Interreligiöser Dialog: Religion zu einem Teil des israelischen Friedens im Nahen Osten machen

Ein Gespräch mit Rabbiner Dr. Yakov Nagen.

Wie kam Rabbiner Dr. Yakov Nagen, ein bescheidener, jungenhaft aussehender 55-jähriger Talmud-Gelehrter aus Otniel, einer kleinen Sied lung südlich von Hebron, dazu, sich an interreligiösen Aktivitäten zu beteiligen, sich mit mus li mischen Religionsführern zu treffen, durch die Welt zu reisen und eine Botschaft des Friedens, der Liebe und der Toleranz zwischen Muslimen und Juden zu verbreiten?

»Ich liebe Menschen«, antwortet Nagen mit einem breiten Lächeln. »Ich habe daraus eine Weltanschauung und Theologie gemacht.« Nachdem ich Nagen an einem Jerusalemer Morgen fast eine Stunde lang getroffen habe, kann ich diese Aussage nicht bestreiten. Er liebt die Menschen aufrichtig.

Liebe zur Menschheit und Berufung zur interreligiösen Arbeit

Ein weiterer wichtiger Faktor für seine Hinwendung zur interreligiösen Arbeit war seine enge Freundschaft mit Rabbiner Menachem Froman (1945–2013), Oberrabbiner von Tekoa, der dafür bekannt war, den interreligiösen Dialog zwischen Juden und Arabern zu fördern und anzuleiten.

»Eine der großartigen Erkenntnisse von Rabbi Froman«, sagt Nagen, »war: ›Wenn Religion Teil des Problems ist, muss sie Teil der Lösung sein.‹«

Nagen geht dann auf das von seinem Mentor zum Ausdruck gebrachte Potential der Religion ein, zu spalten oder zusammenzubringen, und formuliert: »Wenn ich glaube, dass meine Religion eine wahre Religion und mein Gott ein wahrer Gott ist, und der andere einer falschen Religion oder dem falschen Gott folgt, können sich unsere religiösen Zugehörigkeiten gegeneinander aufbringen.«

»Aber wenn ich glaube, dass derselbe Gott, an den ich glaube, den ich liebe, zu dem ich bete und von dem ich glaube, dass er mich liebt, derselbe Gott ist, der den anderen liebt – dem er sich verpflichtet versteht und zu dem er betet – dann ist da etwas, das uns miteinander verbindet. Bringen uns unsere religiösen Identitäten gegeneinander auf oder verbinden sie uns miteinander?«

Nagen wurde in Manhattan geboren und studierte an der New Yorker Yeshiva University, wo er 1993 zum Rabbiner ordiniert wurde. Im selben Jahr vollzog er die Alijah [wanderte in Israel ein], studierte am Yeshivat Har Etzion und trat 1997 der Fakultät der Hesder Yeshiva in Otniel bei. 25 Jahre lang lehrte er dort Talmud und Halacha (jüdisches Recht). Nagen promovierte an der Hebräischen Uni versität in Jerusalem und hat sechs Bücher und zahlreiche Artikel über jüdische Spiritualität, Talmud und interreligiöse Beziehungen geschrieben.

Während er immer noch auf Teilzeitbasis in Ot niel unterrichtet, widmet Nagen heute den größten Teil seiner Zeit der Verbesserung der interreligiösen Beziehungen. Im Jahr 2020 wurde er Direktor des Blickle-Instituts für interreligiösen Dialog von Ohr Torah Stone und zum Leiter des Beit Midrash for Judaism and Humanity ernannt.

Als Direktor des Blickle-Instituts konzentriert sich Nagen vor allem auf die jüdisch-muslimischen Beziehungen. Seiner Meinung nach gibt es drei konzentrische Themenfelder von existenzieller Bedeutung: das Verhältnis des Staates Israel zu der in Israel lebenden nichtjüdischen Minderheit, der israelisch-palästinensische Konflikt und Israels Rolle im Nahen Osten.

