Im Dienst der jüdisch-katholischen Verständigung

Rede bei der Tagung der Vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen mit dem Judentum mit ihren Konsultoren und den Delegierten einzelner Bischofskonferenzen für den Dialog mit den Juden in Rom am 29. Oktober 2012.

Liebe Mitbrüder im bischöflichen und priesterlichen Dienst,

sehr geehrte Professoren, Konsultoren und Delegierte der Bischofskonferenzen,

Zur Plenaria der Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum begrüsse ich Sie ganz herzlich und danke Ihnen für Ihr Kommen und die damit erneut bekundete Zusammenarbeit. Vollversammlungen unserer Kommission sind eher selten, und sie werden nicht in einem bestimmten Zeitrhythmus abgehalten, sondern je nach Gelegenheit und speziellen Anlässen einberufen. Die erste Versammlung dieser Art fand im Jahre 1982 statt, die zweite anlässlich des vierzigjährigen Jubiläums der Promulgation von Nostra aetate (Nr. 4) im Jahr 2005. Zum dritten Mal organisiert unsere Kommission jetzt ein derartiges Treffen, weil ich ihr nunmehr seit über zwei Jahren als Präsident vorstehe und gerne auch persönlich die Konsultoren und Delegaten einzelner Bischofskonferenzen für den Dialog mit dem Judentum kennen lernen und mit ihnen ins Gespräch kommen möchte. Neben einem brüderlichen Austausch zur allgemeinen Situation des jüdisch-katholischen Dialogs auf Weltebene gibt es auch einige Sachthemen zu besprechen, die meines Erachtens für einen gelingenden Dialog mit den „Vätern unseres Glaubens“, wie Papst Benedikt XVI. die Juden bezeichnet hat, von Bedeutung sind. Meine Ausführungen in dieser Prolusio möchte ich aber mit einem kurzen Rückblick auf die konziliare Erklärung Nostra aetate (Nr. 4) beginnen, da diese von Anfang an die Richtung und die Grundstruktur des Dialogs mit den Juden vorgegeben hatte.

1. Nostra aetate (Nr. 4) als bleibende Kompass des jüdisch-katholischen Dialogs

In der vielfältigen Diskussion um eine mögliche Wiederaufnahme der Priesterbruderschaft St. Pius X. in die Römisch-katholische Kirche wurde nicht nur von jüdischer Seite die Bedeutung und Wertigkeit der konziliaren Erklärung Nostra aetate (Nr. 4) angefragt. Juden befürchteten, dass durch diesen möglichen Akt der Eingliederung einer Reihe von womöglich antijudaistisch eingestellten Priestern und Gläubigen, die im Grunde Nostra aetate ablehnen, die Katholische Kirche eine neue Richtung im Dialog mit dem Judentum einschlagen oder dass zumindest diese konziliare Erklärung für die gesamte Kirche relativiert werden könnte. Von katholischer Seite konnte man manchmal hören, dass das Zweite Vatikanische Konzil bezüglich seiner Texte eine Differenzierung zwischen „Constitutiones, Decreta et Declarationes“ vorgenommen hatte und Nostra aetate eben zu den „Declarationes“ gehöre, die von untergeordneter Wichtigkeit seien und deren Verbindlichkeit niedriger als die der anderen Textarten eingestuft werden könnte. Juden gegenüber beauftragte mich der Heilige Vater, die Sachverhalte richtig zu stellen: Nostra aetate stehe für das kirchliche Lehramt in keiner Weise in Frage, wie er es selbst durch seine Reden, Schriften und persönliche Gesten gegenüber dem Judentum immer wieder zum Ausdruck gebracht habe; und eine Annäherung an die Priesterbruderschaft St. Pius X. bedeute keinesfalls, dass deren Positionen akzeptiert oder unterstützt würden. Was die verschiedenen konziliaren Textarten betrifft, kann man zwar auf der formalen Ebene eine Unterscheidung treffen; in inhaltlicher Sicht kann man sie aber nicht voneinander trennen oder gegeneinander stellen; vielmehr müssen alle Texte – Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen – in ihrer gegenseitigen Vernetzung betrachtet und ernst genommen werden.[1]

In der Dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium 9 und 16 und in der Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei verbum 14-16 finden sich beispielsweise grundlegende theologische Aussagen, die in Nostra aetate 4 wieder aufgenommen sind und mit ihnen korrespondieren. Nostra aetate stellt insofern bei den konziliaren Texten keinen isolierten Meteoriten dar, der gleichsam unvermittelt vom Himmel gefallen wäre und keine Querverbindungen mit anderen konziliaren Texten aufweisen würde. Papst Benedikt XVI. hat deshalb von Anfang seines Pontifikates an keinen Zweifel darüber gelassen, dass er auf dem Boden des Zweiten Vatikanischen Konzils und seinen Dokumenten in der notwendigen Zusammenschau steht. In seiner berühmt gewordenen Weihnachtsansprache vor der römischen Kurie im Jahre 2005 hat er dies unmissverständlich zum Ausdruck gebracht und auch eine entsprechende Hermeneutik der konziliaren Texte dargelegt.[2]

Nostra aetate gilt bis heute als „Gründungsdokument“ und als „Magna Charta“ des Dialogs der Römisch-katholischen Kirche mit dem Judentum. Diese Erklärung beginnt mit einer Besinnung auf das Geheimnis und die heilsgeschichtliche Sendung der Kirche und erinnert an jenes tiefe Band, mit dem das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamm Abrahams in geistlicher Weise verbunden ist. Sie betont dezidiert, dass Geringschätzung, Herabwürdigung und Verachtung des Judentums auf jeden Fall vermieden werden müssen, und hebt nicht zuletzt deshalb die jüdischen Wurzeln des Christentums explizit hervor. Zudem wird der pauschale Vorwurf zurückgewiesen, der bedauerlicherweise an verschiedenen Orten über die Jahrhunderte hin angedauert hat, die Juden seien „Gottesmörder“ gewesen. Von jüdischer Seite wird vor allem als positiv beurteilt, dass die konziliare Erklärung eindeutig Stellung gegen jede Form des Antisemitismus bezieht. Vor allem deshalb sind und bleiben die Juden von der Hoffnung getragen, in der Katholischen Kirche auch weiterhin einen zuverlässigen Verbündeten im Kampf gegen den Antisemitismus zu wissen, der auch in der heutigen Welt keineswegs überwunden ist.

