"Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland, aus der Sklaverei, herausgeführt hat"

Gott spricht: "Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Sklaverei, herausgeführt hat. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben." (2. Mose 20,2 und 5. Mose 5,6)

I Recht und Unrecht unterscheiden und Unrecht besiegen

Aus dem Jahr 1941 berichtet der damalige Chemie-Student Primo Levi über seine Mitarbeit im italienischen Widerstand in Turin: "Wir kamen im Turnsaal der 'Talmud Tora' zusammen, wie sich die ehrwürdige jüdische Grundschule stolz nannte, und brachten uns gegenseitig bei, wie man in der Bibel Recht und Unrecht und die das Unrecht besiegende Kraft wiederfindet... Langsam ... brach sich der Gedanke bei uns Bahn, dass wi r... keine Verbündeten hatten ... weder im Himmel noch auf Erden, dass wir die Kraft zum Widerstand in uns selbst finden mussten." Levi wird nach Auschwitz deportiert, ein Ort, wo selbsternannte "Herrenmenschen" Unrecht zum Recht verbiegen. Immer sind es schweigende Mehrheiten und Mitläufer, die solchen Gewaltherrschaften die Lizenz liefern, andere Mitmenschen mit Feindbildern zuzurichten und hinzurichten. Wissenschaften, Religionen oder Medien, Leute auf der Strasse, in Verwaltungen und Schulen, tragen dazu bei, andere als solche zu begreifen und anzugreifen, die nicht hierher und schon gar nicht zu uns gehören. Primo Levis Bücher enthalten wichtige Nachrichten, die für eine gewaltfreiere Zukunft notwendig sind:

  • Gemeinsam die Gebote, die Tora, von denen heute abend exemplarisch das erste uns beschäftigt, zu befragen, um sie ins gegenwärtige Leben ziehen. Die Kraft zum Widerstand gegen das Ausgrenzen von Menschen, gegen das Zuschlagen mit Gewalt, gegen das Töten kommt von einem Gott, der menschenfreundliche Ziele nennt, der motiviert und inspiriert, die Welt gerechter und friedlicher zu gestalten.
  • Nicht für sich, nicht im eigenen Interesse nur, sondern "gegenseitig", dh im Ringen mit anderen, ist an biblischen Massstäben Recht und Unrecht zu unterscheiden und die das Unrecht besiegende Kraft zu suchen und zu finden;
  • Dabei ist zu erkennen, dass die Kraft zum Widerstand nicht von einem "Deus ex Machina" kommt, von einem Gott, der den Menschen als eine ohnmächtige und verantwortungslose Null ansieht, um in seiner Erhabenheit an ihm vorbei alle menschlichen Übel selber zu regeln. Nein, Unrecht, Juden- und Fremdenhass werden wie Kriege von Menschen gemacht, sind also auch von Menschen zu verhindern oder zu überwinden. Verbündete im Himmel und auf Erden finden sich, wenn ich selbst anfange, denen Nächster zu werden, die durch Gewalt gefährdet sind.

II Gottes und Jesu Befreiungsarbeit weltverbessernd fortsetzen

Gott hat sein Konzept, seine Weisung (so ist Tora zu übersetzen, und nicht mit "Gesetz"), wie Welt und Geschichte zu gestalten seien, nicht für sich behalten. Er teilt sie mit. Er teilt mit seinen Menschen das leidenschaftliche Interesse an – ja, wirklich: an "Weltverbesserung". In Gestalt des Jesus von Nazaret ist sein Wille menschlich verkörpert.

Gott ist nicht a-pathisch, nicht leidenschaftslos oder gleichgültig, sondern mitfühlend, sympathisch – ein für die Menschen und die Menschlichkeit "eifriger Gott" heisst es im zweiten Gebot. Von ihm wir zB berichtet, dass er die stummen und die himmelschreienden Schreie seines Volkes aus der Versklavung beim Pyramidenbau hört. "Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten wohl gesehen, und ihr Schreien über ihre Aufseher habe ich gehört; ja, ich kenne ihre Leiden!" (2. Mose 3,7).

