Gregory Baum und die jüdisch-christlichen Beziehungen

Der weithin bekannte Theologe Gregory Baum ist am 18. Oktober 2017 in Montreal verstorben. Als Mitglied des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen nahm er am Zweiten Vatikanischen Konzil teil (1962-1965) und leistete einen wesentlichen Beitrag zur Konzilserklärung Nostra Aetate. Der nachfolgende Text würdigt diesen Abschnitt seines Lebens in der Geschichte des christlich-jüdischen Dialogs.[1] Verfasst hat ihn der katholische Theologe Jean Duhaime, Vize-Präsident der christlich-jüdischen Dialoggruppe in Montreal und verantwortlicher Redakteur der französischsprachigen Ausgabe von JCRelations.net.

Élisabeth Garant, Generaldirektorin des Zentrums für Gerechtigkeit und Glauben (Centre for justice and faith) bat mich um einige Worte über den Beitrag von Gregory Baum, den er zur Öffnung der katholischen Kirche hin zum Judentum geleistet hat, insbesondere während des Zweiten Vatikanischen Konzils.

Unsere 1971 gegründete Dialoggruppe ist eine von vielen Gruppen, die in der Folge der veränderten Haltung der Kirche gegenüber den nicht-christlichen Religionen während des Konzils entstanden sind und wie sie in der Erklärung Nostra Aetate, die von Papst Paul VI. 1965 verkündet wurde, ihren Niederschlag fand. Gregory Baum spielte in der Erarbeitung dieser Erklärung eine maßgebliche Rolle, die er in dem Sammelwerk Vatican II au Canada – enracinement et réception und erst kürzlich in der Geschichte seines theologischen Werdegangs beschrieben hat.[2] 

An einige wenige Aspekte in diesem Zusammenhang sollte erinnert werden. Die Tragödie der Shoah während des Zweiten Weltkriegs hat das Gewissen der Christenheit zutiefst erschüttert. Dies hat eine Gruppe von Christen und Juden dazu bewegt, im Jahre 1947 die „Zehn Punkte von Seelisberg“ zu verfassen, das Gründungsdokument des jüdisch-christlichen Dialogs nach dem Krieg. Diese Zehn Punkte richteten sich unmittelbar an die christlichen Kirchen und schlugen konkrete Maßnahmen vor, um – wie es der Historiker Jules Isaac formulierte – „die Lehre der Verachtung“ gegenüber den Juden zu beenden und „die brüderliche Liebe zum leidgeprüften Volk des Alten Bundes zu fördern“.

Ebenso gilt es sich zu erinnern, dass der apostolische Gesandte in der Türkei, Bischof Angelo Giuseppe Roncalli, vielen europäischen Juden bei ihrer Flucht vor dem Nazi-Regime geholfen hatte. Als er unter dem Namen Johannes XXIII. zum Papst gewählt wurde, berief er das Konzil. Nach einer Begegnung mit Jules Isaac (Okt. 1958) und aufgrund entsprechender Bitten aus Europa und Amerika bat er den deutschen General Augustin Bea sowie den neuen Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen einen Textentwurf über das Verhältnis der Kirche zu Juden und Judentum zu erarbeiten.

Zudiesem Zeitpunkt war Gregory Baum 37 Jahre alt. Geboren in eine Familie „jüdischen Ursprungs und protestantischer Kultur“[3] war er 1939 aus Nazi-Deutschland geflohen. Er ließ sich in Kanada nieder, konvertierte zum Katholizismus (1946), trat dem Orden der Augustiner bei (1947) und wurde zu weiterführenden theologischen Studien an die Universtität Fribourg (Schweiz) geschickt. Das Thema seiner Dissertation war vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen die Lehre der Päpste zur Ökumene.[4] Einer Bitte entsprechend hielt er in Fribourg auch eine Reihe von Vorlesungen über die Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und dem Judentum. Tief bewegt von der Lektüre des Buches Jesus and Israel, in dem Jules Isaac den christlichen Antisemitismus als Gegenteil der Lehre Jesu beschrieb, widmete er sich dem Studium jener Texte im Neuen Testament, die von den Juden handelten.[5] 

