"Gottes Thron über der Heiligen Schrift"

Die in den Bibelkanon eingebetteten Psalmen als Lesehilfe

„Gottes Thron über der Heiligen Schrift“

Die in den Bibelkanon eingebetteten Psalmen als Lesehilfe

Georg Steins

In der Heiligen Schrift finden wir Psalmen nicht nur im „Buch der Preisungen“, sondern unregelmäßig verteilt auch in anderen Büchern. Den ersten Psalm legt die Bibel Mose in den Mund (Ex 15), der am Ende der Tora noch einmal zu einem Lied anhebt, um vor dem Auditorium des Himmels und der Erde den „treuen und vollkommenen Gott“ zu preisen, der „der Fels“ ist (Dtn 32). Hymnen auf diesen Gott durchziehen die ganze Bibel: Am Ende des Tenach besteht die letzte große öffentliche Amtshandlung des Königs David im Lobpreis des Königtums Gottes (1 Chr 29). Zwischen diesen Eckpunkten steht die hymnenreiche Schrift des Propheten Jesaja.1

Wer in der katholischen Version der Heiligen Schrift zu Hause ist, begegnet bei der Schriftlektüre einer besonders großen Zahl von Liedern auf Gottes königliche Macht, denn die so genannten deuterokanonischen Bücher Tobit, Judit, Weisheit und Jesus Sirach kennen eine Fülle psalmistischer Lieder und das kanonische Danielbuch wird mit solchen Texten an Schlüsselstellen der Erzählung angereichert.2 Es scheint fast so etwas wie eine „Lobvermehrungstendenz“ im Zuge der Bibelentwicklung zu geben. Das Neue Testament fügt sich nahtlos in diese Tendenz ein; erinnert sei nur an die Lieder in der Kindheitsgeschichte des Lukasevangeliums oder die zahlreichen Hymnen in der Offenbarung des Johannes, nicht zu vergessen die entsprechenden Stücke in den Briefen des Paulus und in der übrigen Briefliteratur. Zur Bibel gehört nicht nur ein Liederbuch, der Psalter (Sefer Tehillim: das Buch der Loblieder), in gewissem Sinne ist die ganze Bibel ein von Liedern geprägtes Buch.

Dieses Phänomen hat meines Wissens in der Bibelauslegung bisher noch nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit gefunden. Für mich liegt hier ein wichtiges Moment der „kanonischen Lesesteuerung“ vor. Was das bedeutet, will ich im Folgenden ausführen.

Meine These sei vorangestellt:

Bei diesen über den Kanon verstreuten Psalmen handelt es sich um einen wesentlichen einheitsstiftenden Faktor, der – neben anderen wichtigen Faktoren3 – die Möglichkeit eröffnet, die vielen Schriften der Bibel als „Ein Buch“4 zu lesen. Diese Texte bauen einen doxologischen Gesamthorizont auf, der ein theologischer Schlüssel zur ganzen Heiligen Schrift ist.

Aber bevor diese These entfaltet und begründet wird, ist der hier vertretene Ansatz einer „einheitlichen“ Bibellektüre in einer kurzen Überlegung zu verteidigen, denn „Einheit“ ist in der wissenschaftlichen Bibelauslegung des Christentums lange Zeit ein Reizwort und ist es vielfach noch.

Eine notwendige Änderung des Blicks

Wer sich bibeltheologisch so weit aus dem Fenster lehnt und von der „Einheit der Schrift“ oder gar von einem theologischen Schlüssel zur ganzen Schrift redet, muss (leider immer noch) damit rechnen, Freude in einer akademisch etablierten Exegese zu verlieren. Er sollte sich auch vor falschen Freunden aus dem fundamentalistischen Lager hüten. Aber vielleicht findet er auch neue Freunde! Warum ist oder war eine solche Annäherung an die Bibel prekär?

