Im Namen Gottes:
Gesetz als religiöse Kategorie
In Real Presences versichert der bedeutende Literarkritiker George Steiner, dass die Grundlage aller ästetischen Wertung die Annahme ist, dass Gott existiert.1 Ohne diese Voraussetzung kann im Leben des einzelnen oder der Gesellschaft nichts Bedeutendes Sinn haben. Menschliches Schaffen hat nur dann Sinn, so Steiner, wenn es anerkennt, dass wir nach Gottes Ebenbild geschaffen sind.
Steiner ist zwar weder Theologe noch Exponent einer organisierten Religion, aber er ist durch sein Studium des kreativen Prozesses gezwungen, Gott ernst zu nehmen. Er tut dies nicht aus einer Voraussetzung a priori heraus, sondern aus unausweichlichen Schlussfolgerungen. Er schreibt: „Wo Gottes Gegenwart als Voraussetzung nicht mehr haltbar ist und Gottes Abwesenheit nicht mehr wahrgenommen wird – und zwar als überwältigende Last – sind gewisse Dimensionen des Denkens und Schaffens nicht mehr erreichbar. „Das gesprochene und geschriebene Wort ist das wichtigste Ausdrucksmittel dieser Dimensionen.“ Denn, wie Steiner es ausdrückt, „die Zivilisation ist in heiligen Texten, in Gesetzen, in der Literatur beheimatet“.2
Steiners induktive Methode, die ihn über die Wertung künstlerischer Kreativität zur Beschauung des göttlichen Wesens führt, kann viel zu dem beitragen, was uns heute hier zusammenführt. Er legt den Gedanken nah, dass es Menschen, die die Feuerprobe der Moderne durchstanden haben, möglich und sogar unvermeidlich ist, das Sein Gottes zu bestätigen. Dies nicht, weil wir durch diese oder jene Einrichtung oder Vereinigung programmiert wurden so zu tun, wie es in der vormodernen Zeit geschah, sondern weil wir ehrlich und sorgfältig die Texte, auf denen unsere Kultur gründet, zu verstehen suchen.
Der empfindsame Dichter wird so zum Propheten und der einsichtige Rechtsanwalt zum Priester. Ich erinnere Sie hier an Ihre priesterliche Berufung. Sie als Rechtsanwälte und ich als Rabbiner üben die gleiche Tätigkeit aus. Unsere heutige Begegnung in dieser Kultstätte ist mehr als eine Verbeugung vor einem alten Brauch.
Ich spreche aus einer Überlieferung, in der man schon immer die Aufgabe der Rechtsprechung im Bund zwischen Menschheit und Gott verwurzelt sah. In dieser Ordnung der Dinge ist die Rechtspraxis als religiöse Tätigkeit aufgefasst. Die scheinbare Mehrzahl des hebräischen Wortes Elohim bedeutet sowohl ‚Gott‘ als auch die ‚Richter‘. Wenn immer es in der Schrift verwendet wird, versteht es die rabbinische Überlieferung als auf die göttliche Eigenschaft des Rechts bezogen. Wir können daher folgern, dass wo immer Recht geübt wird, Gott gegenwärtig ist. Die Rechtspraxis ist religiöse Tätigkeit.
Die Gleichsetzung des Rechtlichen mit dem Göttlichen ist, nebenbei bemerkt, ein Grund weshalb die Feinde des Judentums die Torah, das jüdische Lehrgebäude, herabzusetzen versuchen, indem sie es als „bloßes Gesetz“ beschreiben und das Judentum als eine Religion des Gesetzes. Was diese Kritiker allerdings verkennen ist, dass nicht etwa Gottes Wort auf Gesetz reduziert wird, sondern das Recht ins Reich des Heiligen erhoben wurde.