Was konkret zur Abfassung von Nostra aetate geführt hat, lässt sich möglicherweise in drei Punkten zusammenfassen: eine Reflexion des christlichen Gewissens nach der menschlichen Tragödie der Shoah, die Entwicklungen in den Bibelwissenschaften bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil und auch die Gründung des Staates Israel im Jahre 1948. Die Verarbeitung der Shoah im christlichen Raum war gewiss eine der wichtigsten Triebfedern gewesen, die zur Abfassung dieser konziliaren Erklärung geführt haben. Eine nicht unwesentliche Rolle spielten aber auch politische und pragmatische Gründe, denn seit der Gründung des Staates Israel sieht sich die Katholische Kirche im Heiligen Land mit der Realität konfrontiert, dass sie ihr pastorales Leben innerhalb eines Staates zu entfalten hat, der sich dezidiert als jüdisch versteht. Was die theologischen Erwägungen betrifft, die in Nostra aetate als durchgängige Grundstruktur erkennbar sind, wurde in den Bibelwissenschaften vor dem Konzil immer deutlicher die Gestalt des Jesus von Nazareth im Judentum der damaligen Zeit verortet. In dieser Weise wurde das Neue Testament ganz im Rahmen jüdischer Traditionen betrachtet, und Jesus wurde als Jude seiner Zeit wahrgenommen, der sich diesen Traditionen verpflichtet gewusst hat. Diese Sicht hat Eingang in die Konzilserklärung gefunden, wenn dort mit Bezug auf den Römerbrief (9, 5) ausgesagt wird, Jesus entstamme dem Fleische nach dem Volk Israel und die Kirche halte sich gegenwärtig, „dass aus dem jüdischen Volk die Apostel stammen, die Grundfesten und Säulen der Kirche, sowie die meisten ersten Jünger, die das Evangelium Christi der Welt verkündet haben“ (Nostra aetate, Nr. 4.). Die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens in Erinnerung zu rufen und hervorzuheben, gehört deshalb seit Nostra aetate zum cantus firmus des jüdisch-christlichen Gesprächs, den der selige Papst Johannes Paul II. bei seinem Besuch der römischen Synagoge am 13. April 1986 in anschaulicher und eindrücklicher Weise mit den Worten zum Ausdruck gebracht hat: „Die jüdische Religion ist für uns nicht etwas ‚Äusserliches’, sondern gehört in gewisser Weise zum ‚Inneren’ unserer Religion. Zu ihr haben wir somit Beziehungen wie zu keiner anderen Religion. Ihr seid unsere bevorzugten Brüder und, so könnte man gewissermassen sagen, unsere älteren Brüder.“[3]

Welche Gründe und Faktoren auch immer zur Abfassung von Nostra aetate im Einzelnen geführt haben, diese Erklärung ist und bleibt der entscheidende Kompass bei allen Bemühungen um den jüdisch-katholischen Dialog. Man darf deshalb dankbar festhalten, dass diese theologische Neubestimmung des Verhältnisses der Katholischen Kirche zum Judentum in ihrer unmittelbaren Wirkungsgeschichte reiche Früchte erbracht hat. Es will scheinen, dass die Konzilsväter damals in inhaltlicher Hinsicht beinahe alles berücksichtigt haben, was sich in der nachfolgenden Dialoggeschichte als bedeutsam herausgestellt hat. Im Blick auf die Wirkungsgeschichte von konziliaren Dokumenten darf man zweifellos das Urteil wagen, dass Nostra aetate zu jenen Texten des Konzils zu zählen ist, die in einer besonders eingängigen Weise eine grundsätzliche Neuausrichtung der Katholischen Kirche nach dem Konzil bewirken konnten. Die elementare Wertschätzung des Judentums, die in Nostra aetate zum Ausdruck kommt, hat vor allem dazu geführt, dass aus sich skeptisch gegenüber stehenden Parteien im Laufe der Jahrzehnte verlässliche Partner und sogar gute Freunde geworden sind, die auch fähig sind, Krisen gemeinsam durchzustehen und Konflikte positiv auszutragen.

2. Benedikt XVI. und sein Einsatz für den Dialog mit den Juden

Was den Dialog mit dem Judentum betrifft, hat Papst Benedikt XVI. von Anfang seines Pontifikats an betont, dass er in den Fusspuren seines Vorgängers die Beziehungen zu den Juden nicht nur fördern, sondern auch intensivieren wolle. Diesbezüglich kann es keinen Zweifel darüber geben, weil das grosse Bemühen von Papst Johannes Paul II. um den jüdisch-katholischen Dialog schon vom damaligen Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre, Kardinal Joseph Ratzinger, theologisch verantwortet und mitgetragen worden ist. Bereits als Student der Theologie ist es Joseph Ratzinger möglich gewesen, einen Zugang zum Judentum über das Studium des Alten und Neuen Testaments zu finden, der sich durch den persönlichen Kontakt mit Juden während seiner Zeit in Rom noch intensivierte. So veröffentlichte er wegweisende Artikel über das spezifische Verhältnis des Christentums zum Judentum im Konzert der Weltreligionen.[4] Das Fundament für diese Sicht liegt beim Theologen Ratzinger in der Überzeugung, dass die Heilige Schrift nur als ein Buch wirklich verstanden werden kann, eine „concordia testamentorum“ also unabdingbar zum rechten Verständnis der biblischen Heilsbotschaft notwendig ist. Ihm ist es deshalb ein zentrales Anliegen, die tieferen Zusammenhänge neutestamentlicher Themen mit der alttestamentlichen Botschaft aufzuzeigen, so dass sowohl die innere Kontinuität zwischen Altem und Neuem Testament als auch die Neuheit der neutestamentlichen Botschaft aufscheinen können.

