizieren die Rabbinen mit Rom - haben Israel herzlos geknechtet und verfolgt. Israel darf trotzdem nicht Böses mit Bösem vergelten, denn damit würde dieses „Volk von Priestern“ zum verachtenswerten Niveau seiner Gegner absinken.

So hält uns die Tora vor: „Den Edomiten sollst du nicht verabscheuen, denn er ist dein Bruder“ (Dtn 23,8). Jakob sprach als er von Laban zurückkehrte, Esau weiterhin mit „mein Bruder“ an. Und Israel weiß: „Den Ägypter sollst du nicht verabscheuen, denn du warst Fremdling in seinem Land“ (ebd.). Das jüdische Volk muss sich an die Grausamkeit Ägyptens erinnern, es darf aber seinen Feinden nicht mit gleicher Münze zurückzahlen: „Aus der Erfahrung, dass wir gerade erst Opfer von Intoleranz waren müssen wir Toleranz lernen. Aus der Tatsache, dass wir in Ägypten den gröbsten unsittlichen Praktiken ausgeliefert waren, müssen wir sittliches Verhalten lernen“14

Und trotz aller schlechten Erfahrungen blieb der Abscheu gegenüber Ägypten und Edom begrenzt. Im Blick auf diese beiden Völker lehrt die Tora: »Kinder, die ihnen geboren werden, dürfen von ihnen in der dritten Generation in die Versammlung des Ewigen kommen« (Dtn 23,9). Wenn ein Ägypter oder ein Edomiter zu Israel hinzutritt, dürfen ihre Enkel einen jüdischen Mann oder eine jüdische Frau heiraten, bis dahin darf die erste und zweite Generation nur mit anderen Proselyten die Ehe schließen.

Radikale Abweisung

In der Wüste begann sozusagen die Zeit von Israels Jugend. In einer „pubertären“ Identitätskrise sehnte sich das Volk zur Gebärmutter zurück, nach den Wasserquellen und Fleischtöpfen Ägyptens. Sichtbar bewahrte das Volk auch gute Erinnerungen an das ägyptische Sklavenhaus! Nachdem Er Israel gegen den eigen Willen befreit hatte, brachte der Ewige seine gerade erst erworbene Braut zum Sinai unter den Hochzeitsbaldachin, wo Er ihr den Hochzeitskontrakt - die Tora - vorlas. Dem Ewigen geheiligt, in einer einzigartigen Ehe mit ihm verbunden, wurde sie immer erwachsener. Eine Reihe von äußerst feindlichen Völkern kreuzte ihren Weg, wie etwa die Amalekiter, die Ammoniter, die Moabiter und die sieben kanaanäischen Völker15 Die Abneigung diesen Völkern gegenüber ist radikaler als die gegenüber Ägypten und Edom. Für immer grenzt die Tora Israel von Ammon und Moab ab: „Ein Ammoniter oder Moabiter darf nicht in die Versammlung des Ewigen kommen; auch ihre zehnte Generation von ihnen darf nicht in die Versammlung des Ewigen kommen, für ewig; deshalb weil sie euch nicht mit Brot und Wasser entgegengekommen sind auf dem Weg, als ihr aus Ägypten zogt.“ (Dtn 23,4-5).

Die Ägypter waren Jakobs Großfamilie anfänglich noch gut gesinnt. Hass und Unterdrückung nahmen erst allmählich zu. Die gefühlsmäßige Abneigung wuchs sozusagen gleichzeitig mit dem Umfang Israels. Die Härte der Ägypter gründete sich auf Fremdenangst und Eigensucht16 Die Hartherzigkeit Ammons und Moabs dagegen ist offensichtlich grundlegender als die Ägyptens. Ihre Feindschaft gegenüber Israel scheint ja wie bei Amalek17 ohne Motiv zu sein! Ihre Ungastlichkeit war nicht zu vergeben, weil sie aus einer fast naturhaften Gleichgültigkeit herrührte. Wer nicht zum Mitgefühl in der Lage ist, darf sich niemals zu Israel zählen.

Darum durfte sich auch Israel nicht mit den kanaanäischen Völkern vermischen. Selbst ein Bund mit ihnen war ausgeschlossen18. Der Israelit musste sich von diesen Kulturen fernhalten, damit er nicht durch ihre unmenschliche und unbarmherzige Lebensweise infiziert werden konnte.19 Der Midrasch zeichnet in harten Konturen: „Fünf Dinge hat Kanaan seinen Kindern aufgetragen: Liebt [nur] einander, liebt den Raub, liebt die Unzucht, hasst eure Herren und sprecht nie die Wahrheit“.20

Der Ausschluss Amaleks, Ammons, Moabs und der kananäischen Völker ist übrigens nur historisch bedeutsam. Sie bestehen nicht mehr. Kein Volk kann mit ihnen identifiziert werden. Ihre Abweisung ist dann auch sicher kein Beispiel von Israels Haltung gegenüber der Außenwelt im Allgemeinen.