Dieser sensible und Sensibilität schaffende eine Gott stellt sich im Ersten Gebot vor – einmal mit dem Namen "Ich werde da sein (für euch), als der ich (für euch) da sein werde". Zuverlässigkeit bedeutet sein unaussprechlicher Eigenname JWHH. Schon früh wird er mit Adonai, Kyrios, Dominus, Herr, Lord, Seigneur, Signore übersetzt. So nimmt er patriarchale Züge an. Er wird verwechselbar mit allen möglichen alten und neuen Göttern im Himmel und auf Erden. Götter sind schon immer Massenware. Sie präsentieren sich heute monoman als Angst, Spass, Wachstum, Konkurrenz, Nationale Sicherheit, Unterhaltung – koste es, wen es wolle.

Die zweite Vorstellung macht ihn noch unverwechselbarer. Sie erinnert an eine reale Befreiung. "Ich der, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Sklaverei heraus geführt habe" – ein Satz, den die katholische und die lutherische Katechismusfassung des Ersten Gebotes weglässt. Triumphalistisch wird Israels Gottes- und Befreiungserfahrung zur Seite gewischt.

Die Geschichte Israels beginnt mit dieser grundlegenden Erfahrung und sie endet nicht mit dem Erscheinen der Christenheit, wie diese selbst oft ausposaunte. Sinn und Ziel der Geschichte erfüllen sich erst mit der messianischen Vollendung eines "neuen Himmels und einer neuen Erde". Dorthin sind wir unterwegs. Das stiftet Hoffnung. Deswegen geht es unter Pharao, deswegen geht es heute um Befreiung aus Anpassung, Fremdbestimmung, Zwangsarbeit, Todesängsten, Todeswaffen, Demütigungen mit all ihren entmenschlichenden Folgen. Zwischen der Realität einer ersten Befreiung und der erhofften endgültigen Befreiung betrachte sich jeder Jude, jede Jüdin so, als sei er/sie heute aus Ägypten befreit, so heisst es an jedem Pessachfest, wenn die Erinnerung an die Befreiung in heutige Hoffnungen und aktuelle Arbeit für Befreiung geholt wird.

Jesus führt diese Befreiungsarbeit weiter. Seine Arbeit wie seine Botschaft ist eine einzige Bemühung, Menschen von Hunger und Krankheit, von Gewalt und Schuld, von Hoffnungslosigkeit und Ichbezogenheit, von Unrecht und Rechtlosigkeit zu befreien. Die sich auf ihn beziehen, setzen seine Arbeit fort. Schliesslich sind sie sein Leib. In ihnen lebt er auf diesem geschundenen Planeten.

Die Geschichte Israels wie die der Kirche zeigt, wie befreiungsvergesslich diese beiden Mitarbeiter Gottes sich oft verhalten. Zum Glück hat Gott, davon spricht die Bibel israelkritisch wie kirchenkritisch, Mitarbeiterinnen jenseits ihrer oft zu engen Grenzen. Zum Glück gibt es in ihrer Mitte Menschen und Gruppen, die immer wieder zusammenkommen, um mitten im öffentlichen Geschwätz und mitten in einer gehirnvernebelnden Unterhaltungsindustrie Recht Recht und Unrecht Unrecht nennen und mutig unterscheiden. Sie lassen sich nicht ein X für ein U vormachen, keinen Krieg propagandistisch verschönen. Sie suchen und finden die das Unrecht besiegende Kraft. Es sind nachdenkliche und engagierte Leute in verschiedenen Lagern. Es sind kleine Friedens- und Gerechtigkeitsgruppen. Ihr Wachstum wird nicht an der Börse notiert, aber sie retten Leben. Sie denken nicht zuerst betriebswirtschaftlich für den eigenen Laden und nicht profitorientiert für ihre Aktionäre, sondern sie denken global und handeln lokal als Aktivisten einer gerechteren und friedlicheren Welt.