Auf dem Hintergrund dieser theologischen Überzeugungen kann es nicht erstaunen, dass Papst Benedikt XVI. das Versöhnungswerk seines Vorgängers im Blick auf das jüdisch-katholische Gespräch weiterführt und voranbringt. Er adressierte nicht nur den ersten Brief in seinem Pontifikat an den Oberrabbiner in Rom, sondern er sicherte auch bereits bei seiner ersten Begegnung mit einer jüdischen Delegation am 9. Juni 2005 zu, die Kirche bewege sich fest auf den Grundaussagen von Nostra aetate und er wolle den Dialog in den Spuren seiner Vorgänger fortsetzen. Überblickt man die mehr als sieben Jahre seines Pontifikates, kann man feststellen, dass er in diesem kurzen Zeitraum alle jene Schritte unternommen hat, die Papst Johannes Paul II. in den 27 Jahren seines Pontifikates getan hatte: Papst Benedikt XVI. besuchte am 28. Mai 2006 das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, bei seinem Besuch in Israel im Mai 2009 stand er ebenfalls vor der Jerusalemer Klagemauer, er begegnete dem Jerusalemer Oberrabbinat und betete für die Opfer der Shoah in Yad-VaSchem, und am 17. Januar 2010 wurde er von der jüdischen Gemeinde in Rom in ihrer Synagoge herzlich empfangen. Den ersten Besuch einer Synagoge stattete er freilich bereits am 19. August 2005 in Köln anlässlich des Weltjugendtages ab, und am 18. April 2008 besuchte er die Park East Synagogue in New York. Man darf deshalb dankbar konstatieren, dass in der bisherigen Geschichte kein Papst wie Benedikt XVI. so viele Synagogen besucht hat.

Alle diese Aktivitäten sind von seinem eigenen persönlichen Stil geprägt. Während Papst Johannes Paul II. ein feines Sensorium für grosse Gesten und starke Bilder hatte, setzt Benedikt XVI. vor allem auf die Kraft des Wortes und der demütigen Begegnung. In diesem Sinn versucht Papst Benedikt XVI. mit der Kraft seines Wortes und mit seiner spirituellen Tiefe immer wieder, den Facettenreichtum des gemeinsamen geistlichen Erbes von Judentum und Christentum ans Tageslicht zu heben und jene Wegweisungen theologisch zu vertiefen, die die Erklärung Nostra aetate vorgegeben hat.[5]

3. Der Dialog mit der jüdischen Dachorganisation

„International Jewish Committee on Interreligious Consultations“ (IJCIC)

Bevor ich auf die Initiativen unserer Vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum zu sprechen komme, ist es mir ein Anliegen, mich bei Ihnen, sehr geehrte Konsultoren und Delegaten einzelner Bischofskonferenzen, für alles zu bedanken, das auf Ebene von Bischofskonferenzen, Ortskirchen und akademischer Institute zur Förderung des Dialogs mit den Juden unternommen wurde und unternommen wird. Ich bin auf Ihre Berichte und Informationen gespannt. Sie wissen, dass unsere Kommission stets bereit ist, alle sinnvollen Initiativen zur Förderung dieses Dialogs auf verschiedenen Ebenen zu unterstützen, sie aber auch und vor allem im Gebet mitzutragen. Wir möchten unsere Solidarität mit Ihren Bemühungen zum Ausdruck bringen, gleichzeitig auch im Sinne des Subsidiaritätsprinzips darauf hinweisen, dass ganz konkrete Schritte eigentlich nur vor Ort unternommen werden können. Ein Zusammenspiel von Orts- und Universalkirche ist also auch bezüglich des jüdisch-katholischen Dialogs sinnvoll und notwendig.

Da sich das Judentum als facettenreich und organisatorisch nicht einheitlich präsentiert, stand man auf katholischer Seite vor der Schwierigkeit, mit wem man nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil den Dialog konkret aufnehmen sollte, weil es nicht möglich war, mit allen jüdischen Gruppierungen und Organisationen, die zum Dialog ihre Bereitschaft erklärten, einzelne und unabhängige bilaterale Gespräche zu führen. Um dieses Problem zu lösen, griffen die jüdischen Organisationen den von katholischer Seite eingebrachten Vorschlag auf, eine einzige Organisation für den religiösen Dialog zu gründen. Das so genannte International Jewish Committee on Interreligious Consultations (IJCIC) stellt bis heute den jüdischerseits offiziellen Partner der Vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum dar. Ihm gehören beinahe alle grossen jüdischen Organisationen an, von denen nicht wenige ihren Sitz in den Vereinten Staaten haben.