  • Einst werden alle Völker nach Jerusalem hinaufziehen, um zusammen mit Israel zu feiern und den Ewigen zu loben (vgl. Jes 2,3 und Sach 14,16).
  • Der Ewige weist Jona zurecht, weil dieser sich weigerte, die nicht-jüdischen Bewohner Ninives zu warnen. Die 70 Seeleute, die ironischerweise gerade durch seine Flucht den Ewigen fürchten lernten und ihm Opfer brachten, stehen Modell für die Gesamtheit aller Völker auf Erden.
  • Alle gottesfürchtigen Menschen sind Brüder und Schwestern.
  • Sara sprach: „Wer hätte gesagt: Sara säugt Kinder?“ (Gen 21,7). Nur Jitzchak war zu diesem Zeitpunkt geboren. Über welche Kinder (Plural!) spricht denn Sara? Es sind nach dem Midrasch all die Kinder der Völker, deren Mütter am Beschneidungsfest eingeladen waren. Saras Brüste scheinen genug Milch zu haben, um all die Kinder reichlich zu stillen. Auch die Kinder der Völker betrachtet Sara also als ihre eigenen Kinder21. Der Midrasch weist auf eine symbolische Verwandtschaft aller Menschen und Völker hin, die den Schöpfer des Himmels und der Erde ehren wollen.

Jedes Leben zählt

Israel ist Gottes auserwähltes Volk und Kleinod, am segula - das Volk, das Gottes besonderer Besitz ist. So wie Schabbat von den anderen Tagen apart gesetzt wird, so ist Israel von den Völkern apart gesetzt, um als Volk von Priestern in besonderer Heiligkeit zu leben.22 Trotz des Glaubens an diese Auserwählung unterstreichen die Weisen die Gleichwertigkeit aller Menschen. Alle Völker und Familien stammen von einem Vater ab: „Nur ein Mensch [nur Adam] wurde zunächst geschaffen. Warum ist dies so? Wegen der verschiedenen Familien, damit sie nicht miteinander in Streit geraten [und behaupten, dass sie von einem vortrefflicheren Urvater abstammen als die anderen]. Und da sie sich jetzt schon, wo doch nur ein einziger Urvater erschaffen wurde, bekriegen, um wie viel mehr würden sie einander bekämpfen, wäre er doppelt erschaffen worden“23 Die Mischna lehrt: „Jedem, der eine einzige Seele von Israel verdirbt, rechnet es die Schrift an, als hätte er eine ganze Welt verdorben. Und jedem, der eine einzige Seele von Israel erhält, rechnet es die Schrift an, als hätte er eine ganze Welt erhalten“. Dies klingt sehr partikularistisch, auch wenn wir bedenken, dass es sich hierbei um eine Warnung an jüdische Richter handelt, die innerhalb der eigenen Gemeinschaft bei einem Kapitalverbrechen ein richterliches Urteil fällen mussten. Um so auffallender ist es, dass wir andere Handschriften haben, die lesen: „Wer einen Menschen verloren gehen lässt [d.h. Israelit oder Nicht-Israelit], dem rechnet es die Schrift so an, als ob er die ganze Welt vernichtet hat usw.“ Die Gleichwertigkeit jedes Menschen, ungeachtet seiner Nationalität oder seines Glaubens ist hier garantiert. Eine Überlieferung im Midrasch geht noch einen Schritt weiter: „Rabbi Jochanan gab als seine eigene Meinung zu erkennen: Jede Bedrängnis, die Israel und die Völker [miteinander] teilen, ist eine [echte] Bedrängnis; aber jede Bedrängnis, die [nur] über Israel selbst kommt ist keine [echte] Bedrängnis [denn Israel wird dabei umkehren und beten, so dass die Katastrophe abgewendet werden wird]“24 Abraham stritt mit Gott um die gottlosen Einwohner von Sodom und Gomorra vor dem Untergang zu retten (Gen 18,17-33). 70 Stiere opferte Israel während des Sukkotfestes. Sie dienten zur Versöhnung der Übertretungen aller Völker in der Welt25 Rabbi Jehoschua ben Levi schenkte Israels Feinden den vollen Vorteil des Zweifels als er sprach: „Hätten die Völker der Welt gewusst, wie gut das Heiligtum für sie gewesen wäre, hätten sie es mit Kriegslagern umgeben, um es zu bewachen, anstatt es zu vernichten. Es war für sie nötiger als für Israel. - Gerade die Völker, die sich so feindlich gegenüber der Tora zeigten, haben Versöhnung nötig“.26

