Ein Gott, der Emotionen empfindet, sogar Trauer und Schmerz? Was für die griechische Philosophie mit ihrem Grundaxiom der »Apathie Gottes«[1] undenkbar ist, bildet in der Vorstellungswelt der Hebräischen Bibel und der später entstandenen spätantiken jüdischen Literatur ein wichtiges Theologumenon. Wie Abraham J. Heschel bereits in seiner Dissertation »Das prophetische Bewußtsein«, erschienen 1935, deutlich gemacht hat, ist der Gott Israels ein leidenschaftlicher Gott, der vom Geschick seines Volkes unmittelbar betroffen ist und darauf in höchst emotionaler Art und Weise reagiert.[2] Besonders eindrücklich in diesem Kontext ist das Motiv, wonach Gott auf so elementare Art und Weise mit seinem Volk verbunden ist, dass er angesichts von Israels Erfahrungen der Zerstörung und des Krieges sogar weinen kann – so eine Aussage in Jer 14,17, wo JHWH in einer Ich-Rede sagt, dass seine Augen vor Tränen überfließen, da »die Tochter seines Volkes« unheilbar verwundet ist.
Dieser Beitrag möchte aus der Vielzahl der Traditionen zur göttlichen Empathie, die in den letzten Jahren bereits im Interesse der alttestamentlichen[3] und judaistischen Forschung[4] standen, einen besonderen Blick auf das Motiv des Weinens Gottes[5] lenken und dieses – wenn auch exemplarisch, so dennoch über die bisherige Forschung hinausführend – in einen umfassenderen traditionsgeschichtlichen Zusammenhang stellen. Vor diesem Hintergrund möchte dieser Beitrag einige grundlegende Perspektiven dieser Vorstellung aus der Hebräischen Bibel (I.), der rabbinischen Literatur (II.) sowie der Überlieferung der frühen jüdischen Mystik in den Hekhalot-Texten (III.) darlegen und nach ihrer theologischen Funktion fragen: Wo und in welcher Form begegnet dieses Motiv und warum erzählen die Überlieferung der Hebräischen Bibel sowie die späteren jüdischen Texte vom Schmerz Gottes? Ein knappes Fazit wird den Beitrag abschließen (IV.).
I. Die Hebräische Bibel: Gottes Weinen im Jeremiabuch
Der prominenteste Beleg für Gottes Mitleiden am Geschick seines Volkes, der wohl in der Hebräischen Bibel geradezu singulär ist, findet sich in der Überlieferung des Jeremiabuches in Jer 14,14-18 in einer Gottesrede.[6] JHWH wendet sich hier direkt an Jeremia und entlarvt die Falschpropheten mit ihren vermeintlichen Heilsverkündigungen.
14 Aber der HERR sprach zu mir: Die Propheten weissagen Lüge in meinem Namen; ich habe sie nicht gesandt und ihnen nichts befohlen und nicht zu ihnen geredet. Sie predigen euch falsche Offenbarungen, nichtige Wahrsagung und ihres Herzens Trug.
15 Darum spricht der HERR: Wider die Propheten, die in meinem Namen weissagen, obgleich ich sie nicht gesandt habe, und die dennoch predigen, es werde weder Schwert noch Hungersnot in dies Land kommen: Solche Propheten sollen sterben durch Schwert und Hunger.
16 Und die Leute, denen sie weissagen, sollen auf den Gassen Jerusalems liegen, vom Schwert und Hunger hingestreckt, und niemand wird sie begraben, sie und ihre Frauen, Söhne und Töchter; und ich will ihre Bosheit über sie ausschütten.
17 Und du sollst zu ihnen dies Wort sagen: Meine Augen fließen über von Tränen, unaufhörlich Tag und Nacht; denn die Jungfrau, die Tochter meines Volks, ist völlig zerschlagen und unheilbar verwundet.