Das IJCIC konnte im Jahre 1970 seine Tätigkeit aufnehmen, und man organisierte bereits ein Jahr später die erste gemeinsame Konferenz in Paris. Die seither regelmässig durchgeführten Tagungen sind Ausdruck des so genannten International Catholic-Jewish Liaison Committee (ILC), und sie prägen die Zusammenarbeit zwischen dem IJCIC und der Vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum. Ende Februar 2011 konnten wir bei der 21. Tagung des ILC auf vierzig Jahre institutionalisierten Dialog dankbar zurückblicken und dieses Jubiläum wiederum in Paris feiern. In den vergangenen vierzig Jahren ist Vieles gewachsen: aus der herkömmlichen Konfrontation wurde eine gelungene Zusammenarbeit, aus der früheren Konfliktträchtigkeit entstand eine positive Konfliktbewältigung, und aus einem vergangenen Nebeneinander konnte eine tragfähige Freundschaft entstehen. Die in der Zwischenzeit geknüpften Bande der Freundschaft haben sich als gefestigt erwiesen, so dass es möglich geworden ist, auch kontroverse Themen miteinander anzugehen, ohne Gefahr zu laufen, dass der Dialog bleibenden Schaden erleidet. Dies war umso notwendiger, als der Dialog in den vergangenen Jahrzehnten nicht immer spannungsfrei gewesen ist. Es sei nur an die Krisen erinnert, die in den achtziger Jahren die so genannte Waldheim-Affäre oder der geplante Karmel in Auschwitz provoziert haben. In der jüngsten Zeit ist an die Diskussion über die neue Karfreitagsfürbitte für die ausserordentliche Form des römischen Ritus, die so genannte „Williamson-Affäre“ im Januar 2009 oder auch an die sehr divergierenden Meinungen hinsichtlich der vorgesehenen Seligsprechung von Papst Pius XII. zu denken, wobei der aufmerksame Beobachter nicht um die Feststellung herum kommt, dass sich jüdischerseits die Urteile über diesen Papst von ursprünglich grosser Dankbarkeit erst seit dem Theaterstück von Hochhuth in tiefe Besorgnis verwandelt haben. Im Allgemeinen darf man aber anerkennend konstatieren, dass im jüdisch-katholischen Dialog vor allem seit der Jahrtausendwende intensiv versucht wird, auftretende Meinungsverschiedenheiten und Konflikte offen und mit positiver Zielbestimmung auszutragen, so dass auf diese Weise die gegenseitigen Beziehungen nur noch fester werden.

Blickt man auf die seit der letzten Plenaria der Vatikanischen Kommission mit den Konsultoren und Delegierten einzelner Bischofskonferenzen im Oktober 2005 durchgeführten ILC-Tagungen zurück, so fand die 19. in Capetown im November 2006 und die 20. in Budapest im November 2008 statt. Während man in Südafrika versuchte, mit dem Thema „Healthcare – Dignifying the Divine Image“ Juden und Katholiken im Kampf gegen HIV/Aids zusammenzuführen, wollte man in Ungarn als einem ehemals unter kommunistischer Herrschaft stehenden Land mit dem Thema „Religion and Civil Societies Today – Jewish and Catholic Perspektives“ das Verhältnis von Religion und ziviler Gesellschaft in den Mittelpunkt der Diskussionen stellen. Bei beiden Tagungen konnte das Band der Freundschaft mit unseren jüdischen Partnern auf jeden Fall vertieft werden.

Eine weitere wichtige Initiative im Rahmen der ILC-Tagungen kann nicht unerwähnt bleiben. Schon bei der Tagung in Budapest einigte man sich darauf, dass sich vor der eigentlichen Konferenz eine kleine Gruppe von zwölf jungen Menschen, Juden und Katholiken im Alter von 20 bis 35 Jahren, zwei Tage lang treffen sollte. Im Prinzip geht es dabei um eine Nachwuchsförderung für den jüdisch-katholischen Dialog, die sowohl vom IJCIC als auch von unserer Kommission lange zuvor anvisiert worden war. Diese jungen Menschen durften schliesslich als Vollmitglieder an der eigentlichen ILC-Tagung teilnehmen. Sie bildeten gleichsam eine Kerntruppe zur Organisation einer so genannten „Emerging Leadership Conference“, die in Castel Gandolfo in der Nähe von Rom Ende Juni 2009 stattfand. Dazu kamen für vier Tage ungefähr fünfzig junge Juden und Katholiken aus aller Welt zusammen und tauschten sich zum Thema „Discovering Common Values“ aus. Aufgrund des Erfolgs dieser Tagung beschloss man, eine „Emerging Leadership Conference“ alle zwei Jahre durchzuführen, und zwar im Wechsel mit den eigentlichen ILC-Konferenzen. So fand die zweite Tagung zur Nachwuchsförderung vom 18. – 21. Juni in diesem Jahr in der Nähe von New York mit dem Thema „Catholics and Jews: Our Common Values, Our Common Roots“ statt. Für 2013 ist die Organisation einer regulären ILC-Tagung in Planung, die Details sind aber noch nicht bekannt.

4. Der Dialog mit dem Oberrabbinat in Israel

Neben dem Dialog mit dem IJCIC ist das institutionalisierte Gespräch mit dem Oberrabbinat in Israel zu erwähnen, das als Frucht der Begegnung von Papst Johannes Paul II. mit den Oberrabbinern in Jerusalem während seiner Reise nach Israel im März des Jahres 2000 betrachtet werden darf. Das erste Treffen wurde im Juni 2002 in Jerusalem organisiert, und seither konnten insgesamt elf solche Begegnungen durchgeführt werden, die abwechslungsweise in Rom und in Jerusalem stattfinden. Die beiden Delegationen sind relativ klein und bestehen aus ungefähr 15 Teilnehmern, so dass eine sehr persönliche und intensive Diskussion über verschiedene Themen möglich ist. Im Laufe der Jahre wurden die folgenden Themen gemeinsam behandelt: die Heiligkeit des Lebens, der Stellenwert der Familie, die Bedeutung der Heiligen Schriften für das gesellschaftliche Zusammenleben und die Erziehung künftiger Generationen, eine gemeinsame Vision sozialer Gerechtigkeit und ethischen Verhaltens, das Verhältnis von säkularer und religiöser Autorität, die Beziehung zwischen dem menschlichen Leben und der Technologie, die Religions- und Gewissensfreiheit und deren Grenzen, die Schöpfung und Umwelt als Herausforderung für die Interventionen des Menschen, die notwendigen Qualitäten einer religiösen Führung in der säkularen Gesellschaft, die religiösen Perspektiven bezüglich der gegenwärtigen Finanzkrise auf dem Hintergrund einer gerechten wirtschaftlichen Ordnung.