Viele Priester des Heiligen,

Er sei gesegnet

Die Absonderung Israels aus dem Kreis der Völker ist nicht absolut zu sehen. Sie ist nur darauf ausgerichtet, Israel von Sittenlosigkeit und unmoralischem Verhalten Abstand nehmen zu lassen. Israels Erwählung bezeichnet darum auch keineswegs eine Verachtung anderer Kulturen. Alle Menschen sind ja nach dem Bild Gottes geschaffen. Auch in anderen Kulturen ist Offenbarung und auch andere Völker besitzen ihre Rechtschaffenen. Der ganzen Menschheit ist in Gottes Heilsgeschichte eine Aufgabe zugewiesen. Anfänglich wollte Gott die Tora allen Menschen offenbaren. Die Worte aus Gen 5,1 „Dies ist das Buch der Geburtsgeschichten Adams“, beziehen die Weisen auf die Tora als Lebensbuch für die gesamte Menschheit.27 Die Tora wurde in der Sinaiwüste offenbart, im Niemandsland, damit Israel die Tora nicht nur für sich selbst behalten solle: „Darum wurde die Tora in der Wüste gegeben, gemeinschaftlich und öffentlich, im Niemandsland. Wenn jemand [aus den Völkern] sie annehmen will, so soll er kommen und sie annehmen“.28 Jedes Volk konnte Gottes Wort am Sinai in der eigenen Sprache verstehen: „Rabbi Jochanan sagte: Was bedeutet der Schriftvers: ‚Gott gab sein Wort, der Botschafterinnen [Plural!] guter Nachricht war ein großes Heer‘ (Psalm 68,12)? [Dies bedeutet:] Jedes Wort, das aus dem Munde des Heiligen, Er sei gesegnet, hervorging, wurde in 70 Sprachen zerteilt“.29

Genauso wie Israel können die Völker durch Liebe und Gerechtigkeit die Ankunft des Messias beschleunigen: „Deine Priester sollen sich bekleiden mit Gerechtigkeit und deine Frommen sollen jubeln!“ (Psalm 132,9). „Deine Priester - das sind die Rechtschaffenen aus den Völkern, denn sie sind Priester des Heiligen, Er sei gesegnet, in dieser Welt, so wie [der menschenliebende Kaiser] Antonius und seine Freunde“.30

Jeder Mensch, ungeachtet zu welchem Volk er gehört, hat das Vermögen, sein Leben mit rechtschaffenen Taten zu heiligen. In einem ergreifenden Ausspruch gibt der Philosoph Maimonides diesem universalistischen jüdischen Ideal seine Stimme: „Lass nicht den Gedanken bei dir aufkommen, wie es die ‚Dummen der Völker‘ und viele halbgebildeten Juden sagen, dass Gott den Menschen schon vor der Geburt bestimme, gut oder schlecht zu sein. Die Sache ist nicht so, sondern jedem Menschen ist es möglich ein Frommer zu werden wie unser Lehrer Moses oder ein Bösewicht zu sein wie Jerobeam; weise oder töricht zu sein, barmherzig oder grausam, geizig oder verschwenderisch. Ebenso verhält es sich mit den übrigen Charaktereigenschaften“.31 Selbst ein Nicht-Jude, der sich mit dem Studium und der Praxis der Tora beschäftigt, ist dem Hohenpriester in Israel gleichwertig.32

Im Rahmen der aktuellen Konfrontation zwischen Judentum, Christentum und Islam hat der amerikanische Rabbiner Irving Greenberg die universalistische Tendenz des Judentums bis zum Ende hin durchgezogen: „Ihr seid Meine Zeugen, lautet das Wort des Ewigen“ (Jes 43,10). Das Volk Israel besteht aus Dienern Gottes; sie sind gerufen und erwählt, um von ihren liebenden Gott und seinem göttlichen Plan mit der Menschheit und dem Kosmos zu zeugen. Nach meinem Sprachverständnis verweist der Begriff „Volk Israel“ nicht nur auf Israelis, nicht einmal ausschließlich auf Juden, sondern auf alle, die bekräftigen, dass Gott einen gültigen Bund mit Abraham und seinen Nachkommen geschlossen hat, aber auch auf alle, die sich der Aufgabe stellen, die Welt zu erlösen, so dass der Bund erfüllt werden kann; d.h. auch Christen und auch Muslims werden als Kinder Abrahams und Saras anerkannt, wenn sie sich vom Hass gegenüber Juden und von der Substitutionstheologie reinigen.33