18 Gehe ich hinaus aufs Feld, siehe, so liegen dort vom Schwert Erschlagene; komme ich in die Stadt, siehe, so liegen dort vor Hunger Verschmachtete. Sogar Propheten und Priester müssen in ein Land ziehen, das sie nicht kennen.[7]
Dem positiven Zukunftsbild von Propheten, die aber keine Autorität durch eine Entsendung durch JHWH haben, hält Gott die Ankündigung einer militärischen Katastrophe entgegen, die sowohl diese Heilsweissager als auch das gesamte Volk betreffen wird. Die Falschpropheten und ihre Adressaten werden den Tod durch das Schwert bzw. den Hunger finden (V. 15f.18); zudem wird Priestern und anderen Propheten (es ist zu vermuten, dass sich dies auf echte JHWH-Propheten bezieht), das Exil angedroht (V. 18b). Diese Unheilsansagen bilden einen Rahmen um V. 17, in dem das gesamte Geschehen aus der Perspektive Gottes beleuchtet wird. JHWH selbst, auch wenn er das Geschehen selbst verursacht hat (vgl. V. 19: »Warum hast du uns denn so geschlagen …«), ist angesichts der tiefen Verwundung der Tochter seines Volkes (gemeint ist wohl Jerusalem) emotional so tief betroffen, dass Tag und Nacht Tränen aus seinen Augen fließen.[8] Somit begegnet Israel – vermittelt über das prophetische Wort – dem Schmerz seines Gottes. Die Funktion des Motivs ist offensichtlich, insofern Gottes Weinen sein Mitgefühl mit dem Geschick seines Volkes zum Ausdruck bringt, das dann wiederum den Ausgangspunkt für das göttliche Rettungshandeln darstellen kann (vgl. Jer 31,20; s.a. Jes 49,15; 66,13).[9] Das Motiv bildet einen Kontrapunkt zu der Vorstellung, wonach Gott sein Volk für seine Übertretungen mit der militärischen Katastrophe bestraft hat, und so zeigt sich hier ein extrem ambivalentes Gottesbild, das letztlich aber versucht, die destruktiven Aspekte desselben in eine positive Dynamik zu stellen.
II. Gottes Schmerz und Trauer in der rabbinischen Literatur
Während das Motiv des Weinens Gottes angesichts der Not seines Volkes in der biblischen Literatur nur eine marginale Rolle spielt,[10] ist es in der rabbinischen Überlieferung breit belegt. Es ist das Verdienst des Judaisten Peter Kuhn, die einschlägigen Passagen aus Talmud und Midrasch zum Motiv der Klage und Trauer Gottes einer eingehenden Untersuchung unterzogen zu haben. Die 75 Texte bzw. Textgruppen, die der Autor in seinem Werk gesammelt, übersetzt und kommentiert hat, bezeugen die Relevanz dieser Vorstellung vom klagenden Gott im Rahmen der jüdischen Literatur aufs Deutlichste und belegen deren große Bedeutung im Kontext der jüdischen Vorstellungswelt. Peter Kuhn konnte zeigen, dass das Motiv der Trauer und Klage Gottes die gesamte »Geschichte« Israels – von Adams Fall bis in die Gegenwart der Rabbinen – durchzieht. Da jedoch die überwiegende Mehrzahl der Texte Gottes Klage mit der Einnahme Jerusalems und der Zerstörung des Ersten bzw. Zweiten Tempels sowie dem Exil Israels verbindet, ist es wahrscheinlich, dass die Ereignisse des Jahres 70 n. Chr. auch in historischer Hinsicht den Anlass für die Entstehung dieser Überlieferungen bildeten. Diese Annahme wird auch dadurch unterstützt, dass die frühesten Belege, die aus der Zeit unmittelbar nach der Zerstörung des Zweiten Tempels zu stammen scheinen, explizit auf dieses Motiv rekurrieren. Ein Schwerpunkt der Überlieferungsbildung zeigt sich dann in Texten, die in die Zeit zwischen der Mitte des 3. Jh. n. Chr. bis zur Mitte des 4. Jh. zu datieren sind.