Da auf der katholischen Seite Bischöfe und Priester und auf der jüdischen Seite beinahe ausschliesslich Rabbiner an den Treffen teilnehmen, kann es nicht erstaunen, dass die jeweiligen Themen auch in religiöser Hinsicht beleuchtet werden. Diese Feststellung ist deshalb erstaunlich, weil normalerweise innerhalb des orthodoxen Judentums die Tendenz besteht, religiöse und theologische Fragestellungen eher zu vermeiden. Der Dialog mit dem Oberrabbinat in Israel hat insofern eine weitere Öffnung des Orthodoxen Judentums für die Römisch-katholische Kirche auf Weltebene ermöglicht. Nach jedem Treffen wird eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht und auf der Website der Vatikanischen Kommission zugänglich gemacht, die jeweils bezeugt, wie reich das dem Judentum und dem Christentum gemeinsame spirituelle Erbe ist und welche kostbaren Schätze noch gehoben werden können. Im Rückblick auf zehn Jahre des Dialogs darf man dankbar feststellen, dass sich eine intensive Freundschaft ergeben hat, die ein gutes Fundament für den weiteren Weg in die Zukunft abgibt.

5. Die Dialogarbeit der Vatikanischen Kommission

Die Dialogarbeit der Vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum kann sich natürlich nicht auf diese beiden institutionalisierten Dialoge beschränken. Ihr ist es vielmehr auch ein Anliegen, für alle Strömungen, die es innerhalb des Judentums gibt, offen zu sein und mit allen jüdischen Gruppierungen und Organisationen Kontakt zu pflegen, die mit dem Apostolischen Stuhl in Beziehung stehen wollen. Ein besonderes Interesse auf der jüdischen Seite richtet sich dabei auf private Audienzen beim Heiligen Vater, die von der Kommission jeweils vorbereitet werden. Von den vielen Privataudienzen für jüdische Gruppen, die es in den vergangenen Jahren gegeben hat, sollen vor allem drei erwähnt werden, weil sie einen besonderen Charakter aufwiesen: Am 10. November 2011 waren in Rom die religiösen Oberhäupter des Staates Israel, der so genannte Israeli Religious Council zu Besuch. Zum ersten Mal in der Geschichte präsentierten sich in einer Privataudienz mit dem Heiligen Vater Juden, Christen, Moslems und Drusen gemeinsam, die im Staat Israel zusammenleben. Am 12. Dezember 2011 empfing Papst Benedikt XVI. den Oberrabbiner von Grossbritannien, Sir Jonathan Sacks, mit dem er sich in privater Begegnung über die Zukunft Europas besonders in religiöser Hinsicht aussprach. Im Anschluss daran hielt Oberrabbiner Sacks an der Pontificia Università Gregoriana einen Vortrag zum Thema „Has Europe lost its Soul?“ Schliesslich war am 10. Mai 2012 beim Papst der Latin American Jewish Congress zu Gast. Mit ihm konnte zum ersten Mal eine grössere Gruppe von Juden aus Lateinamerika im Vatikan empfangen werden.

Für eine sinnvolle Dialogtätigkeit der Vatikanischen Kommission ist es vonnöten, dass sie nicht nur Juden im Vatikan begrüsst, sondern auch dort präsent ist, wo Juden leben und sich organisieren. Für die Kommission sind dabei Israel und die USA die wichtigsten Länder, weil dort von den vierzehn Millionen Juden weltweit ungefähr elf Millionen ihre Heimat haben. Die erste Reise führte mich, begleitet vom Sekretär der Kommission, vom 29. Oktober bis 5. November 2011 in die USA. Ich war eingeladen, am Institute of Judaeo-Christian Studies an der Seton Hall University in New Jersey einen Vortrag zum Thema “Theological Questions and Perspectives in Jewish-Catholic Dialogue” zu halten. In New York wurden wir vom Jewish Theological Seminary freundlich aufgenommen, trafen Repräsentanten des IJCIC und besuchten die American Bible Society. In Washington hatten wir schliesslich Kontakt mit der Amerikanischen Bischofskonferenz; und an der Catholic University of America war ich eingeladen, einen Vortrag über die ökumenische Situation heute zu halten. Eine weitere grosse Reise führte uns vom 22. – 27. Mai 2012 nach Israel, wo wir unsere jüdischen Dialogpartner besuchten.

Zum angenehmen Pflichtprogramm gehört immer ein Besuch im Oberrabbinat Israels in Jerusalem: hier trafen wir Oberrabbiner Yonah Metzger und den Generalsekretär des Oberrabbinats Oded Wiener zusammen mit Rabbiner David Rosen, der für das American Jewish Committee in Jerusalem im interreligiösen Dialog arbeitet. Zugleich wurde uns der neue Botschafter Israels am Heiligen Stuhl, Exzellenz Zion Evrony vorgestellt, der seinen Dienst Anfang August 2012 in Rom angetreten hat. Am Jerusalem Studies Institute durften wir einer Gruppe von ungefähr 25 Personen begegnen, die in Israel in verschiedenartigen Instituten den interreligiösen Dialog fördern. In einem informellen Gespräch wurden wir über die aktuelle Situation des Dialogs im Staate Israel orientiert. Danach war ich eingeladen, einen öffentlichen Vortrag zum Thema „Christians Called to be Faithful to Abraham’s Heritage“ zu halten, der anschliessend lebhaft diskutiert wurde. Es versteht sich von selbst, dass wir bei solchen Gelegenheiten auch den katholischen Mitbrüdern begegnen, die uns in dankenswerter Weise immer tatkräftig in unserer internationalen Dialogtätigkeit unterstützen, wie den Jerusalemer Patriarchen Fouad Twal, den Custos Terrae Sanctae, P. Pierbattista Pizzaballa, Weihbischof Giacinto Marcuzzo, Erzbischof Elia Chacour und den Apostolischen Nuntius Antonio Franco, der inzwischen in Pension gegangen ist.