Die moderne wissenschaftliche Exegese beginnt Ende des 18. Jahrhunderts mit dem Verzicht auf die Frage nach der Einheit der Schrift. Die neu entworfene „Biblische Theologie“ emanzipiert sich von dogmatischen Vereinnahmungen; ihr Interesse richtet sich auf die Unterschiedlichkeit der einzelnen Stimmen im Kanon, die jetzt je für sich und das heißt: in ihren ursprünglichen Kontexten gehört werden. Eine Vermittlung zwischen Exegese und Dogmatik suchte man nun durch den Aufweis überzeitlicher Strukturen in den zeitbedingten Äußerungen der biblischen Autoren Das war jedoch schon nicht mehr das eigentliche Geschäft der Exegese. Damit ist ein Forschungsansatz umrissen, der bis in die Gegenwart in Geltung bleiben und den Mainstream der wissenschaftlichen christlichen Exegese prägen sollte. „Einheit“ war zum Gegenbegriff einer „wahren biblischen Theologie“ geworden.5 In der Folge verlor das Thema „Einheit der Schrift“ für die wissenschaftliche Exegese rapide an Bedeutung und wurde mehrheitlich ganz aufgegeben.

Diese Entwicklung hatte weit reichende Folgen. Die Behandlung der Bibel in der Exegese und in der Systematik driftete weit auseinander. Kommunikationsprobleme in dem einen Haus der Theologie konnten nicht ausbleiben. Für Bibelinteressierte eine Quelle der Ratlosigkeit. Studierende gewinnen in der exegetischen Ausbildung nicht selten den Eindruck, dass die alt- und neutestamentliche Wissenschaft – bildlich gesprochen – mit dem Vermessen, dem Zählen und der Pflege von Bäumen und der Untersuchung der vielen anderen Pflanzen- und Tierarten des Lebensraumes „Wald“ beschäftigt sind, aber niemand zu ihnen über die Schönheit des Waldes spricht, die nicht im Betrachten der einzelnen Pflanzenarten aufleuchtet, sondern andere Arten der Erschließung fordert.6 Die Praxis konnte sich damit nicht zufrieden geben und hat sich eigene Wege gesucht – und gefunden: Ein Projekt wie die „Jüdisch-Christliche Bibelwoche“ beweist es.

Für mich als Bibelwissenschaftler gehört die Wiederannäherung zwischen den Lagern der Praktiker und der Akademiker – wenn ich es einmal so plakativ formulieren darf – zu den wichtigsten Entwicklungen in der Theologie und Kirche in den letzten Jahren. Ich sehe darin ein Hoffnungszeichen, die Chance für einen neuen Bibelfrühling, dem nicht so schnell die Luft ausgeht wie dem Aufbruch in den 60er Jahren. In der Erneuerung der „Biblischen Theologie“ geht es darum, die Architektur des Kanons zu erforschen, die Verbindungslinien zwischen den biblischen Schriften zu erkennen, die Exegese des Alten und die des Neuen Testaments miteinander zu verbinden, die Grenzen zwischen einer historischen Erforschung der Bibel und der Frage ihrer Gegenwartsbedeutung aufzuweichen, weil alles historische Forschen absichtsvoll „gegenwärtig“ ist.

Wer liest, sucht immer Zusammenhänge, bezieht das Gelesene aufeinander und auf frühere Leseerfahrungen und vorhandene Kenntnisse! Man bleibt nicht stehen bei der Vielfalt des Präsentierten, auch wenn es noch so unterschiedlich ist. Im lesenden Subjekt fügen sich die Dinge immer „irgendwie“ zusammen. Die moderne Rezeptionsästhetik, die den Umgang mit Literatur nicht primär vom Autor eines Textes, sondern vom Zusammentreffen von Text und Lesenden (Plural!) her bedenkt, eröffnet die Möglichkeit, das Thema „Einheit der Schrift“ in neuer Weise und auf einem literaturwissenschaftlich anerkannten Niveau zu diskutieren.