»2000 Jahre lang befand sich das jüdische Volk in einer Art Überlebensmodus«, so Nagen. »Ein Teil der Realität eines in der Welt zerstreuten Volkes, besteht darin, große Mauern zu bauen, um uns zu schützen. Irgendwann müssen wir vom Überlebensmodus in den Visionsmodus wechseln.«

Nagen weist darauf hin, diese Schwerpunktverlagerung erfordere, dass das jüdische Volk seine vielfältigen Beziehungen zur Welt berücksichtigt. »Wenn der Zionismus sagt, dass das jüdische Volk eine aktive Rolle beim Aufbau unserer Zukunft spielen soll und ein Teil der Zukunft für das jüdische Volk die Rückkehr nach Zion ist, dann besteht ein Teil der Vision für das jüdische Volk auch darin, unsere Beziehungen zur Welt zu heilen und den Aufbau von Partnerschaften mit der Menschheit zu forcieren, gerade wegen unserer religiösen Überzeugung.«

Das Blickle-Institut bildet Personen aus, die dazu beitragen können, Veränderungen in den jüdisch-muslimischen Beziehungen voranzubringen. Jedes Jahr wählt das Institut eine Gruppe von sechs Männern und sechs Frauen aus – führende Pädagogen und rabbinische Persönlichkeiten aus der jüdischen Community – die sich regelmäßig treffen und interreligiöse Themen diskutieren. Darüber hinaus treffen sie auf Vertreterinnen und Vertreter der islamischen und christlichen Gemeinschaften in Israel sowie auf andere Gruppen.

In Nagens Worten: »Wir verbringen einen ganzen Tag in Kafr Kassem, dem Geburtsort der islamischen Bewegung. Wir gehen in die Schulen und Moscheen und treffen deren Leiter. Außerdem verbringen wir einen ganzen Tag in Rahat, der größten muslimischen Beduinenstadt, wo wir uns die Schule ansehen, und die Kinder und örtliche Repräsentanten treffen, um einen Einblick und ein Verständnis für die Komplexitäten der jüdischmuslimischen Beziehungen zu bekommen.«

Im Rahmen seiner Aufgaben im Blickle Center hält Nagen landesweit Vorträge und vernetzt sich mit anderen Organisationen.

Das Ohr-Tora-Stein Beit Midrash for Judaism and Humanity, erklärt Nagen, entwickelt neue Denkweisen und Paradigmen für die Entwicklung von Ansätzen für die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden.

Das Beit Midrasch, das sich auf dem Machanajim-Campus in Efrat befindet, umfasst als Lehrende Rabbiner Nagen, Rabbiner Sarel Rosenblatt, Dr. Asaf Malach und Rabbanit Michal Tikochinsky. Das erste vom Beit Midrasch herausgegebene Werk »And His Name Will Be One – Healing Judaism’s Relations with World Religions«, das das Verhältnis des Judentums zu anderen Religionen analysiert, wurde 2022 veröffentlicht. Die Lehrerschaft des Beit Midrasch bereitet derzeit einen zweiten Band vor, in dem erörtert wird, wie der Staat Israel mit der im Land lebenden nichtjüdischen Minderheit umgehen sollte. Diese beiden Bände wurden auf Hebräisch verfasst, englischsprachige Übersetzungen sind geplant.

Für Nagen hatte das Wort »Heilung« im Buchtitel eine besondere persönliche Bedeutung. Ungefähr zur Zeit der Veröffentlichung des ersten Buches erlitt er eine Gehirnblutung, nachdem er von einer Auslandsreise nach Hause zurückgekehrt war. Seine Frau brachte ihn schnell zum Hadassah University Medical Center im Jerusalemer Stadtteil Ein Kerem, wo eine Notoperation durchgeführt wurde. In der gesamten jüdischen Welt, in und außerhalb Israels, wurde für seine Genesung gebetet.

Nagen stellt fest: »Überall auf der Welt beteten nicht nur meine jüdischen Brüder und Schwestern, sondern meine Frau nahm auch Kontakt zu Muslimen und Christen auf. Von ihnen kam eine bewegende und überwältigende Response in Form von Gebeten, die schließlich angenommen wurde.«

Nagen hat sich vollständig von seiner Krankheit erholt und versucht weiter unerschütterlich, mit der muslimischen Welt in Kontakt zu treten und die Religion zu nutzen, um Menschen zusammen zu bringen. Er stellt sich die Annäherung zwischen Judentum und Islam ähnlich vor, wie christlicherseits mit Nostra aetate (»In unserer Zeit«), der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1965, in der es heißt, dass die Juden nicht für den Tod Jesu verantwortlich seien, die Antisemitismus verurteilte, ebenso jede katholische Lehre, die solche falschen Überzeugungen fördern würde. Nostra aetate hat seit seiner Veröffentlichung wesentlich zur Verbesserung der jüdisch-katholischen Beziehungen beigetragen.