Neben den direkten Kontakten zum Judentum ist die Vatikanische Kommission auch darum bemüht, innerhalb der Katholischen Kirche Impulse für den Dialog mit dem Judentum zu geben und mit einzelnen Bischofskonferenzen zusammenzuarbeiten. In diesem Sinn wollen wir nach meiner Einführung an diesem Treffen darüber austauschen, was wir für die weitere Förderung und Intensivierung des Dialogs innerhalb unserer Kirche noch tun können. Sowohl der „Dialog ad extra“ wie auch der „Dialog ad intra“ haben in den vergangenen Jahrzehnten immer deutlicher bewusst gemacht, dass Christen und Juden unwiderruflich aufeinander angewiesen sind und der Dialog zwischen beiden in theologischer Hinsicht nicht Kür, sondern Pflicht ist. Denn Juden und Christen sind gerade in ihrer Verschiedenheit das eine Volk Gottes, das sich in einer gegenseitigen Freundschaft bereichern kann. Diesbezügliche Perspektiven konnte ich in einem Vortrag hier in Rom an der Pontificia Università San Tommaso, dem so genannten Angelicum, am 16. Mai 2012 vertiefen. Vor einer grossen Zuhörerschaft war ich eingeladen, zum Thema zu sprechen: „Building on Nostra aetate: 50 Years of Christian-Jewish Dialogue“. Zugegen waren auch viele Vertreter des Judentums, die im Anschluss an den Vortrag ihre anregenden Fragen stellen konnten.

Natürlich steht es mir nicht zu, darüber zu befinden, was das Judentum von diesem Dialog für sich gewinnt. Ich kann nur zusammen mit Kardinal Walter Kasper den Wunsch äussern, dass es erkennen kann, dass „das Judentum vom Christentum abzuspalten“ bedeuten müsste, „es seiner Universalität zu berauben“, die doch bereits Abraham verheissen worden ist.[6] Für die christliche Kirche jedoch steht auf jeden Fall fest, dass sie ohne das Judentum in der Gefahr steht, ihre heilsgeschichtliche Verortung zu verlieren und zu einer letztlich unhistorischen Gnosis zu verkommen.

6. Theologische Aspekte des Dialogs mit dem Judentum

Die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils zum Judentum, also der vierte Artikel von Nostra aetate, steht in einem dezidiert theologischen Rahmen. Damit ist freilich keineswegs behauptet, dass mit ihr alle theologischen Fragen, die sich in der Beziehung zwischen Christentum und Judentum stellen, gelöst wären. Vielmehr sind sie dort verheissungsvoll angestossen worden, bedürfen aber weiterer theologischer Vertiefung. Darauf weist auch die Tatsache hin, dass sich diese konziliare Erklärung nicht, wie dies bei anderen Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils zumeist der Fall ist, in den Anmerkungen auf vorauf gehende Lehrdokumente und Entscheidungen von früheren Konzilien beziehen kann. Es gab freilich bereits vor dem Konzil lehramtliche Texte, die das Judentum im Blickfeld hatten; doch eine theologische Gesamtschau des Verhältnisses der Katholischen Kirche zu den Juden liegt erst in Nostra aetate vor.

In diesem Neuansatz dürfte es auch begründet sein, dass der Konzilstext nicht selten überinterpretiert und aus ihm herausgelesen wird, was in ihm noch gar nicht enthalten ist. Um nur ein besonders wichtiges Beispiel zu nennen: Dass der Bund, den Gott mit seinem Volk Israel geschlossen hat, bestehen bleibt und nie ungültig wird, kann nicht, wiewohl dieses Bekenntnis wahr ist, aus Nostra aetate heraus gelesen werden. Diese Aussage hat vielmehr erst Papst Johannes Paul II. in aller Klarheit ausgesprochen, als er bei seiner Begegnung mit Vertretern der Juden in Mainz am 17. November 1980 davon gesprochen hat, dass der Alte Bund von Gott nie gekündigt worden sei: „Die erste Dimension dieses Dialogs, nämlich die Begegnung zwischen dem Gottesvolk des von Gott nie gekündigten Alten Bundes und dem des Neuen Bundes, ist zugleich ein Dialog innerhalb unserer Kirche, gleichsam zwischen dem ersten und zweiten Teil ihrer Bibel.“[7]

Auch diese Aussage gab ihrerseits wiederum Anlass zu Missverständnissen, etwa dahingehend, dass es, wenn die Juden in einem gültigen Bundesverhältnis mit Gott stehen, zwei verschiedene Heilswege geben müsse, nämlich den jüdischen Heilsweg ohne Christus und den Heilsweg für alle anderen Menschen, der über Jesus Christus führt. Wie einleuchtend diese Antwort auf den ersten Blick auch zu sein scheint, sie vermag die theologisch höchst komplexe Frage, wie der christliche Glaube an die universale Heilsbedeutung Jesu Christi mit der ebenso klaren Glaubensaussage vom nie aufgekündigten Bund Gottes mit Israel kohärent zusammengedacht werden kann, nicht befriedigend zu lösen.[8] Dass Kirche und Judentum „nicht als zwei parallele Heilswege dargestellt“ werden können, dass die Kirche vielmehr „Christus als Erlöser vor allen Menschen bezeugen“ muss, hat bereits das von der Vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum im Jahre 1985 veröffentlichte Dokument „Hinweise für eine richtige Darstellung von Juden und Judentum in der Predigt und in der Katechese der katholischen Kirche“ festgestellt.[9] Denn der christliche Glaube steht und fällt mit dem Bekenntnis, dass Gott alle Menschen zum Heil führen will, dass er diesen Weg in Jesus Christus als dem universalen Mittler des Heils geht und dass uns „kein anderer Name unter dem Himmel gegeben“ ist, „durch den wir gerettet werden sollen“ (Apg 4, 12).