[11] Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, reagieren solche Überlieferungen auf den Anspruch der immer stärker werdenden Kirche, an die Stelle des alten Israel getreten zu sein, das von seinem Gott wegen der Nichtanerkennung Jesu von Nazareth als Messias definitiv verlassen wurde. Als Beweis für diese geschichtstheologische Weltdeutung dient die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 n. Chr. Die Kirche versteht sich somit als »verus Israel«, das das alte Gottesvolk substituiert.[12]
Innerhalb dieses breiten Rahmens ist auch das Motiv des Weinens Gottes in einer Vielzahl von rabbinischen Texten überliefert. So enthalten 33 der insgesamt 75 Texte bzw. Textgruppen, die Peter Kuhn zusammengestellt hat, dieses Bild. Aus der Vielzahl der Belege sei hier exemplarisch auf eine Überlieferung aus Pesikta Rabbati 29 (136b) verwiesen, da diese explizit Jer 14,17 aufgreift:
Und du sollst dies Wort sprechen: So spricht der Herr: ›Meine Augen sollen von Tränen rinnen des tags und des nachts …‹ (Jer 14,17). Die Schrift macht nicht klar, ob ›Meine Augen sollen von Tränen rinnen‹ der Prophet spricht oder nicht. Aber was sie (weiter) sagt: ›des tags und des nachts''– das ist doch unmöglich für Fleisch und Blut, tags und nachts (ohne Essen und Schlaf) zu weinen. Und sie (die Schrift) sagt (ferner): ›Wer macht mein Haupt zu Wassern und mein Auge zu einer Tränenquelle, damit ich beweine des tags und des nachts die Erschlagenen der Tochter meines Volkes!‹ (Jer 8,23). Daraus ist zu entnehmen, dass sie (die Schrift) vom Heiligen, gepriesen sei Er, spricht; denn vor Ihm gibt es keinen Schlaf; es heißt ja: ›Siehe, es schlummert noch schläft nicht der Hüter Israels‹ (Ps 121,4).[13]
Israels Begegnung mit dem Schmerz Gottes, der sich in seinem Weinen ausdrückt, wird hier über das Schriftstudium vermittelt. Die Auslegung bezieht sich zunächst auf die Ambivalenz des zu interpretierenden Textes, wonach die Aussage vom Rinnen der Tränen auch als Aussage des Propheten verstanden werden kann. Diese Interpretation wird dann aber abgelehnt, da ein Mensch, der zum Überleben Essen und Schlaf braucht, letztlich nicht »des tags und nachts«, also permanent, weinen kann. Nur Gott, der – so Ps 121,4 – nicht schläft, kann somit hier gemeint sein. Wie Peter Kuhn deutlich gemacht hat, übernimmt »Gott einerseits ganz und gar menschliche (rabbin.) Trauerbräuche …, [vollzieht] sie aber andererseits in kosmischen Ausmaßen … und [hält] so in der stärksten Vermenschlichung seiner Trauer sein übermenschliches Wesen durch«.[14]
Ein besonders eindrücklicher Midrasch vom Weinen Gottes wird in bBer 59a erzählt:
R. Qatina war einst auf dem Weg. Als er (dabei) an der Tür des Hauses eines Totenbeschwörers vorbeikam, da erdröhnte ein Getöse. Er sagte: Weiß denn dieser Totenbeschwörer, was dieses Getöse (bedeutet)? Da antwortete er ihm: Qatina, Qatina, warum sollte ich es nicht wissen: In der Stunde, da der Heilige, Er sei gepriesen, seiner Kinder gedenkt, wie sie in Not unter den Völkern der Welt leben, da lässt er zwei Tränen ins große Meer fallen, und der Schall davon tönt von einem Ende der Welt bis zum anderen, und das (ergibt) das Getöse.