Seine Dissertation wurde in Rom mit Aufmerksamkeit wahrgenommen und man lud ihn als Experte in den neuen Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen ein, hauptsächlich um einen Text zur Ökumene für das Konzil vorzubereiten. Als aber Kardinal Bea der Gruppe mitteilte, Papst Johannes XXIII. wünsche die Erarbeitung eines Grundrisses des Verhältnisses der Kirche zum Judentum, bot Gregory Baum seine Mithilfe an. Man beauftragte ihn, ein kurzes Arbeitspapier zu erstellen, „wofür er aufgrund seiner Abstammung, Erfahrung und seiner Ausbildung gut geeignet schien“.[6] 

In seinem Papier, das er dem Rat im Februar 1961 vorstellte, trieb er die Idee voran, dass die „jüdische Frage“ für die Kirche von theologischem Gewicht ist und als solche unter Zurückstellung patristischer und mittelalterlicher Vorstellungen von den Juden zu behandeln sei. Stattdessen plädierte dafür, die Überlegung des Heiligen Paulus zum „Geheimnis“ der Zurückweisung der Frohen Botschaft durch weite Teile des Volkes Israel (Römer 11,25) wieder aufzugreifen. Seiner Meinung nach sollte eine Erklärung des Konzils drei Punkte bedenken[7]:

1) Die Kirche Jesu Christi hat ihrem Ursprung und ihrer Natur nach eine enge Beziehung mit dem alten Israel. Aus christlicher Sicht hat der „neue Bund den alten bestätigt, erneuert und transzendiert und (…) das Neue Testament das Alte Testament erfüllt und übertroffen, wenngleich es nicht als ungültig abgelegt ist“.

2) Es waren nicht “die” Juden in ihrer Gesamtheit, die Jesus als Christus zurückgewiesen haben, da er von einigen unter ihnen als Erlöser angenommen wurde: „Es wäre daher ungerecht, die Juden als eine verfluchte Rasse oder ein verworfenes Volk zu betrachten“.

3) Gemäß Paulus sollte die Kirche ihre “Hoffnung auf Israels letztendliche Erlösung” erklären und bis dahin „sollte die christliche Haltung zu seinem jüdischen Nachbar eine der Liebe und des Respekts sein. Antisemitismus sollte verurteilt werden“.

Diese Vorschläge bildeten die Grundlage für eine erste Fassung dessen, was später Nostra Aetate genannt wurde. Das Dokument wurde bis zur endgültigen Version (der fünften) mehrfach diskutiert und überarbeitet, vom Konzil schlussendlich angenommen und von Papst Paul im Oktober 1965 verkündet. Die von Gregory Baum vorgeschlagene Ausrichtung wurde weitgehend beibehalten.

In einem kürzlich geäußerten Kommentar zu dem Text, der einer der kürzesten, aber bemerkenswertesten Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils ist, bemerkte Gregory Baum zutreffend, dass die Überlegungen des Konzils die Kirche zu der Einsicht geführt habe, anzuerkennen, dass „der alte Bund mit dem Volk Israel immer noch gültig ist und die Quelle göttlicher Gnade für die zeitgenössischen Juden“ darstellt.[8] 

Nostra Aetate war ohne Frage ein Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Juden und Katholiken und hat ebenso auf die anderen christlichen Kirchen Einfluss ausgeübt. Diese Erklärung ist für uns seit mehr als 50 Jahren eine Inspiration gewesen und wird dies auch noch für eine lange Zeit bleiben.

Natürlich hat sie nicht alle Probleme gelöst, was Gregory Baum als einer der ersten erkannt hat. Zu den Fragen, die noch einer Klärung bedürfen, benannte er beispielsweise jene einer präzisen theologischen Ausarbeitung des Verhältnisses zwischen Kirche und Judentum, oder aber das Verhältnis zwischen dem Alten Bund mit Israel, „niemals gekündigt“, und dem Neuen Bund mit der Kirche. Ebenso stellte er die Frage, wie eine der Tradition getreue Christologie formuliert werden könne, die gleichwohl dem Judentum als „Schwesterrreligion“[9] einen theologischen Platz einräume.