Auf dieser Grundlage wollen wir nun einen Satz der Torah bedenken, der beginnt: „zedek, zedek tirdof...," dem Recht, dem Recht sollst du nachjagen, damit du gedeihst und das Land in Besitz nimmst, das der Herr dein Gott dir gibt‘ (Deuteronomium 16,20). In der Annahme, dass in der Schrift kein Wort unnütz oder überflüssig ist, haben die jüdischen Weisen gefragt, warum das Wort zedek, ‚Recht oder Gerechtigkeit‘, wiederholt wird. Da es zwei grammatische Formen haben kann, lasen sie den Vers folgendermaßen: ‚Recht sollst du durch das Mittel des Rechts suchen.‘ Die göttliche Qualität des Rechts ist nur dann wirksam, wenn die von Menschen geschaffenen Werkzeuge des Rechts – die Gesetze – gerecht sind. Auf diese Weise ist jede mögliche Trennung zwischen dem Anstreben von Recht und der Anwendung des Gesetzes ausgeschlossen. Der Unterschied zwischen Moralität und Legalität ist aufgehoben. Der Kleriker und der Rechtsanwalt stehen nicht gegeneinander, sondern sind tatsächlich dieselbe Person. Das Gesetz als Schöpfung des menschlichen Gesetzgebungsvorgangs ist nur dann authentisch, wenn es Antwort auf das göttliche Gebot ist.
Dies mag sich wie eine Wiederholung der alten Lehre anhören, die jedes Spezialfach zur Magd der Theologie machen wollte. Ich versuche jedoch das Gegenteil zu sagen. Ich gebe zu, dass die überkommenen religiösen Einrichtungen unangemessen sind, weil sie in der Moderne weitgehend aufgehört haben, das menschliche Leben zu beherrschen. Sogar das Ritual ist säkularisiert worden: Immer mehr Menschen bezeugen, einen Sinn für das Heilige und Transzendente im Stadion oder Einkaufszentrum statt in Kirche und Synagoge zu finden. Ein Gerichtsgebäude flößt mehr Ehrfurcht ein als ein Kultgebäude oder Gotteshaus.
Wir leben in einer nachmodernen Welt. Die Moderne verursachte Säkularisierung und Entfernung von der überkommenen Religion. Die nachmoderne Zeit hat uns entdecken lassen, dass Gott nicht tot ist, obwohl manche religiösen Einrichtungen nach Luft schnappen, sondern dass Gott gegenwärtig ist in allem was wir sinnvoll tun. Und dies schließt ganz sicher auch das Rechtswesen ein.
Das traditionelle Diplom eines Rabbiners schließt mit den Worten: „Er möge lehren, er möge lehren; er möge Recht sprechen, er möge Recht sprechen.“ Sie spiegelten die vormoderne Zeit wieder, in der das Gesetz ins Reich der Religion gehörte. Das Rabbinerseminar in Britannien, das mich ordinierte, hat die Worte: „Er möge Recht sprechen, er möge Recht sprechen“ weggelassen. Ich erhebe keinen Anspruch auf rechtliche Fachkenntnisse. Als Erzeugnis der Moderne besteht meine einzige Qualifikation in der eines Lehrers jüdischer Überlieferung; ich erkenne an, dass die Rechtsprechung von anderen besorgt wird.
Das Fehlen wirklicher Autorität hat mir ein Maß von Freiheit gegeben, doch hat es mich auch als Vertreter einer organisierten Religion an den Rand der Gesellschaft verwiesen. Ich kann immer noch Texte studieren und sie erklären, habe aber keine Macht, den rechtlichen Handlungsablauf zu entscheiden. Statt jedoch verstiegene Kämpfe zwischen religiösen Lehren und der Gesetzgebung zu führen, möchte ich lieber gemeinsame Sache machen: Das Lehren und die Rechtsprechung, wenn schon nicht in derselben Person, so doch in einer gegenseitig nützlichen Partnerschaft wiederherstellen.