Der Totenbeschwörer wird hier zum Mäeuten, der R. Qatina gleichsam die Begegnung mit dem klagenden Gott erschließt. Dass dem Motiv von Gottes Klage auch in der rabbinischen Literatur diese Funktion zukommt, zeigt ein Midrasch aus dem Werk Seder Eliahu Rabba 30 [28] 149, wo es heißt:
R. Çadoq trat einmal in das Haus des Heiligtums ein und sah, wie es zerstört war. Da sprach er: Mein Vater, der du in den Himmeln bist! Du hast deine Stadt zerstört, hast deinen Tempel verbrannt, hast dich zur Ruhe gesetzt und bist sorglos und ruhig geblieben! Augenblicklich schlummerte da R. Çadoq ein und erblickte (im Traum) den Heiligen, gepriesen sei Er, wie er in Trauerrede dastand, und die Dienstengel, die nach ihm Trauerworte sprachen, und Er sprach: Wehe (über dich), … Jerusalem![15]
Vorwurfsvoll richtet sich R. Çadoq (ein Tannait der 1. Generation, ca. 2. Hälfte des 1. Jh. n. Chr.) in dieser Szenerie, die eindeutig die Zerstörung Jerusalems und des Tempels voraussetzt, an seinen Gott, wenn er ihn für die Zerstörung Jerusalems und des Heiligtums verantwortlich macht und ihm zudem vorwirft, von diesen Ereignissen unberührt zu sein. Mit der Aussage, dass Gott selbst die Zerstörung des Tempels bewirkt habe, um Israel für seine Sünden zu bestrafen, erscheint R. Çadoq als Vertreter der rabbinischen Vorstellungswelt, wie sie in Midrasch und Talmud häufig als Erklärungsmodell für die Zerstörung Jerusalems belegt ist.[16] Wenn diese Position auch an keiner Stelle im Verlauf der Erzählung korrigiert wird, so erfährt R. Çadoq allerdings bei seiner Charakterisierung von Gottes Reaktion angesichts der Widerfahrnisse seines Volkes Widerspruch. Denn nun sieht er in einem Traumgesicht einen himmlischen Trauergottesdienst, bei dem Gott selbst einen klagenden Weheruf über Jerusalem spricht, woraufhin die Engel respondieren. R. Çadoq begegnet der Trauer Gottes somit in einem visionären Zustand, und die Überlieferung kontrastiert zwei unterschiedliche Gottesbilder: Dem unbewegten, a-pathischen, affekt- und leidenschaftslosen Gott steht der trauernde, leidende und von den menschlichen Widerfahrnissen betroffene »pathetische« Gott gegenüber. Gottes »Apathie« wird dabei negativ konnotiert, wohingegen seine Trauer und Klage positiv gedeutet werden. Sie sind – so legt es der Kontext zunächst einmal nahe – als Ausdruck für Gottes Mitleid und für seine Verbundenheit und Anteilnahme am Geschick seines Volkes zu verstehen und implizieren somit, dass Israel auch weiterhin – trotz seiner Schuld – von der Liebe Gottes umschlossen bleibt. Somit besteht – um einen Begriff aus der Studie von Peter Kuhn aufzunehmen – eine »Schicksalsverbundenheit zwischen Gott und Volk«[17].
Vom Trost, den Israel durch das Motiv der göttlichen Anteilnahme an seinem Geschick erfährt, spricht explizit ein Midrasch in Seder Eliahu Zutta SEZ 21 (36). Danach ist Gott über seine eigene Tat der Tempelzerstörung so unglücklich, dass fortan auch er sein himmlisches Heiligtum nicht mehr betreten will. Solche Texte offenbaren eine »Tragödie« Gottes. Er selbst war es, der sein Volk in die Katastrophe der Tempelzerstörung schicken musste, weil es gesündigt und ihn verlassen hatte. Damit entspricht Gott zwar seiner Gerechtigkeit; er entfremdet sich aber insofern von sich selbst, als er nicht mehr seinem eigentlichen »Gefühl« nach Israel ein liebender Vater sein kann. Gerade in dieser Spannung liegt nun aber auch das Hoffnungspotenzial dieses Motivs, denn Israel weiß, dass Gott nicht »auf immer in einer von ihm selbst ursprünglich nicht gewollten Lebensform bleiben [wird]. Seine eigene ›Erlösung‹ wird aber auch die Erlösung Israels notwendig mit einschließen, da das Schicksal des Volkes dem Gottes streng korrespondiert.«[18] Dieser Sachverhalt artikuliert sich in dem oben zitierten Midrasch, wenn das Motiv vom »unbehausten Gott« durch Vorstellungen von Israels Erlösung gerahmt wird.