Nach christlichem Glaubensverständnis kann es nur einen Heilsweg geben. Aus diesem grundlegenden Bekenntnis folgt aber auf der anderen Seite in keiner Weise, dass die Juden von Gottes Heil ausgeschlossen wären, weil sie nicht an Jesus Christus als den Messias Israels und den Sohn Gottes glauben. Eine solche Behauptung hätte überhaupt keinen Anhalt an der heilsgeschichtlichen Schau des Paulus, der im Römerbrief die selbst gestellte Frage, ob denn Gott sein eigenes Volk verstossen habe, entschieden verneint und ebenso dezidiert festhält: „Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt“ (Röm 11, 29). Dass die Juden Anteil an Gottes Heil haben, steht theologisch ausser Frage; wie dies aber ohne explizites Christusbekenntnis möglich sein kann, ist und bleibt ein abgrundtiefes Geheimnis Gottes. Es ist kein Zufall, dass Paulus seine heilsgeschichtlichen Reflexionen in Römer 9-11 über die endgültige Rettung Israels auf dem Hintergrund des Christusmysteriums in eine geheimnisvolle Doxologie münden lässt: „O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege!“ (Röm 9, 33) Es ist ebenso wenig ein Zufall, dass Papst Benedikt XVI. im zweiten Teil seines Buches über Jesus von Nazaret auf das uns bedrängende Problem Bernhard von Clairvaux sprechen lässt, dass für die Juden „ein bestimmter Zeitpunkt festgelegt“ ist, „dem man nicht vorgreifen kann“.[10]

Diese theologisch äusserst komplexe Frage stand auch im Hintergrund bei der Neuformulierung der Karfreitagsfürbitte für die Juden in der ausserordentlichen Form des römischen Ritus, die im Februar 2008 veröffentlicht worden ist. Wiewohl sie in der theologisch korrekten Form einer Bitte an Gott die Universalität des Heils in Jesus Christus, und zwar im eschatologischen Horizont („indem die Heidenvölker in Deine Kirche eintreten“), bekennt[11], wurde sie von jüdischer, freilich auch von christlicher Seite, heftig kritisiert und zumeist als Aufruf zu einer expliziten Judenmission missverstanden.[12] Es versteht sich von selbst, dass es sich beim Stichwort der so genannten Judenmission für die Juden um eine sehr heikle und sensible Frage handelt, weil sie in ihren Augen die Existenz Israels selbst betrifft. Auf der anderen Seite erweist sich diese Frage auch für die Christen als heikel, weil für sie die universale Heilsbedeutung Jesu Christi und folglich die universale Sendung der Kirche von grundlegender Bedeutung sind. Die christliche Kirche ist freilich verpflichtet, ihren Evangelisierungsauftrag gegenüber Juden, die an den einen Gott glauben, in einer anderen Weise als gegenüber den Heiden zu verwirklichen. Dies bedeutet konkret, dass, wie Kardinal Karl Lehmann eingehend gezeigt hat[13], die Katholische Kirche – im Unterschied zu einigen fundamentalistischen evangelikalen Bewegungen – keine spezifische institutionelle Missionsarbeit, die auf Juden gerichtet ist, kennt und unterstützt. Die prinzipielle Abweisung einer institutionellen Judenmission schliesst auf der anderen Seite aber gerade nicht aus, dass Christen auch Juden gegenüber Zeugnis von ihrem Glauben an Jesus Christus geben, dies aber, zumal angesichts der grossen Tragik der Shoah, in einer unaufdringlichen und demütigen Weise tun.

7. Künftige Perspektiven für den jüdisch-katholischen Dialog

Eine vertiefte Klärung der kurz angesprochenen theologischen Fragestellungen, die sich im Dialog mit dem Judentum unweigerlich aufdrängen, kann als erste vordringliche zukünftige Aufgabe betrachtet werden, die wir Katholiken gleichsam als Hausaufgabe zu erledigen haben. Als eine weitere wichtige Perspektive darf man im Rahmen des „Dialogs ad intra“ die Ermutigung katholischer Theologen benennen, Bausteine für eine so genannte christliche Theologie des Judentums zu erarbeiten, die keineswegs eingelöst ist, obwohl manche Protagonisten im jüdisch-katholischen Dialog diesbezüglich viel versprechende Entwürfe vorgelegt haben. Zu erinnern sei an dieser Stelle zum Beispiel an das Buch „Christliche Theologie des Judentums“ aus dem Jahr 1978 von Clemens Thoma[14], der über einen langen Zeitraum hin Konsultor unserer Vatikanischen Kommission gewesen und im vergangenen Jahr am 7. Dezember verstorben ist.

Weitere Perspektiven für den theologischen Dialog mit dem Judentum dürften aufgrund meiner bisherigen Ausführungen auf der Hand liegen: In erster Linie wird es darum gehen müssen, die beiden institutionellen Dialoge unserer Vatikanischen Kommission mit dem IJCIC und dem Oberrabbinat in Israel weiterhin mit Elan, Geduld und Ausdauer zu führen, ihnen immer wieder neue Impulse zu geben und weitere Horizonte ausfindig zu machen. In diesem Zusammenhang ist in den vergangenen Jahren der Vorschlag gemacht worden, eine ILC-Tagung zusammen mit orthodoxen Christen anzugehen, so dass katholische und orthodoxe Christen mit Juden gemeinsam ins Gespräch kommen könnten. Von christlich-orthodoxer Seite gibt es diesbezüglich eine grosse Offenheit. Das IJCIC hat aber nach anfänglichem Wohlwollen gegenüber dieser Idee vor kurzem klar gemacht, dass es lieber getrennt mit beiden christlichen Kirchen Tagungen durchführen will. Das bedeutet aber nicht, dass diese Idee ein- für allemal gestorben sein muss, weil mit anderen Personen in der Leitung dieser Organisation auch wieder andere Möglichkeiten gegeben sein können. Ohne Geduld ist es nun einmal nicht möglich, den Dialog mit den Juden zu führen, und die Geduld ist, wie Charles Péguy sehr schön gesagt hat, die „kleine Schwester der Hoffnung“.