III Mit und gegen Luther das Erste Gebot ernst nehmen

Luther ist gewiss nicht Mitglied einer Friedensgruppe. Aber er denkt und handelt über den Horizont seiner ebenso geliebten wie kritisierten Kirche hinaus. Seine Überlegungen, "ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können" (1526), ob sie also ihre Arbeit gerechterweise tun und verantworten können, beschreiben drei Übel, denen gegenüber kein Gewissen einschlafen oder sich bestechen lassen darf:

  • Die Kommerzialisierung der Beziehungen zwischen Gott und Mensch (Stichwort: Ablasshandel mit dem Heil der Menschen). Ihr folgt eine Kommerzialisierung, dh eine Verdinglichung in den Beziehungen der Menschen untereinander. Alles ist zu kaufen. Viele sind käuflich.
  • Eine wachsende Armut in einer frühkapitalistischen Gesellschaft, der eine wachsende Gewaltbereitschaft folgt – zuerst bei denen, die über Waffen und Reichtum verfügen und ihn mit Klauen und Zähnen verteidigen und vergrössern wollen. Aber auch bei denen, die dann ebenso mit Mord und Totschlag sich ihr Recht auf Leben sichern wollen. Luther kritisiert die unterdrückerischen Herrschaften, bejaht immer die Forderungen der aufständischen Bauern – auch als er ihre Mittel brutal und absolut inakzeptabel kritisiert, weil er einen Bürgerkrieg und ein totales Chaos fürchtet.
  • Luther will die "babylonische Gefangenschaft der Kirche" überwinden, die die Gesellschaft mitsamt der Kirche gefangenhält in einer Zweiteilung der Menschen in Klerus und Laien, in Hierarchie und Experten auf der einen und jenen auf der anderen Seite, denen man nichts zutraut.

Dagegen tritt er mit dem Programm der Gerechtigkeit und Freiheit Gottes an. Das bedeutet, Menschen zu befreien von einer Kommerzialisierung und von jeder Gewalt in all ihren Beziehungen sowie von einer bevormundenden Hierarchien und Experten. Gottes Gerechtigkeit ist gratis dazu bestimmt, zur Gerechtigkeit unter den Menschen zu werden. Deshalb ist "ein Christenmensch ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan" - weder irgendeiner Autorität noch irgendeinem gesellschaftlichen oder kommerziellen "Muss". Das ist Luthers grundlegende Auslegung des ersten Gebotes. Gott macht unabhängig. "Wenn ein Fürst Unrecht tut, muss das Volk ihm nicht folgen". Das an den einen Gott gebundene Gewissen ist souverän und frei.

Die zweite These seiner Programmschrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen" (1520) sagt ebenso klar: "Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan". Mein Leben, mein Glauben, mein Können sind also nicht nur meine private Angelegenheit. Sie stehen im Dienst der Menschen und zwar nicht nur der mir lieben Menschen, sondern im Dienste von jedermann, jederfrau, jedemkind. Das ist globale Verantwortung.

Zwischen 1518 und 1525 lassen sich bei Luther folgende Initiativen zur Gerechtigkeit feststellen: Einrichtung von "Armenkästen", dh Sozialkassen in den Städten; Einrichtung von Schulen, gerade auch für Mädchen, damit die sich leerenden Klöster – wichtige Bildungseinrichtungen! – nicht von Städten und Feudalherren zweckentfremdet enteignet werden; Kritik am Zinsnehmen; an den Preisabsprachen der Kaufmannsgilden (Kartellbildung), an wuchernden Bürgschaften mit ihren Abhängigkeiten; an Warenmonopolen grosser Handelsgesellschaften; an spekulativen Warenaufkäufen unter der Parole "freier Preisbildung".