III. Gottes Weinen in der frühen jüdischen Mystik: Henochs Himmelsreise vor den Thron Gottes
Eine weitere Entwicklung des Motivs vom Leiden und Schmerz Gottes findet dann in den Überlieferungen der frühen jüdischen Mystik in der sog. Hekhalot-Literatur statt.[19] In diesem Kontext nimmt eine Überlieferung, die in §§ 68-70 der Schrift »3. Henoch« tradiert ist, eine Schlüsselrolle ein.[20] Dieses Werk erfuhr seine Endredaktion in der Zeit zwischen 700 und 900 n. Chr.; als Abfassungsort ist Babylonien wahrscheinlich.[21] Der Text spielt innerhalb der Hekhalot-Literatur aber insofern eine Sonderrolle, als er »eine große Affinität zur apokalyptischen und klassisch-rabbinischen Traditionen«[22] aufweist; diese sind als ein Spätprodukt der Entwicklung der Hekhalot-Überlieferungen anzusehen.[23]
Erzählt wird von R. Yishmacel, einem Rabbinen aus dem 2. Jh. n. Chr., der eine Himmelsreise unternimmt, in der er die himmlische Welt Gottes mit ihren Geheimnissen schauen darf. Dabei ist ihm eine Engelsgestalt namens »Metatron« behilflich; dieser fungiert als eine Art »Reiseführer«, der mit ihm durch die himmlischen Räume wandert. Dieser Metatron ist kein anderer als der vorsintflutliche Henoch, der in einen Engel verwandelt wurde (daher der Name des Textes; vgl. Gen 5,24). Es ist anzunehmen, dass das Motiv der Himmelsreise als eine Chiffre für einen religiös-meditativen Zustand fungiert, der durch Askese und Schriftstudium evoziert werden kann.
R. Yishmacel reist also in die himmlische Welt. Nachdem er dort zunächst die Geheimnisse der Schöpfung schaut, so z.B. die Bewegungen der Himmelskörper oder den Ort, an dem Regen, Hagel und Schnee aufbewahrt sind, bekommt er schließlich Einblick in die künftigen Ereignisse der Geschichte. R. Yishmacel wird von Metatron vor den Thron Gottes geführt. Die Schau der Gottheit, die hier erfolgt, fokussiert auf die »Hand Gottes«:
R. Yishmacel sagte:
Es sprach zu mir Meṭaṭron:
Komm, und ich zeige dir die Rechte Gottes,
die nach hinten gestreckt ist wegen der Zerstörung des Tempels.
Alle Arten von Glanzlichtern strahlen von ihr auf,
und mit ihr wurden die 955 Himmel geschaffen.
Sogar die Serafim und die Ofannim dürfen sie nicht anblicken
bis zum Tag der künftigen Erlösung.