Erwählung

Die Position des jüdischen Volkes inmitten der anderen Völker bekommt mehr Transparenz, wenn wir diese Position im Licht von Israels Erwählung betrachten. Denn jemand könnte die berechtigte Frage stellen: Wie kann der Ewige als Schöpfer Himmels und der Erde und Vater aller Menschen ein bestimmtes Volk auserwählen? Verbirgt sich dahinter nicht ein Problem? Wir wissen, dass die Aggada mehrdeutig und reich an Paradoxem ist; kein Begriff aber ist so gegensätzlich wie der der Erwählung - bechira. So hat dieses Thema denn auch heftige Diskussionen hervorgerufen. Viele jüdische Toragelehrten haben mit dem Gedanken an Gottes Vorliebe für Israel gerungen, da diese keineswegs mit dem universalistischen und durchdringenden Unterton harmoniert, den wir in der Melodie des Judentums zu hören gewohnt sind.

Wie kann Gott einen Unterschied zwischen seinen Geschöpfen machen? Hat er nicht gesagt: „Seid ihr Mir nicht wie die Söhne der Äthiopier, ihr Söhne Israel, spricht der Ewige? Habe ich nicht Israel aus dem Land Ägypten heraufgeführt und die Philister aus Kaftor und Aram aus Kir?“ (Amos 9,7). Und trotzdem halten die Rabbinen an der Idee der Erwählung des jüdischen Volkes fest. Es besteht für sie keinen Gegensatz zu dem, was Amos sagt. Die Gleichwertigkeit aller Menschen steht überhaupt nicht zur Diskussion. Israel stellt sich nirgendwo vor die anderen. Im Gegenteil, gerade weil sich Israel der eigenen Nichtigkeit und des eigenen Unvermögens bewusst ist, hat der Ewige dies Volk auserkoren. Raschi gibt (in Anschluss an den Midrasch) eine treffende Schriftauslegung zu Dtn 7,7: „‘Nicht weil ihr zahlreicher [größer] wäret als alle Völker, hat der Ewige sich euch zugeneigt und euch erwählt - er seid ja das geringste unter allen Völkern‘. ‚Nicht weil ihre zahlreicher wäret‘ [damit ist gemeint:] weil ihr euch selbst nicht erhebt, wenn ich euch das Gute im Überfluss schenke. Darum sagt die Tora ‚hat der Ewige eurer begehrt ..., denn ihr seid das kleinste‘ - ihr, die ihr euch kleiner macht, so wie Abraham, der sagte: ‚Weil ich Staub und Asche bin‘ (Gen 28,27), und so wie Mosche und Aharon, die gesagt haben: ‚Aber wer sind wir‘? (Ex 16,7); und nicht wie Nebukadnezar, der sagte: ‚Ich werde dem Höchsten gleichen‘ (Jes 14,14) usw.“34

Israels Erwählung ist kein Privileg; sie ist bedingt und an einen Auftrag gebunden (vgl. Ex 19,5). Wenn Israel fehlt, bringt dies ihm nur Nachteile: „Nur euch habe Ich von allen Geschlechtern der Erde erkannt; darum werde Ich an euch alle eure Sünden heimsuchen“ (Amos 3,2).

Der mittelalterliche Dichter-Philosoph Jehuda Ha-Levi vergleicht die Stellung Israels inmitten der Völker mit dem Herz als der Achse des Lebens: „Israel ist unter den Völkern wie das Herz unter den Gliedern, es ist das Kränkeste von allen und zugleich das Gesündeste ... Wundere dich nicht, wenn es heißt: ‚unsere Krankheiten trägt Er‘ (Jes 53,4). Denn während wir in Not sind, befindet sich die Welt in Ruhe; die Leiden, die uns treffen, tragen dazu bei, unsere Tora [Lehre] zu befestigen, uns zu läutern und die Schlacken von uns auszuscheiden. Durch unsere Lauterkeit und Förderung haftet der göttliche Geist an der Welt.“ Jehuda Ha-Levi erklärt, wie Israel zuerst die tiefste Qual der geschundenen Welt fühlt, in der wir leben, während der Rest der Völker unbekümmert weiterlebt. So wie der leidende Knecht in Jesaja die Krankheiten der Gemeinschaft trägt, so leidet Israel an der Unvollkommenheit der Schöpfung. Darin gleicht Israel dem Herzen, das als erstes leidet und Signale aussendet, wenn andere Organe im Körper nicht gut funktionieren. Zugleich bleibt Israel der „Motor“ der Welt. So wie das Herz, das den ganzen Körper am Leben erhält, verbindet Israel Gottes Geist mit der Schöpfung, so dass diese weiter existiert.35