Es ist ebenfalls weithin bekannt, dass Nostra Aetate jegliche Bezugnahme zur politischen Lage bewußt vermied, als man das Verhältnis zwischen Kirche und Judentum diskutierte. Gleichwohl bleibt die Frage nach Israel ein gewichtiges Problem. Gregory Baum kommt darauf in einem Kapitel seines letzten Buches zu sprechen, das einer „Theologie nach der Zweiten Intifada“[10] gewidmet ist. Darin zeigt er sich äußerst besorgt über die Behandlung der Palästinenser seitens der israelischen Machthaber und befasst sich mit jüdischen Stimmen, die die Rechte der Palästinenser verteidigen sowie mit dem Schicksal der christlichen Kirchen in Israel und Palästina. In diesem Zusammenhang stehen seine Ansichten der Befreiungstheologie gewiss näher als dem christlich-jüdischen Dialog, verdienen aber gleichwohl alle Aufmerksamkeit bei jenen, die im Dialog engagiert sind.

Im Namen solcher Menschen möchte ich mich für Gregory Baums Beitrag zu jenem „außerordentlich historischen Ereignis“ bedanken, welches das Zweite Vatikanische Konzil war und für die theologische Bewegung, die die Kirche dazu brachte, sich der Welt in mehrfacher Hinsicht zu öffnen, einschließlich einer „Würdigung des Judentums als zeitgenössichem Erbe des alten göttlichen Bundes“.[11] Dies ist keine Fügung der Geschichte, sondern ein Werk des Heiligen Geistes.

 

Gregory Baum

1923 - 2017

(Photo: François Gloutnay,  Présence)

[1] Der Text basiert auf einer Ansprache, die im Centre for justice and faith in Montreal am 27. Oktober 2017 während eines Abendgebets in Erinnerung an Gregory Baum vorgetragen wurde.

[2] Gregory Baum, “Un souvenir de Nostra Aetate” in G. Routhier (éd.), Vatican II au Canada – Enracinement et réception (Montréal, Fides, 2001), p. 449-460; And the Oil has Not Run Dry (Toronto and Montreal, McGill Queen’s, 2017), p. 40-48. Siehe auch Gilles Routhier, “Contributions canadiennes à la déclaration Nostra Aetate de Vatican II”, in J. Duhaime et G. Routhier (éds.), Juifs et chrétiens au Canada 50 ans après Nostra Aetate (Montréal, Fides, 2017), p. 48-52.

[3] Gregory Baum, And the Oil Has Not Run Dry, p. 15.

[4] Gregory Baum, That they may be one: a study of papal doctrine (London, Bloomsbury, 1958).

[5] Gregory Baum, The Jews and the Gospel (New York, Newman, 1961). Second revised edition: Is the New Testament antisemitic? (Glen Rock [N.J.], Paulist Pr., 1965).

[6] John M. Oesterreicher, “Declaration on the Relationship of the Church to the Non-Christian Religions”, in H. Vorgrimler (ed.), Commentary on the Documents of Vatican II, vol. III (Montreal, Palm Publ. 1968), p. 18.

[7]Ibid.

[8] Gregory Baum, And the Oil Has Not Run Dry, p. 42-43.

[9] Gregory Baum, “Un souvenir de Nostra Aetate”, p. 460.

[10] Gregory Baum, And the Oil Has Not Run Dry, p. 149-153. Siehe auch: Gregory Baum, Hubert Frankemölle, Christoph Münz (Hg.), "Frieden für Israel. Israeli Peace-and-Human-Rights-Groups in Israel." (Paderborn/Frankfurt 2002).

[11]Ibid., p. 189.

Editorische Anmerkungen

Aus dem Englischen übersetzt von Christoph Münz.