Ich ging mit ihm,
er nahm mich an seine Hand,
hob mich empor auf seinen Flügeln
und zeigte sie mir
mit allen Arten von Lob, Jubel und Preis:
Kein Mund kann ihr Lob künden,
kein Auge sie anblicken
wegen der Fülle ihrer Größe,
ihres Preises,
ihrer Würde,
ihrer Herrlichkeit
und ihrer Pracht (§ 68 Anfang).[24]
Gottes Hand präsentiert sich hier als eine Art himmlisches Mysterium, das in der gegenwärtigen Weltzeit weder von Engeln noch von Menschen angeblickt werden kann – umso überraschender ist es freilich, dass hier nun R. Yishmacel die Schau dieses Geheimnisses angekündigt wird. Unverkennbar bei dieser Beschreibung ist der Rückgriff auf traditionelle Motive: Gottes Hand ist bereits in der biblischen Überlieferung Zeichen der göttlichen Macht und Größe (so z.B. Dtn 4,34; 5,15; 7,19; 11,2; Jer 32,21; vgl. auch das Motiv des göttlichen Arms in Ex 15,16; Ps 79,11; 89,11.14 u.ö.).[25]
Wenn die Hand Gottes hier aber nach hinten gestreckt ist, so kommt damit seine Trauer über die Zerstörung des Tempels zum Ausdruck. Mit dem Bild vom Verbergen der Hand Gottes greift 3 Hen auf traditionelle rabbinische Vorstellungsinhalte zurück. So weiß der Midrasch zu den Klageliedern Ekha Rabba 2,6 (22b/c) in einer Auslegung zu Klgl 2,3, dass Gottes Rechte während des Exils auf seinem Rücken gebunden ist. Gottes Hand, so die Fortsetzung des Textes in 3 Hen, steht nun im Zentrum eines Bittgottesdienstes. Die Gerechten, die einst die eschatologische Freude Jerusalems sehen werden, bitten um Erbarmen und rufen die Hand an, aufzuwachen und sich damit aus ihrer Passivität zu lösen, d.h. endlich zugunsten Israels einzugreifen und das Volk aus seiner Unterdrückung zu erlösen.
Und nicht genug damit,
sondern auch alle Seelen der Gerechten,
die gewürdigt werden, die Freude Jerusalems zu sehen,
stehen bei ihr [d.h. der göttlichen Hand],
preisen vor ihr und bitten um Erbarmen vor ihr,
indem sie dreimal täglich sagen:
Wach auf, wach auf,
bekleide dich mit Macht,
Arm des Herrn (Jes 51,9),
so wie es heißt:
Er ließ seinen glorreichen Arm zur rechten Seite des Mose gehen (Jes 63,12) (§ 68 Fortsetzung).[26]
Der Aufruf der Gerechten stellt in diesem Text ein liturgisches Geschehen dar, das dreimal täglich stattfindet. Diese Aussage erinnert an die anderen Darstellungen des himmlischen Gottesdienstes, wie er im Rahmen der Überlieferungen der frühen jüdischen Mystik immer wieder aufs Neue beschrieben werden kann: Dreimal am Tag erklingt in den Höhen nämlich die Qeduscha, das Trishagion (vgl. Jes 6,3) mit dem die Engel und auch der Fromme aus Israel, der in die himmlischen Welten hinaufgestiegen ist, die Heiligkeit des Weltenkönigs verkündigen. Gerade dieser Kontrast zwischen der traditionellen Liturgie der Engel, die man an dieser Stelle wohl auch erwarten würde, und dem hier geschilderten Bittgottesdienst vor der passiven, weil in Trauer verharrenden göttlichen Hand macht dieses Geschehen höchst eindrucksvoll und unterstreicht die Dimension der Unerlöstheit von Welt und Gott.
Das Motiv der göttlichen Trauer tritt in der unmittelbaren Folge dieses Textes noch deutlicher hervor, wenn es nun in einem bizarren und fast surreal anmutenden Bild heißt:
In jener Stunde weinte die rechte Hand Gottes,
und fünf Tränenflüsse strömten hervor von ihren fünf Fingern,
fielen in das große Meer und ließen die ganze Welt erbeben,
so wie es heißt:
»Die Erde birst und zerbirst,
die Erde bricht und zerbricht,
[die Erde schwankt und wankt]
wie ein Betrunkener taumelt die Erde,
schwankt wie eine wacklige Hütte (Jes 24,19f.) –
fünf mal, entsprechend den fünf Fingern der großen rechten Hand (§ 68 Fortsetzung).[27]
Wieder sind es Überlieferungen aus dem klassischen rabbinischen Midrasch, die den Ausführungen in 3 Hen zugrunde liegen, denn unverkennbar klingt hier der Midrasch aus bBer 59a an, in dem R. Qatina die Tränen Gottes hört, die dröhnend auf die Erde fallen. Der Text setzt aber ganz eigene Akzente, insofern das Motiv hier mit der göttlichen Hand verbunden wird.