Dem einheitssuchenden und -stiftenden Lesen kommt die Bibel weit entgegen, denn – und das möchte ich ihnen heute an einem wichtigen Phänomen vorführen – die Einheit hat sich der Bibel selbst eingeprägt, ohne die Vielfalt und Vielstimmigkeit der Bibel aufzuheben. Hier kommt der „alte“ Kanonbegriff wieder ins Spiel. „Kanon“ meint nicht nur, dass die Bibeltexte für eine Glaubensgemeinschaft verbindlich und richtungweisend sind, sondern erfasst auch eine Eigenschaft, die in den Texten liegt. Die Bibel ist ein komplexes Gefüge. Wer sie verstehen (und vermitteln) will, darf nicht bei der Vielfalt stehen bleiben. Die Wahrnehmung ihrer Einheit in der Vielfalt führt zu einer größeren Schriftgemäßheit jeder Beschäftigung mit ihr.7

Ein Pionier hinsichtlich dieses Problemkomplexes ist – wieder einmal – Martin Buber. Bei ihm findet sich die Behauptung, die Bibel wolle „als Ein Buch gelesen werden“; Buber hebt dabei das Zahlwort „Ein“ durch Großschreibung hervor. Einige Formulierungen aus den Vorbemerkungen „Zur Verdeutschung der Preisungen“ lassen geradezu aufhorchen, weil sie die vereinheitlichende Perspektive der Bibellektüre mit Beobachtungen zur Konstruktion desBibelkanons verbinden. Buber stellt sich damit bewusst quer zu einer Tradition, die die Verschiedenheit und Vielfalt betont, aber er bezieht nicht einfach die Gegenposition, sondern integriert die Aspekte von Vielfalt und Einheit der Schrift.

Die hebräische Bibel will als Ein Buch gelesen werden, so daß keiner ihrer Teile in sich beschlossen bleibt, vielmehr jeder auf jeden zu offengehalten wird; sie will ihrem Leser als Ein Buch in solcher Intensität gegenwärtig werden, daß er beim Lesen oder Rezitieren einer gewichtigen Stelle die auf sie beziehbaren, insbesondre die ihr sprachidentischen, sprachnahen oder sprachverwandten erinnert und sie alle einander erleuchten und erläutern, sich miteinander zu einer Sinneinheit, zu einem nicht ausdrücklich gelehrten, sondern dem Wort immanenten, aus seinen Bezügen und Entsprechungen hervortauchenden Theologumenon zusammenschließen. Das ist nicht eine von der Auslegung nachträglich geübte Verknüpfung, sondern unter dem Wirken dieses Prinzips ist eben der Kanon entstanden ... Man betrachte von dieser Einsicht aus die sprachlichen Bezüge etwa zwischen Propheten und Pentateuch, zwischen Psalmen und Pentateuch, zwischen Psalmen und Propheten, und man wird immer neu die gewaltige Synoptik der Bibel erkennen ... Manche Leitworte offenbaren ihre Sinnweite und -tiefe nicht von einer einzigen Stelle aus, die Stellen ergänzen, unterstützen einander ... und der Leser, dem ein organisches biblisches Gedächtnis zu eigen geworden ist, liest jeweils nicht den einzelnen Zusammenhang für sich, sondern als von der Fülle der Zusammenhänge umschlungen ...“8

Die von Buber beschriebene Spur lässt sich breiter ausziehen, wenn nach Phänomenen geforscht wird, durch die auf den unterschiedlichen Ebenen der Textkonstitution Teile der Bibel aufeinander bezogen werden. Die Zahl der Phänomene ist sehr groß und die Einheitsfaktoren liegen auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Bemerkenswert sind nicht nur die Einzelphänomene, sondern das gehäufte Auftreten und der gleiche Richtungssinn, an dem sich der hohe Integrationsgrad der Bibel zeigt. Ich werde das im Folgenden an einem Phänomen darlegen. Ich bezeichne diesen die ganze Heilige Schrift prägenden Zug als „doxologischen Interpretationshorizont“.

Der doxologische Interpretationshorizont

Es handelt sich um auf einen Einheitsfaktor, dem theologisch eine besondere Bedeutung zukommt, ganz gleich, ob man die Hebräische Bibel oder die zwei-eine christliche Bibel im Blick hat. Die Bezeichnung „doxologischer Horizont“ soll andeuten, dass er an den über den Kanon verteilten Lobpreisungen Gottes hängt.