Was in den letzten Jahren in einer sehr positiven Weise angegangen werden konnte, ist die Nachwuchsförderung im jüdisch-katholischen Dialog, das heisst die Rekrutierung junger Menschen für diesen Dialog, die als Multiplikatoren die positive Wirkungsgeschichte von Nostra aetate (Nr. 4) fortschreiben können. Die Emerging Leadership Conferences sollten auf jeden Fall weitergeführt werden, um eine sinnvolle Tradition auf einen guten Weg in die Zukunft zu bringen. Da nach jüdischem Verständnis von einer Tradition erst gesprochen werden kann, wenn etwas sich zum dritten Mal wiederholt hat, ist für das Jahr 2014 die Organisation einer weiteren Begegnung dieser Art ins Auge gefasst. Für diese Treffen braucht es immer auch grosszügige Sponsoren, weil junge Menschen normalerweise nicht in genügendem Ausmass über finanzielle Ressourcen verfügen. Bislang konnten – Gott sei es gedankt – grosszügige Spender gefunden werden. Falls Sie Ideen für ein systematisches fund-raising haben, wären wir Ihnen für Hinweise sehr dankbar.

Uns weiteren möglichen Perspektiven für den jüdisch-katholischen Dialog zu widmen, dazu werden wir heute und morgen genügend Zeit haben. Von unserer Seite möchten wir besonders über eine mögliche Einführung eines „Tags des Judentums“ auf der Ebene einzelner Bischofskonferenzen und über die bevorstehende Fünfzig-Jahr-Feier von Nostra aetate am 28. Oktober 2015 ins Gespräch kommen. Sehr gerne sind aber auch Sie alle eingeladen, Ihre eigenen Perspektiven für den künftigen und hoffentlich gelingenden Dialog mit „unseren älteren Brüdern im Glauben“ in unsere Diskussion einzubringen. Für Ihr Mitdenken und Mitarbeiten danke ich Ihnen herzlich und wünsche angenehme Stunden des Zusammenseins und des Austausches.

 

[1] Vgl. J.-H. Tück, Die Verbindlichkeit des Konzils. Die Hermeneutik der Reform als Interpretationsschlüssel, in: Ders. (Hrsg.), Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil, Freiburg i. Br. 2012, 85-104.

[2] Benedetto XVI, Una giusta ermeneutica per leggere e recepire il Concilio come grande forza di rinnovamento della chiesa. Ai Cardinali, agli Arcivescovi, ai Vescovi e ai Prelati della Curia Romana per la presentazione degli auguri natalizi il 22 dicembre 2005, in: Insegnamenti di Benedetto XVI I 2005, Città del Vaticano 2006, 1018-1032. Vgl. Papst Benedikt XVI. und sein Schülerkreis – Kurt Kardinal Koch, Das Zweite Vatikanische Konzil. Die Hermeneutik der Reform, Augsburg 2012.

[3] Giovanni Paolo II, Ringraziamo il Signore per la ritrovata fratellanza e per la profonda intesa tra la Chiesa e l´Ebraismo. Allocuzione nella Sinagoga durante l´incontro con la Comunità Ebraica della Città di Roma il 13 aprile 1986, in: Insegnamenti di Giovanni Paolo II IX, 1, 1986, Città del Vaticano 1986, 1024-1031, zit. 1027.

[4] J. Kardinal Ratzinger, Die Vielfalt der Religionen und der Eine Bund, Urfeld 1998.

[5] Vgl. A. Buckenmaier / R. Pesch / L. Weimer, Der Jude Jesus von Nazareth. Zum Gespräch zwischen Jacob Neusner und Papst Benedikt XVI., Paderborn 2008.

[6] K. Walter Kasper, Zwei Hinweise zu einer Theologie des Volkes Gottes, in: Pontificia Università Lateranense (Ed.), Festliche Eröffnung des Lehrstuhls für die Theologie des Volkes Gottes, Urfeld 2009, 17-20, zit. 20.

[7] Giovanni Paolo II, La ricchezza della comune eredita ci apre al dialogo e alla collaborazione. Incontro con gli esponenti della Comunità Ebraica a Magonza il 17 novembre 1980, in: Insegnamenti di Giovanni Paolo II III, 2 1980, Città del Vaticano 1980, 1272-1276, zit. 1274.

[8] Vgl. die differenzierte Studie von Th. Söding, Erwählung – Verstockung – Errettung. Zur Dialektik der paulinischen Israeltheologie in Röm 9-11, in: Communio. Internationale katholische Zeitschrift 39 (2010) 382-417.

[9] In französischer Sprache publiziert in: La Documentation Catholique 76 (1985) 733-738.

[10] J. Ratzinger – Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Zweiter Teil: Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung, Freiburg i. Br. 2011, 60.

[11] Die Neuformulierung der Karfreitagsfürbitte hat Papst Benedikt XVI. dahingehend erklärt: „Ich habe sie abgeändert, dass darin unser Glaube enthalten ist, dass Christus der Heiland für alle ist. Dass es nicht zwei Heilswege gibt, dass also Christus auch der Retter der Juden, nicht bloss der Heiden ist. Aber auch dahingehend, dass nun nicht unmittelbar für die Bekehrung der Juden im missionarischen Sinne gebetet wird, sondern dass der Herr die geschichtliche Stunde herbeiführen möge, in der wir alle miteinander vereint sein werden.“ Benedikt XVI., Licht der Welt. Der Papst, die Kirche und die Zeichen der Zeit. Ein Gespräch mit Peter Seewald, Freiburg i. Br. 2010, 133.

[12] W. Homolka / E. Zenger (Hrsg.), „… damit sie Jesus Christus erkennen“. Die neue Karfreitagsfürbitte für die Juden, Freiburg i. Br. 2008.

[13] K. Kardinal Lehmann, „Judenmission“. Hermeneutische und theologische Überlegungen zu einer Problemanzeige im jüdisch–christlichen Gespräch, in: H. Frankemölle / J. Wohlmuth (Ed.), Das Heil der Anderen. Problemfeld „Judenmission“, Freiburg i. Br. 2010, 142–167.

[14] Vgl. C. Thoma, Christliche Theologie des Judentums, Aschaffenburg 1978. Vgl. Ders., Das Messiasprojekt. Theologie jüdisch-christlicher Begegnung, Augsburg 1994.