Die Überlieferung in 3 Hen bleibt nun nicht bei diesem Bild stehen, sondern geht noch einen Schritt weiter, indem sie diese paradoxe Situation auflöst:
Wenn der Heilige, er sei gepriesen, sieht,
dass es keinen Gerechten in (jener) Generation gibt,
keinen Frommen auf der Erde,
keine Gerechtigkeit unter den Menschen,
niemanden wie Mose,
keinen Fürsprecher wie Samuel,
der um Erbarmen vor Gott bitten könnte
um der Erlösung willen,
um der Befreiung willen,
um seines Königtums willen,
dass es offenbar werde in der ganzen Welt,
um seiner großen rechten Hand willen,
dass er sie wieder nach vorne hole,
um mit ihr (die) große Erlösung für Israel zu bewirken –
dann erinnert sich der Heilige, er sei gepriesen, sogleich seiner eigenen Gerechtigkeit,
seines eigenen Verdienstes,
seines eigenen Erbarmens,
seiner eigenen Liebeswerke
und errettet für sich selbst seinen großen Arm,
und seine Gerechtigkeit wird ihn stützen […].
Der Heilige, er sei gepriesen, sagte in jener Stunde:
Wie lange soll ich noch auf die Menschen warten,
dass sie mit ihrer Gerechtigkeit Erlösung für meinen Arm bringen?
Um meiner selbst willen,
um meines Verdienstes und meiner Gerechtigkeit willen
will ich meinen Arm erlösen und meinen Sohn mit ihm von den Weltvölkern erretten,
wie es heißt:
Um meinetwillen, nur um meinetwillen handle ich,
denn sonst würde mein Name entweiht (Jes 48,11) (§ 69).[28]
Bezeichnend für diese Passage ist die Aussage, wonach es für die Erlösung des göttlichen Armes der Fürsprecher bedarf; Gott selbst ist demnach – so paradox dies klingen mag – für seine Rettung zunächst auf Menschen angewiesen. Da es jedoch im Gegensatz zur Vergangenheit gegenwärtig solche Fürsprecher nicht mehr gibt, schreitet Gott nun selbst zum Handeln ein. Er offenbart seinen großen Arm allen Weltbewohnern. Gottes Arm ist in diesem Kontext zunächst selbst Gegenstand der Erlösung. Erst wenn er seinen eigenen Arm befreit hat, kann auch Israel von den Weltvölkern erlöst werden. Der Fortgang des Textes zeigt dann: Der Messias wird erscheinen und das zerstreute Volk von den vier Enden der Erde nach Jerusalem zum eschatologischen Festbankett hinaufführen (so die Quintessenz von § 70). Mit einer Zusammenstellung mehrerer Schriftzitate findet diese Traditionseinheit ihren Abschluss:
Der Herr entblößt seinen heiligen Arm
vor den Augen der Völker,
und alle Enden der Erde
werden die Erlösung unseres Gottes sehen (Jes 52,10).
Und es heißt:
Der Herr allein hat ihn [gemeint ist Jakob] geleitet,
kein fremder Gott war bei ihm (Dtn 32,12).