Wichtige Texte sind – wie oben erwähnt – Exodus 15; Deuteronomium 32; 1. Samuel 2 und 2. Samuel 22f und Loblieder in den Prophetenbüchern; im Neuen Testament dann die Lieder in Lukas 1 und 2; hymnische Stücke in den Briefen und die zahlreichen Hymnen in der Offenbarung des Johannes. Das Material ist auf den ersten Blick sehr disparat und recht ungleichmäßig verteilt. Es gibt aber formale und inhaltliche Übereinstimmungen; zu beachten ist auch die stets identische pragmatische Funktion.

Um die Rolle dieser Loblieder zu studieren, wähle ich gleich das erste größere Lied, das Lied des Mose nach dem Wunder der Rettung am Schilfmeer, Exodus 15. Weil das Lied einen Rahmen hat, auf den ich später noch eingehe, muss ich vor Kapitel 15,1 beginnen:

Kapitel 14

  1. Die Ägypter setzten ihnen nach; alle Pferde des Pharao,
    seine Streitwagen und Reiter zogen hinter ihnen ins Meer hinein.
  2. Um die Zeit der Morgenwache blickte JHWH aus der Feuer- und Wolkensäule
    auf das Lager der Ägypter und brachte es in Verwirrung.
  3. Er hemmte die Räder an ihren Wagen und ließ sie nur schwer vorankommen.
    Da sagte der Ägypter:
    Ich muss vor Israel fliehen;
    denn JHWH kämpft auf ihrer Seite gegen Ägypten.
  4. Darauf sprach Jhwh zu Mose:
    Streck deine Hand über das Meer, damit das Wasser zurückflutet
    und den Ägypter, seine Wagen und Reiter zudeckt.
  5. Mose streckte seine Hand über das Meer,
    und gegen Morgen flutete das Meer an seinen alten Platz zurück,
    während die Ägypter auf der Flucht ihm entgegenliefen.
    So trieb JHWH die Ägypter mitten ins Meer.
  6. Das Wasser kehrte zurück
    und bedeckte Wagen und Reiter, die ganze Streitmacht des Pharao,
    die den Israeliten ins Meer nachgezogen war.
    Nicht ein einziger von ihnen blieb übrig.
  7. Die Israeliten aber waren auf trockenem Boden mitten durch das Meer gezogen,
    während rechts und links von ihnen das Wasser wie eine Mauer stand.
  8. So rettete JHWH an jenem Tag Israel aus der Hand der Ägypter.
    Israel sah die Ägypter tot am Strand liegen.
  9. Als Israel sah, dass JHWH mit mächtiger Hand an den Ägyptern gehandelt hatte,
    fürchtete das Volk den Herrn.
    Sie glaubten an JHWH und an Mose, seinen Knecht.

Kapitel 15

  1. Damals sang Mose mit den Israeliten Jhwh dieses Lied;
    sie sagten: Ich singe Jhwh ein Lied,
    denn er ist hoch und erhaben.
    Rosse und Wagen warf er ins Meer.
  2. Meine Stärke und mein Lied ist Jhwh,
    er ist für mich zum Retter geworden.
    Er ist mein Gott, ihn will ich preisen;
    den Gott meines Vaters will ich rühmen.
  3. JHWH – ein Krieger,
    JHWH – sein Name.
  4. Pharaos Wagen und seine Streitmacht warf er ins Meer.
    Seine besten Kämpfer versanken im Schilfmeer.
  5. Fluten deckten sie zu,
    sie sanken in die Tiefe wie Steine.
  6. Deine Rechte, JHWH, ist herrlich an Stärke;
    deine Rechte, JHWH, zerschmettert den Feind.
  7. In deiner erhabenen Größe wirfst du die Gegner zu Boden.
    Du sendest deinen Zorn; er frisst sie wie Stoppeln.
  8. Du schnaubtest vor Zorn, da türmte sich Wasser,
    da standen Wogen als Wall,
    Fluten erstarrten im Herzen des Meeres.
  9. Da sagte der Feind: Ich jage nach, hole ein.
    Ich teile die Beute, ich stille die Gier.
    Ich zücke mein Schwert, meine Hand jagt sie davon.
  10. Da schnaubtest du Sturm.
    Das Meer deckte sie zu.
    Sie sanken wie Blei ins tosende Wasser.