»Mein großer Traum ist«, so Nagen, »so wie die katholische Kirche ihre Beziehungen zum Judentum neu überdacht hat, brauchen wir eine jüdisch-muslimische Parallele.«

Die Beziehungen des Islam zum Judentum überdenken

Als Nagen eine Einladung zur Teilnahme am Indonesien-Religionsforum auf Bali erhielt, ergriff er die Gelegenheit.

Indonesien ist das viertgrößte Land und gleichzeitig das größte muslimische Land der Welt. Das Forum fand im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel statt, der zwei Wochen später ebenfalls in Indonesien abgehalten wurde.

Gastgeber des Indonesia Religion Forum war Nahdlatul Ulama, eine islamische Organisation in Indonesien mit fast 100 Millionen Mitgliedern, zusammen mit der Muslim World League mit Sitz in Saudi-Arabien.

Nagen war angenehm überrascht von dem freundlichen Empfang, der ihm auf der Konferenz zuteil wurde.

»Indonesiens Motto lautet ›Einheit in Vielfalt‹, und ich hatte das Gefühl, dass sie auch machen, was sie predigen«, stellt er fest. »Überall, wo ich hinkam, begegnete mir Wärme und Freundlichkeit. Es war beispiellos im Vergleich zu dem, was ich anderswo gesehen habe.«

Vierhundert Religionsführer nahmen an der Konferenz teil, bei der der Schwerpunkt vor allem auf dem Islam lag, an der aber auch Repräsentanten anderer Religionen teilnahmen. Drei Juden waren anwesend: Rabbiner Nagen, Prof. Alan Brill, ein bekannter Wissenschaftler, der zum interreligiösen Dialog forscht und lehrt, und Silvina Chemen, eine konservative Rabbinerin aus Argentinien. Nagen war der einzige Teilnehmer der Konferenz aus Israel. Da Israel keine diplomatischen Beziehungen zu Indonesien unterhält, reiste er mit seinem US-Pass in das Land ein.

Nagen wurde gebeten, einen palästinensischen Teilnehmer für die Konferenz vorzuschlagen, und er empfahl wärmstens seinen engen Freund Mohammed Dajani, einen Friedensaktivisten und ehemaligen Professor der Al-Quds-Universität. Er ist vor allem dafür bekannt, dass er die erste Gruppe palästinensischer Studenten dazu brachte, das Museum in Auschwitz zu besuchen, um die Bedeutung des Holocaust besser zu verstehen.

Nagen berichtet, dass der Dialog auf der Konferenz aufrichtig und auf hohem Niveau war. »Ich hatte das Gefühl, dass sie echte Verantwortung für die eigenen Probleme übernahmen, die Vielfalt in der Welt wirklich anerkennen, die, weil sie von Gott kommt, wir lernen müssen, zu akzeptieren.«

Er war besonders beeindruckt von den Beiträgen von Muhammad bin Abdul Karim Issa, dem Generalsekretär der Muslimischen Weltliga. Er sagte, dass Menschen vergeben müssen, um Toleranz zu erreichen, andernfalls würden sie an ihrer Wut festhalten.

Religiöse Juden, die am Schabbat an Fachkonferenzen teilnehmen, erleben gelegentlich unangenehme Momente. Nagen erzählt von einer amüsanten, aber letztlich bedeutungsvollen Episode, die sich am Schabbat in Indonesien zugetragen hat:

Aus Respekt entschloss er sich, am Schabbat an den Sitzungen teilzunehmen, hielt sich aber zurück. Während einer der Sitzungen, an der Hunderte von Menschen in einem großen Ballsaal teilnahmen, rief ihn einer der Redner ans Podium und sagte: »Rabbiner Nagen, bitte erzählen Sie von unserem Gespräch, das wir zusammen geführt haben.«

Nagen hatte keine andere Wahl, als die Bühne zu betreten und zu sprechen. Er rief seine Worte zum Publikum, da er das Mikrofon nicht benutzte, weil Schabbat war.