Das Lehrstück von der Erwählung ist nicht Teil eines „Herrenvolkes“, dem andere dienen müssen, sondern im Gegenteil dazu die Lehre eines Volkes, das dazu bestimmt ist, anderen zu dienen.36 Israel ist nicht so sehr um seinetwillen auserwählt, sondern um der Menschheit willen. Jüdischer Partikularismus muss im Rahmen des jüdischen Universalismus gesehen werden. Wie kein anderer hat dies der Prophet Jesaja begriffen, der über den Auserwählten sagte: „Ich, der Ewige, Ich habe dich in Gerechtigkeit gerufen und ergreife dich bei der Hand. und Ich behüte dich und mache dich zum Bund des Volkes, zum Licht der Nationen, blinde Augen aufzutun, Gefangene aus dem Kerker und die aus dem Gefängnis herauszuführen, die in der Finsternis sitzen“ (Jes 42,6-8).

Anmerkungen
  1. Vgl. Sach 1,16; 2,1-5.11-13; 6,15; 8.3.
  2. S. bBerachot 5a; vgl. Mechilta de R. Jischma’el, Jitro, Par. 10; Jalkut Jitro § 303; Sifre Wa-etchanan, Piska 32 [ed. Finkelstein S. 57]; Jalkut Wa-etchanan § 837; Schemot Rabba 1,1; Tanchuma Schemot Ende § 1; Midrasch Tehillim 94,2; Jalkut Psalmen § 850.
  3. Vgl. Mayer, Talmud S. 612 u.a.
  4. Targum: Aramäische Übersetzung
  5. Vgl. Ex 14,25ff; 15,3ff.
  6. Vgl Amos 3,1.
  7. Vgl. jekarot schel midbar - dicker Nebel über der Wüstenebene: Jalkut Psalmen § 730, verweisend auf Psalm 37,21.
  8. Malbim und andere.
  9. Vgl. Bamberger, Sidur, S. 65.
  10. Vgl. Sach 2,6; Ez 18.
  11. S. auch 2,15.
  12. Vgl. Bamberger, Sidur, S. 89f.
  13. Vgl. Ex 28,36.
  14. J.M. Cohen, 1001 Questions and Answers on Pesach, London 1996, S. 12; vgl. Lev 19,34.
  15. Vgl. Dtn 7, 1ff.
  16. Vgl. Ex 1,10; Flavius Josephus, Antiquitates, II,9.
  17. S. Tenachon, Nr. 8: „Konzepte“ zu Rachamim.
  18. Vgl. Ex 34,11-16; Dtn 7,1-6; 20,16-18; auch Gen 24,3 und Esra 9,1.
  19. S. v.a. Dtn 20,18.
  20. S. bPesachim 113b.
  21. Pesikta Rabbati, Piska 43 u.a.
  22. Vgl. Dtn 7,6.
  23. bSanhedrin 38a; vgl. Mayer, Talmud, S. 83.
  24. S. DtnR 2,22; es gibt übrigens noch andere Textvarianten.
  25. bSuka 55b.
  26. Midrasch Tanchuma, Be-Midbar §3; vgl. Bietenhard, Midrasch Tanhuma B, 2, S.195f.
  27. S. GenR 1,5.
  28. Mechilta de Rabbi Jischmael, Jitra, ba-chodesch, § 1; ed. Horovitz/Rabin S. 205; A. Wünsche, Mechiltha, S. 193.
  29. bSchabbat 88b.
  30. Jalkut Schimoni, Jesaja, 429.
  31. Mischne Tora, Hilchot Teschuwa, 5,2; vgl. Maimonides, Die Hilchoth Teschubah. Die Hilchoth Deoth, übers. und komm. von B.S. Jacobson, Zürich 1988, S.29.
  32. Rabbi Meir in bBaba Kama 38a; vgl. Mayer, Talmud, S.226.
  33. Lesung von Irving Greenberg, Opening the Covenant, OJEC-Debatten und Lesungen 1, Amsterdam 1997, S.11.
  34. S. Raschi zu Dtn 7,7 und bHullin 89a.
  35. Vgl. Jehuda ha-Levi, Sefer Al Kusari, II, 36ff.
  36. L. Jacobs, A Jewish Theology, S.272.

Editorische Anmerkungen

QUELLE: Begegnungen. Zeitschrift für Kirche und Judentum. Heft Nr. 4, 2002