Luther hat leidenschaftlich die Gleichheit aller Menschen und ihrer Berufe betont. Der Papst und die Stallmagd, der Soldat und die Mutter, die Hebamme und der Arzt, der Ackerknecht und der Kaiser, der Henker und der Friedensrichter, der Schmied und der Bürgermeister, das Kind und die Alten – sie sind alle gleich. Was sie auch tun, es ist von gleichem Wert. Alle sind "Priester". Niemand hat einen Vorzug. Alle haben eine gleiche Verantwortung für eine gerechtere und für eine freiere Welt. Der Braunschweiger Physiker und Protestant Klaus Müller übersetzt Luthers Satz vom "allgemeinen Priestertum aller Gläubigen" in den urdemokratischen, heutigen  Satz vom "allgemeinen Expertentum aller Betroffenen".

Luther kann sich trotz dieser revolutionären Gleichmacherei eine solche demokratische Gesellschaft, in der alle Menschen auch Obrigkeit sind, noch nicht vorstellen. Statt "Alle Gewalt geht vom Volke aus" denkt er in den traditionellen Rollen einer starren Ständegesellschaft.

Dazu gehört die überlieferte Lehre vom gerechten Krieg, die den Fürsten wie den Soldaten humanisierende Regeln zur Gewaltbegrenzung setzen soll. Luther weiss, wie wenig sie bewirken. Deswegen ist er glücklich über die 1495 (auf einem Reichstag zu Worms) erreichte Rechtssicherheit. Damals wird, wie es heisst, "aus Lieb der Gerechtigkeit und zu (all)gemeinem Nutzen" der "Ewige Landfrieden" beschlossen. Die elenden und endlosen Fehden zwischen Städten und Feudalherren sowie eine hemmungslose Raubritterpraxis scheinen beendet – eine Hoffnung, die wir aus Abrüstungsbeschlüssen kennen. Aber luther verlor, wie häufiger, den langen Atem der Geduld. Genauer: Er traute seinem eigenen Vertrauen in Gottes Wort, dass es tut, wozu es ausgesandt ist, nicht mehr zu: "Das Wort Gottes läuft durch die Lande, wenn ich mit Philipp (Melanchthon) wittenbergisch Bier trinke!" Die neu entdeckte Gerechtigkeit dürfe nicht durch Gewalt verbreitet werden. Hier ist er strukturkonservertiv. Die verschiedenen Stände haben ihre Funktionen.

Luther hofft: In der konfliktreichen Kleinstaaterei gibt es jetzt ein "Reichsgericht" mit einem Präsidenten und 50 Beisitzern. Gewalt und Recht scheinen endlich nicht mehr in den Händen mächtiger Interessenten zu liegen. Dem in Luthers Zeit gerade reformierten Gerichtshof geht es zwar bald wie heute dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag: Einige Mächtige boykottieren ihn. Der spätere Assessor am Reichsgericht J. W. Goethe spottet nur über die Ohnmacht des Rechtes. Er steht für eine bürgerliche Rechtsverachtung, die die Gefahren der Machtzusammenballung und die Notwendigkeit einer Machtkontrolle durch das Recht nicht sehen will.

Die Neuzeit mit ihren Nationalstaaten, mit ihren immer perfekteren Waffen zeigen in Weltkriegen, in Kriegen zur Rohstoffsicherungen, in kolonialen Versklavungen und im Völkermord an dem Volk, aus dem das Erste Gebot sowie Jesus Christus stammen, wohin eine Verachtung des Rechtes in unserer Gesellschaft führt.

Die biblischen Gebote gibt es, damit vor allem die Armen und Schwachen zu ihrem Recht kommen, nicht, dass ich nur recht habe oder nur ich zu meinem Recht komme. Luther ist als Christ für sich persönlich - mit Berufung auf die Bergpredigt - zu einem weitgehenden Rechtsverzicht bereit. Dann läuft die Gewalt an einer Stelle ins Leere. Aber er will nicht auf das Recht verzichten, Leben, Ehre oder Eigentum des Nächsten zu verteidigen – auch mit dem Schwert. Schwert steht bei ihm eher für eine schützende und defensive Polizeigewalt, auf keinen Fall für Kreuzzüge, wie er in seinen Schriften zu den Türkenkriegen oft schreibt. Recht bleibt für ihn ohne Schwert, d.h. ohne Sanktionsmöglichkeiten, es auch durchzusetzen, blosses Papier.