»Das Ausrufen meiner Worte machte einen großen Eindruck«, erinnert er sich. »Einer der muslimischen Teilnehmer stand auf und sagte: ›Ich bin so bewegt, einerseits einen Rabbiner zu sehen, der so tief in der Tradition verwurzelt, aber andererseits so offen ist.‹«

Was war das Thema des denkwürdigen Gesprächs, das Nagen an diesem Schabbat führte? Er erklärt: »Sie hatten mich gebeten, dass, wenn wir davon sprechen, wir müssten unsere Traditionen überdenken, nicht den Ausdruck ›reformieren‹ verwenden sollen, weil ›Reformation‹ impliziert, dass wir das ablehnen, was wir für heilig halten. Ein Teil der Herausforderung besteht darin, Quellen zu kontextualisieren und mit neuen Augen zu betrachten. Dies sind die Tools, die wir nutzen sollten, um unsere Traditionen zu überdenken, gleichzeitig aber unsere Loyalität und unsere heiligen Worte bewahren, nur mit neuen Augen und neuen Ohren, um die Stimme Gottes zu hören, die zu uns spricht, um Brücken und Verbindungen und gegenseitigen Respekt zu schaffen, damit wir alle erkennen, dass dies der Wille Gottes ist.«

Ein Beispiel für eine solche Neubetrachtung der Tradition findet sich in einem Artikel von Nagen, der kürzlich in der Schabbat-Beilage der hebräischsprachigen Zeitung Makor Rischon erschien. Darin analysierte Nagen den Ansatz des jüdischen Rechts, die Übertretung der Schabbatgesetze zu erlauben, um das Leben eines Nichtjuden zu retten.

Während das jüdische Gesetz das zweifelsohne zulässt, tun dies die meisten rabbinischen Autoritäten unter Bezug auf das Konzept von Eiwa, also um Feindseligkeit seitens der Nichtjuden zu vermeiden.

In einer ausführlichen Analyse kommt Nagen letztlich zu dem Schluss, dass der eigentliche Grund, warum es erlaubt ist, den Schabbat zu verletzen, um das Leben eines Nichtjuden zu retten, in der Tatsache begründet ist, dass menschliches Leben – jüdisches oder nichtjüdisches – in den Augen Gottes gleichermaßen wertvoll ist.

Während seines Besuchs in Indonesien erregte Nagen als Rabbiner und als einziger anwesender Israeli große Aufmerksamkeit in den Medien. In seinen Interviews vertrat er die Meinung, dass sich Indonesien den Ländern, die das Abraham-Abkommen unterzeichnet haben, anschließen sollte.

Während einige der Meinung sind, dass die Unterzeichnung der Abkommen bedeuten würde, dass sich ein Land für die israelische Seite auf Kosten der palästinensischen entscheidet, sagt Nagen, dies sei nicht der Fall.

»Wir haben einen Konflikt und beide Seiten leiden«, formuliert er. »Der Beitritt zum Abraham-Abkommen wird dazu beitragen, eine Atmosphäre des Friedens zu schaffen, von der beide Seiten profitieren.«

Um seinen Standpunkt zu untermauern, erwähnte Nagen einen Freund aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, der Jerusalem besuchte, nachdem die Abkommen unterzeichnet worden waren, und den Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate, Scheich Mohamed bin Zayed Al Nahyan, überzeugte, eine Spende in Höhe von 25 Millionen US-Dollar zur Unterstützung eines palästinensischen Krankenhauses in Ostjerusalem zu geben.

Nagen wiederholt sein Mantra, dass Religion Teil der Lösung werden soll, und fügt hinzu: »Das Abraham-Abkommen basiert auf einer gemeinsamen Identität. Religion muss Teil der Lösung sein, und ein Teil der Lösung besteht darin, einander zu respektieren und auf Teile unseres gemeinsamen Erbes zu verweisen. Indonesien kann dabei eine Rolle spielen.«

Kurz nach seiner Rückkehr aus Indonesien machte sich Nagen erneut auf den Weg und reiste dieses Mal Anfang Dezember für die N7-Initiative nach Rabat, Marokko, zu einem Treffen für israelische und arabische Experten aus den Bereichen Bildung und Kultur. Die erste einer Reihe von Konferenzen hatte das Ziel, die regionale Zusammenarbeit zwischen Israel und den Unterzeichnern des Abraham-Abkommens zu stärken.