(Und es heißt):
Der Herr wird König sein über die ganze Erde (Sach 14,9) (§ 70 Ende).[29]
Die Nebeneinanderstellung dieser Verse zeigt das Spezifikum des Motivs von der Erlösung der Hand Gottes noch einmal aufs Deutlichste: Die Offenbarung des göttlichen Armes entspricht zunächst einmal der göttlichen Erlösung. Die Konstruktus-Verbindung »yeshu‘at elohenu – die Erlösung unseres Gottes« aus Jes 52,10 ist sowohl Genetivus objectivus als auch Genetivus subjectivus. Es geht zunächst um Gottes eigene Erlösung. Diese ist aber – das zeigt das folgende Zitat Dtn 32,12 – mit der Errettung Israels und dessen Heimführung ins Land identisch. Die Passage kulminiert schließlich in der Zitation von Sach 14,9, die diese Aspekte zusammenfasst. Somit wird deutlich, dass nicht nur die Not des Volkes aufs Engste mit dem Schmerz Gottes verbunden ist, sondern dass genau diese Verbindung auch die Grundlage für die künftige Erlösung darstellt. Neben der göttlichen Macht, die sich in Gottes Schöpfungshandeln, seiner Herrschaft über die himmlischen Scharen und in seinem eschatologischen Eingreifen realisiert, steht Gottes Niedrigkeit und Trauer als Ausdruck der Liebe zu seinem Volk. Diese Elemente sind direkt aufeinander bezogen. Die Macht Gottes, die in den Schilderungen der himmlischen Welten mit den Gott preisenden und verherrlichenden Engeln immer wieder zum Ausdruck kommt, ist keine isolierte Größe, vor der Israel in Furcht und Zittern zu verharren hat, sondern sie wird vielmehr funktional auf die Erlösung des Volkes hin geordnet. Nur aufgrund der ihr innewohnenden Dynamis vermag sich die Hand Gottes zu offenbaren und damit auch Israel von den Weltvölkern zu erlösen. Das Erlösungsgeschehen ist geradezu ein Prozess, der durch die Spannung zwischen dem Gebundensein der göttlichen Hand und ihrer eigentlichen Herrlichkeitsgestalt evoziert wird. Neben dem mächtigen Gott, dessen Beschreibung alle menschlichen Sprachmöglichkeiten übersteigt, steht der niedrige und leidende Gott. Dieser partizipiert als Zeichen der Liebe und Verbundenheit am Leid seines Volkes und garantiert so auch dessen künftige Erlösung. Auch die himmlische Welt nimmt somit am Leid Israels teil, so wie Israel dann an der Erlösung Gottes teilhaben kann.
IV. Fazit und Ausblick
Das Motiv von Gottes Trauer und Klage, in dem sich sein Schmerz über das Geschick Israels und des Jerusalemer Tempels artikuliert, findet sich in Ansätzen bereits in der Überlieferung der Hebräischen Bibel. Medium der Begegnung mit diesem Gott ist das prophetische Wort. Wenn das Motiv auch nur spärlich belegt ist, so wird doch bereits deutlich, dass hier ein Ausgleich zu dem Theologumenon eines strafenden Gottes geschaffen wird. Wohl angeregt durch die Erfahrung der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 n. Chr. und die Begegnung mit der immer stärker und selbstbewusster auftretenden Kirche, die das Ende der Heilsgeschichte Israels postuliert, gewinnt das Motiv in der rabbinischen Literatur zunehmend an Bedeutung. Die Begegnung mit dem Schmerz Gottes findet in der Schriftauslegung statt sowie im Modus der Narration, wobei als Medium auch besondere Menschen wie der Totenbeschwörer oder Traumgesichte eine Rolle spielen können.
Die Überlieferung im 3. Henoch kann auf diese Traditionen zurückgreifen und diese weiter entfalten. Das Besondere an dieser Überlieferung ist, dass nun eine Visualisierung des Geschehens erfolgt, die weit über das hinausgeht, was sich in den Midraschim findet: R. Yishmacel schaut bei seiner Himmelsreise die göttliche Gestalt in ihrem Schmerz unmittelbar. Er wird zum Zeugen des göttlichen Schmerzes und seiner Erlösung. Indem er später (als literarische Figur) von den himmlischen Ereignissen um die göttliche Hand erzählt, partizipieren – literarisch vermittelt – auch die Rezipienten dieser Überlieferung an dieser Begegnung und werden zu observers of pain. Damit werden sie in die atemberaubende Dynamik eines kosmischen Erlösungsgeschehens hineingenommen, das ihnen auch ihre eigene Existenz im Horizont von Schmerz und Hoffnung zu erschließen vermag.