Für Luther ist damals das Recht an das Gehäuse des Ständestaates gebunden. Für uns ist dieses Gehäuse zum Glück zerbrochen. Welche Zuhause wird das Recht in unserer Zeit finden? Die so verletzlichen Ansätze im Völkerrecht, in den Menschenrechten, in den Frauen Rechten, dem Recht auf Arbeit, auf körperliche Unversehrtheit, auf Gesundheit, auf Wohnung brauchen stets und noch lange neue Menschen und Gruppen, die für ihre Verwirklichung sich einsetzen. Nationalstaaten und die Märkte einer entfesselten Weltwirtschaft schützen diese Rechte kaum. Die Frage schreit nach unserer zeitgenössischen Antwort. Dazu brauchen wir soviel Mut wie Luther, alte Wege zu verlassen und neue einzuschlagen.

Und das in einer Zeit, in der armen Länder kaum Chancen haben, die ungerechte Weltwirtschaftsordnung zu verändern, in einer Politik, die in Tschetschenien, im Irak, in Afghanistan, in Palästina und in Israel beweist, wie untauglich die Theorie des gerechten Krieges in der Praxis ist, wie wenig die modernen Massenvernichtungswaffen "Schwerter" in der Hand einer Obrigkeit sind, die ihre BürgerInnen schützen können. Nicht nur ABC-Waffen, sondern vor allem Selbstmordattentäter, Minen, Maschinenpistolen, Raketen mitsamt ihren Produzenten und Händlern sind Massenvernichtungsmittel. Sie leisten nicht mehr das, was ihnen zugeschrieben wird.

Seit biblischen Zeiten ist Recht eine Gestalt der Ethik, die in immer neuen Anläufen neu bedacht, neu ausprobiert und neu gestaltet werden muss. Luther hat da nicht das letzte Wort. Wir hören ihm zu, sagen ja, oder auch in aller Schärfe nein zu seinem späten Judenhass und zu einer Panikreaktion gegenüber dem Bauernafstand. Dann aber sind unser Wort und unsere Tat gefragt, Recht und Unrecht zu unterscheiden und das Unrecht des Krieges, des Hungers, der Vertreibungen und Seuchen zu besiegen.

Luther setzt über alle seine Entscheidungen das Erste Gebot in der Fassung, die auch Petrus und die Apostel vor dem Gericht benutzen: "Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!" (ApGesch 5,29). So vertritt er das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Wenn dieses wegen der Brutalität, mit der Soldaten zum Waffendienst gepresst wurden, nicht durchzuhalten sei, gibt Luther den seelsorgerlichen Rat, Gott um Vergebung für eine erzwungene, unchristliche Arbeit zu bitten. Gott wisse, wie die "grossen Hansen" die Gewissen der kleinen Leute zerbrechen. Er, Gott, aber könne zerbrochene Gewissen heilen. Die christliche Tradition vom Tyrannenmord ist bis in das moderne Widerstandsrecht diesem Argument gefolgt – ohne wie Luther eine exzessive Gewaltanwendung zu legitimieren.

Auf eine fatale Weise wirksam geworden ist Luthers Betonung von Röm 13 "Seid untertan der Obrigkeit". Luther weist nicht klar genug darauf hin, dass hier nicht die Obrigkeit mit Gottes Gnaden dekoriert wird. Dann kommt es so, wie eine Kölner Zeitung (nach einem on dit) nach dem Besuch des Kaiser Wilhelm schrieb: "nach dem Eintrag in das goldene Buch der Stadt begaben sich die allerhöchsten Herrschaften" in den Dom, um dem Höchsten die Ehre zu erweisen.