Nach Aussage von Nagen wurde er zu der Konferenz eingeladen, um den interreligiösen Teil des Arbeitspapiers zu den Themen Bildung und Zusammenleben vorzubereiten, das den Außenministerien der sieben Länder vorgelegt wurde. Er trug während der Konferenz in den Straßen von Rabat eine Kippa und sagte, die Menschen hätten ihn von ihren Fenstern aus herzlich mit »Schalom « begrüßt.

In Marokko erlebte Nagen seinen »Martin Luther King–Ich habe einen Traum«-Moment. Nachdem er Indonesien mit Respekt für das Land und den dort praktizierten Islam verlassen hatte, wandte er sich an die Versammelten und sagte: »Ich habe den Traum, dass Marokko ein Ort sein kann, an dem sich alle Seiten – Juden und Muslime – wohlfühlen. Vielleicht könnte Marokko, in Partnerschaft mit Indonesien, der Schauplatz für einen historischen Durchbruch zwischen Juden und Muslimen sein und eine historische Heilung der jüdisch-muslimischen Beziehungen erleben.«

Eine interreligiöse Versöhnung zwischen Muslimen und Juden könne nicht nur zwischen Männern erreicht werden, fügt Nagen hinzu. Auch Frauen müssten einbezogen werden. Er weist darauf hin, dass Frauen ein integraler Bestandteil des Blickle-Instituts sind, und erwähnt, dass Tikochinsky eine der Gelehrten im Beit Midrasch und Rabbanit Devorah Evron die Moderatorin der Fellows im Blickle-Institut ist, von denen die Hälfte Frauen sind.

In Marokko stellte Sarah Cohen, die Beraterin des Oberrabbiners des Jüdischen Verbands der Emirate, fest, die Menschen würden immer das Abraham-Abkommen erwähnen. Vielleicht sollte es, nach den Frauen Abrahams, auch »Sarah-und-Hagar-Abkommen« genannt werden, schlug sie vor.

»Auf dem Weg, der vor uns liegt«, sagt Nagen, »können wir es nicht alleine schaffen.Wir brauchen die kraftvollen Symbole von Abraham, Isaak und Ismael, Sarah und Hagar. Mit diesen Symbolen zusammen können wir vielleicht die Welt verändern.«

Während unseres Interviews brodelte ein schwieriger Punkt unter der Oberfläche, und Nagen ist sich des Dilemmas voll und ganz bewusst: Wie kann man seine Ansichten von Liebe und Harmonie mit den zahlreichen Terroranschlägen muslimischer Extremisten in Einklang bringen, die zum Tod so vieler Menschen geführt haben? Und wie die Gewalttaten von Juden gegen Araber?

In den letzten Jahren erlebte Otniel zahlreiche tragische Terroranschläge. Im Dezember 2002 ermordeten zwei Palästinenser während des Freitagabendessens in der Jeschiwa vier Studenten, die in der Küche Dienst taten. Im Januar 2016 wurde Dafna Meir, eine Krankenschwester und Mutter von sechs Kindern, in ihrem Haus von einem Palästinenser ermordet. Und im Juli desselben Jahres wurde Rabbiner Miki Mark, der Direktor der Jeschiwa in Otniel, bei einer Schießerei aus einem vorbeifahrenden Auto ermordet. Nagen ist verantwortlich für die Gedenkgottesdienste, die jährlich in der Jeschiwa in Otniel stattfinden.

Gleichzeitig hat sich Nagen gegen Gewalttaten jüdischer Bürgerwehren gegen Araber ausgesprochen. Im Jahr 2015 half er bei der Leitung einer gemeinsamen jüdischen und arabischen Gebetswache an der Gusch Ezion Kreuzung nach dem Molotowcocktail-Angriff im arabischen Dorf Duma, bei dem der 18 Monate alte Ali Saad Dawabsha getötet und seine Eltern und sein Bruder schwer verletzt wurden.