Ich glaube dass die nachmoderne Zeit mit ihrer neuen Gottbejahung uns dieser Partnerschaft näher bringt, dass die Überlieferungen von denen die Priester, die Imame und Rabbiner sprechen, den Gestaltern unserer Gesellschaft etwas zu sagen haben, nicht mehr in machtloser prophetischer Mahnung, sondern in angemessener priesterlicher Führung und Zusammenarbeit. Wir können nicht zur vormodernen Vergangenheit zurückkehren, und wir dürfen uns von der modernen Gegenwart nicht gefangennehmen lassen. Wir müssen über beide hinaus in eine nachmoderne Zukunft gehen, in der Zusammenarbeit an die Stelle von Wettbewerb und Streit tritt.
In dieser Zukunft sind wir gehalten, unsere gemeinsame Aufgabe nicht nur in dem zu sehen, was annehmbar und machbar, sondern in dem, was ewig gültig ist, erklärt und angewandt auf den jeweils gegebenen Augenblick. Gesetz kann weder in Religion eingeschlossen noch von ihr getrennt werden; es ist Aufgabe des Gesetzes, göttliche Wahrheit in menschlicher Anwendung zu reflektieren.
In meiner Tradition ist Naturgesetz unveränderlich übernatürlich. „Dies ist tatsächlich der kennzeichnende Beitrag der Denker Israels zur Diskussion um das Naturrecht“, schreibt William A. Irwin. „Für sie war es nicht eine verantwortungslose Kraft, die in irgendeiner blinden Weise, vielleicht sogar segensreich, menschliche Antriebe beeinflusste.“ Und er fährt fort: „Es war Gott in seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit, der dem sündigen Menschen seinen Willen und des Menschen hohe Bestimmung offenbarte und sein einziges Glück im Gehorsam dieser Bestimmung gegenüber. Daraus ergibt sich alles, was für hebräische Ethik kennzeichnend ist.“3 Wie der Literarkritiker menschliche Rede nicht als Spiel mit Wörtern, sondern als von transzendenter Bedeutung auffasst, so anerkennt der Rechtsanwalt, dass die Behandlung menschlicher Angelegenheiten nicht eine Sache von Konvention und Politik ist, sondern eine Sache des Willens Gottes, offenbart in den Texten, die diese Angelegenheiten regeln. Wenn diese Texte altertümlich erscheinen, liegt das mit Steiners Worten daran, dass „sie den Puls der entfernten Quelle in sich tragen“.4
Der Wille des Volkes, der sich im demokratischen Prozess ausdrückt, hat natürlich erstrangige Bedeutung. Doch mit Steiner müssen wir „die amerikanische Neigung, die Ewigkeit zu demokratisieren“ zurückweisen und sagen, dass Gott zu uns spricht, wenn wir Recht mit Recht anstreben.5 Auf diese Weise halten wir das Gesetz nicht nur aus politischen Manipulationen heraus, sondern stellen es in den Bereich über der Politik, in dem sich auch die Religion befindet. Religion und Gesetz müssen zwar dem politischen Prozess unterworfen sein, doch werden sie verdorben, wenn sich in ihnen selbst politische Macht ausbreitet.
Weder die moderne Welt noch ihr Vorgänger wusste solchem Eindringen politischer Macht zu widerstehen, und viele Tragödien der Geschichte waren das Ergebnis. Wird die nachmoderne Welt es besser verstehen? Die Aussicht auf eine Teilung der Verantwortung zwischen dem Lehren des Wortes Gottes und der Verwaltung der Gesetze Gottes im demokratischen Staat, verbunden mit der Wahrnehmung, dass die Handelnden in beiden Aufgaben einander benötigen, mag dazu berechtigen, diese Frage mit einem kräftigen „Ja" zu beantworten. Es ist durchaus möglich, dass wir in ein neues Zeitalter eintreten, in dem die künstliche Schranke zwischen dem Göttlichen und Menschlichen, dem Religiösen und Weltlichen durch eine diffusere aber genauere Unterscheidung zwischen dem Heiligen und dem Noch-nicht-Geheiligten ersetzt wird.
Anmerkungen
1. George Steiner, Real Presences (London: Faber and Faber, 1989).
2. Ibid.
3. William A. Irwin, The Old Testament. Keystone of human Culture (London: Abelard Schuman, 1959), 149.
4. Steiner, 28.
5. Ibid., 33.