Nach Paulus steht die Obrigkeit auch unter Gottes Gebot, sie ist "von Gott eingesetzt", Böse zu bestrafen, Gute zu loben, Steuern für das Gemeinwohl einzuziehen. Mit dem bald erwarteten Weltende wird sie ausgedient haben. Regierungen sind abgängig. Paulus schreibt nach Rom, wo Kaiser Nero blutig und höhnisch die winzigen jüdischen und christlichen Gemeinden drangsaliert. Paulus will wie Luther deutlich machen: Gegenüber dem brutalsten Machthaber hat ein anderer das erste und das letzte Wort. Wie Israel mit Pharao macht die christliche Gemeinde die Erfahrung: Da mag sich einer wie Nero "Gott und Herr" nennen, seine Selbstvergötzung auf allen Münzen in Umlauf bringen und seine Anbetung von allen verlangen. Wer Jesus ernstnimmt, beginnt seinen Widerstand gegen diese Anmassung nicht mit Gewalt, sondern gut biblisch mit relativierendem Gelächter:

"Alle Götter der Menschen sind Nichtse....(Ps 96,59) Sie sind ein Machwerk von Menschenhänden gemacht; sie haben einen Mund und können nichts reden, sie haben Augen und sehen nichts, sie haben Ohren und hören nichts, sie haben Hände und können nicht anpacken, sie haben Füsse und können nicht auf andere zugehen" (Ps 115). So sind sie, die sich mit Gott oder der Vorsehung und deren angeblicher Mission verwechseln. Aber wir sind Menschen. Wir haben einen Mund, den wir aufmachen können, Ohren, mit denen wir die Schreie der Opfer einer ungerechten Wirtschaftsordnung hören, Augen, Menschen nicht zu übersehen, die eine bessere Welt benötigen als sie ihnen – im Gegensatz zu uns – offensteht. Hände haben wir zum Anpacken, auch dazu, sie Feinden zur Versöhnung oder zum Kompromiss zu reichen.

Friedrich Nietzsche verlangt, dass der Übermensch erscheine im selben Augenblick als er fordert, zerbrecht die Alten Tafeln. Luther legt – bis heute lesenswert – die Zehn Gebote vom Ersten Gebot her aus. In der Illegalität und in der Haft beginnt Dietrich Bonhoeffer eine Ethik zuschreiben. Diese erneute Übersetzung von Gottes Gebot in die Gegenwart geschieht in einer Zeit, als ebenso antisemitisch wie mörderisch "die allerhöchsten Herrschaften", unterstützt von Gleichgültigkeit und mitläuferhafter Angst, Leben und Würde der Mitmenschen zur verachten.

IV Die Zehn Gebote für heute

Thomas Mann nennt die zehn Gebote "das Ewig-Kurzgefasste, das Bündig-Bindende, Gottes gedrängtes Sittengesetz". "Ewig" heisst in der Bibel immer: Alle Zeiten begleitend, zu allen Zeiten gültig, nicht "jenseitig", sondern immer zeitgenössisch und sehr irdisch. "Bündig-Bindend" heisst: Das Zehnwort ist in einem Bündnis Gottes mit seinem Volk Israel verankert. Mose sagt den Frauen, Männern und Kindern Israel: "Nicht mit unseren Vorvätern hat Gott diesen Bund geschlossen, sondern mit uns hier, die wir alle heute noch am Leben sind" (5.Mose 5,4). Jede Generation ist neu von Gott angeredet. Nicht nur Bewahrung des Bibelwortes, sondern seine aktuelle Bewährung ist unsere Aufgabe. Mit dem Bund, den Gott bis heute unauflösbar mit seinem Volk geschlossen hat und den das Neue Testament bestätigt, wird Gottes Konzept verbindlich, wie er sich ein menschlichen Leben, ein menschliches Zusammenleben, ein menschliches Überleben und die Gestaltung seiner Welt vorstellt – kurz: "Gottes gedrängtes Sittengesetz!"