Nagen ist sich der Komplexität des Themas voll bewusst: »Ich bin der Letzte, der behauptet, dass die Realität rosig ist. Naivität ist, wenn wir eine komplexe Realität haben und nur eine Dimension sehen. Die Herausforderung für die israelische Gesellschaft ist ein Problem der Naivität, aber nicht das Problem der Naivität, das Positive in einer komplexen Realität zu sehen, sondern das Negative. Es liegt in meiner Verantwortung, zu versuchen, die Welt in eine bessere Richtung zu lenken. Die wichtige Frage lautet: Was kann ich tun, um die Welt zu verändern und einen Schritt zu machen, um die Realität ein wenig besser zu machen? Die Welt ist kaputt und krank. Was können wir tun, um die Heilung zu fördern, um zu erkennen, dass selbst ein kleines bisschen Fortschritt letztlich ein Fortschritt ist.«

Angesichts dieser Komplexität können seiner Auffassung nach die Menschen die negativen Aspekte und die Probleme nicht ignorieren, aber müssen auch die Möglichkeiten und positiven Auswirkungen der Beziehungen mit anderen berücksichtigen. Andernfalls, sagt er, »befinden wir uns in einer Sackgasse ohne Zukunft und ohne Hoffnung. « Nagen lässt die Realität der Welt nicht außer Acht. »Es gibt Terror auf der Welt, es gibt Antisemitismus auf der Welt, es gibt Hass auf der Welt – all das ist wahr. Aber was können wir tun, um Dinge zu ändern, um die Probleme zu lösen? Wir müssen uns mit den Problemen auseinandersetzen.«

Er war berührt von den Eröffnungsworten jeder Veranstaltung der Konferenz in Indonesien, als der Moderator in drei Sprachen sagte: »Willkommen. Salaam Aleikum. Schalom.« Für Nagen zeigt das, dass die Welt großes Interesse am jüdischen Volk hat.

»Ja, es gibt eine Seite, die Hass und Antisemitismus hegt, aber ein Teil dieser Besessenheit gegenüber dem jüdischen Volk hat auch eine positive Seite. Wenn wir das Gefühl haben, dass wir nicht Teil der Welt sind und wir sie ausschließen können und alle gegen uns sind, verpassen wir Chancen.«

Am Ende unseres Gesprächs erwähnt Nagen, dass Jakob sich auf drei Arten auf die Begegnung mit seinem Bruder Esau vorbereitet hat – durch Gebet, Vorbereitung auf den Krieg und Vorbereitung eines Geschenks als Form der Versöhnung. »Er ließ nicht locker«, sagt Nagen, aber letztendlich war es der Aspekt der Versöhnung, der zu der bewegenden Begegnung mit Esau führte. Lächelnd endet er: »Ich bekomme Ratschläge von meinem Namensvetter, Jakob.«

Editorische Anmerkungen

Alan Rosenbaum berichtet für die Jerusalem Post über eine Vielzahl von Themen, von der beliebten Kolumne Veteranen/ Neuankömmlinge im Freitagsmagazin bis hin zu Beiträgen, Werbetexten und der Berichterstattung über Jpost-Konferenzen. Vor seiner journalistischen Laufbahn war er 30 Jahre lang Vizepräsident der Davka Corporation, die bei der Entwicklung hebräischer und jüdischer Software Pionierarbeit geleistet hat. Alan Rosenbaum hat den Bachelor-Abschluss in Politikwissenschaften der Northeastern Illinois University, einen Master- Abschluss in Verwaltung des Spertus Institute for Jewish Learning and Leadership und eine Rabbinerausbildung des Hebrew Theological College in Skokie, Illinois. Geboren und aufgewachsen in Chicago, lebt er seit 1996 in Israel.

Rabbiner Dr. Yakov Nagen ist Direktor des Ohr Torah Stone’s Blickle-Institute for Interfaith Dialogue und des Beit Midrash for Judaism and Humanity. Er ist ein bedeutender Multiplikator für interreligiöse Friedensinitiativen zwischen Juden und Muslimen in Israel.

Der Beitrag wurde von Rabbiner Dr. phil. Jehoschua Ahrens, Frankfurt am Main, ins Deutsche übersetzt.

Quelle: Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext (ZfBeg), Themenheft 2023