  1. Luther sagt, dass im Ersten Gebot alle zehn Gebote stecken, ja alles das, was Glauben heisst. Gottvertrauen gibt das Vertrauen, uns anders zu verhalten als es die herrschenden Verhaltensweisen nahelegen. Deshalb gehe ich vom ersten Gebot aus und nehme die verbindliche Stimme dessen ernst, dessen Ebenbild Sie und ich sind. Er hat Menschen von Zwängen befreit, Sklaven zu halten oder zu sein, Gewalt anzuwenden, im Mitmenschen den Feind zu sehen. Er hat Pharaos und Neros zurechtgestutzt. Der befreiende Gott will befreite und befreiende Menschen. Deshalb liest und versteht jede Generation die zehn Gebote neu. Wo ich als Kind lernte "Du sollst" oder "Du sollst nicht" steht wörtlich übersetzt "Du wirst" oder "Du wirst nicht".
  2. Du wirst dir keine Bilder, Projektionen oder Klischees machen, schon gar keine Feindbilder – weder von Gott noch vom Menschen, um ihnen besinnungslos zu verfallen. Das Geheimnis Gottes wie das des Menschen ist grösser als unsere Worte ausdrücken können. Ihrer beider Geheimnis zu respektieren, heisst Gott und den Menschen zu respektieren – gerade auch in ihrem überraschenden Anderssein. Sie nicht im Griff, sie nicht in der Hand zu haben, also sie nicht zu manipulieren. Du wirst den lebendigen Gott und den lebendigen Menschen sehen zB im Menschen Jesus von Nazaret und in jedem seiner Geschwister.
  3. Du wirst den Namen Gottes nicht missbrauchen, um mit ihm politische, kommerzielle oder egoistische Interessen oder Gewalt zu beweihräuchern oder zu verstecken.
  4. Du wirst den Sabbattag, den siebten Tag heiligen, also Abstand nehmen wie Gott vom Alltagswerk und nicht alles tun, was du tun kannst.
  5. Du wirst Vater und Mutter ehren und damit den Generationenvertrag nicht vernachlässigen. Denn mit dir fängt die Geschichte weder an noch hört sie mit dir auf. Wir leben von vielfachen Erbschaften der Vorfahren. Unsere Enkel leben in und von der Welt, die wir ihnen zurücklassen.
  6. Töten wirst du nicht, denn "wir sind Leben inmitten von Leben, das auch leben will". "Ehrfurcht vor dem Leben" (Albert Schweitzer) ist angesagt - gerade vor dem Leben Unschuldiger, die in modernen Kriegen und im modernen Verhungernlassen um ein Vielfaches mehr getötet werden als Soldaten getötet werden.
  7. Deine Partnerbeziehung wirst du nicht missachten oder zerbrechen, um Menschen wie Waren auszutauschen.
  8. Stehlen wirst du nicht – weder die Rohstoffe oder Lebenschancen anderer Länder noch das Eigentum oder die Ehre anderer Menschen, schon gar nicht die Schwachen und Armen derart zu berauben, dass wir hinnehmen, wie 20 % der Menschheit – und wir gehören dazu – 80 % der Güter dieser Erde für uns verbrauchen. Als die grossen Diebe seiner Zeit nennt Luther die grossen Kapitalgesellschaften wie die Fugger und Welser. Sie bestimmen die Wahlen von Kaisern und Städten, sie bestimmen die Politik. Sie vergreifen sich am Reichtum fremder Völker. Denen bezahlen wir heute zu wenig für ihre Rohstoffe und verweigern ihnen die Mitsprache und Märkte, die wir für uns beanspruchen.
  9. Falsches über einen anderen Menschen, eine andere Kultur, Religion oder Überzeugung wirst du nicht sagen und auch nicht dulden. "Die Würde des Menschen ist unantastbar" – das ist eine Konsequenz aus dem biblischen Grundsatz, dass jeder Mensch des einen Gottes unverwechselbar einmalig kostbares Ebenbild ist. Das zivilcouragiert zu vertreten, gibt zB Türken, Juden, Behinderten, Alten oder anderen Minderheiten mehr freie Luft zum Atmen.
  10. Begehren wirst du das nicht, was andere haben – sei es Haus oder Lebenspartner, MitarbeiterInnen oder Arbeitsmöglichkeiten. Die Gier mehr zu haben wirst du verlernen, um als menschlicher Mensch mehr zu sein..