     

  11. Wer ist wie du unter den Göttern, o Herr?
    Wer ist wie du gewaltig und heilig,
    gepriesen als furchtbar, Wunder vollbringend?
  12. Du strecktest deine Rechte aus,
    da verschlang sie die Erde
    .
  13. Du lenktest in deiner Güte das Volk, das du erlöst hast,
    du führtest sie machtvoll zu deiner heiligen Wohnung.
  14. Als die Völker das hörten, erzitterten sie,
    die Philister packte das Schütteln.
  15. Damals erschraken die Häuptlinge Edoms,
    die Mächtigen von Moab packte das Zittern,
    Kanaans Bewohner, sie alle verzagten.
  16. Schrecken und Furcht überfiel sie,
    sie erstarrten zu Stein vor der Macht deines Arms,
    bis hindurch zog, o Herr, dein Volk,
    bis hindurch zog das Volk, das du erschufst.
  17. Du brachtest sie hin
    und pflanztest sie ein auf dem Berg deines Erbes.
    Einen Ort, wo du thronst, JHWH, hast du gemacht;
    ein Heiligtum, JHWH, haben deine Hände gegründet.

     

  18. JHWH herrscht als König für immer und ewig.

     

  19. Als die Rosse des Pharao mit Wagen und Reitern ins Meer zogen,
    ließ JHWH das Wasser des Meeres auf sie zurückfluten,
    nachdem die Israeliten auf trockenem Boden mitten durchs Meer gezogen waren.
  20. Und die Prophetin Mirjam, die Schwester Aarons, nahm die Pauke in die Hand,
    und alle Frauen zogen mit Paukenschlag und Tanz hinter ihr her.
  21. Mirjam sang ihnen vor:
    Singt JHWH ein Lied,
    denn er ist hoch und erhaben!
    Rosse und Wagen warf er ins Meer.

Eine feierliche und bildgesättigte Sprache, ein ausgreifender theologischer Entwurf! Dieses Siegeslied will weit mehr sein als eine bloße Ausschmückung der Erzählung.9 Es wiederholt auch nicht in einer anderen Sprachform wesentliche Inhalte der Erzählung und bietet keine poetische Zusammenfassung. Das Lied dient auch nicht in erster Linie der Charakterisierung des Mose, dem dieser Text in den Mund gelegt wird. Auf die interessante Frage nach dem Verhältnis zu dem nachfolgenden kürzeren Lied der Mirjam gehe ich später noch ein.

Die Bedeutung dieses Liedes und der vergleichbaren genannten Texte reicht weit über den unmittelbaren erzählerischen Zusammenhang hinaus: Wenn man 15,4 wegließe, wäre ein Bezug des Moseliedes zur Rettung vor der Todesmacht Ägypten gar nicht mehr ausdrücklich gegeben. Ganz ähnlich ist es im Lied der Hanna, 1. Samuel 2, die ihre überwundene Not der Kinderlosigkeit gerade einmal mit einer kurzen Bemerkung anspricht (V. 5). Es ist also festzuhalten, dass diese Lieder nicht völlig in der Kontextbindung aufgehen; sie wirken sogar auf den ersten Blick ein wenig deplaziert. Im Lied der Hanna ist der Bezug auf den „Gesalbten JHWHs“, also den künftigen König, zur Zeit der Geburt des Samuel noch gar nicht aktuell. In Exodus 15 scheinen der Hinweis auf die Auseinandersetzung mit den Völkern in Kanaan, der Einzug ins Land und der Tempel, die Wohnung Gottes inmitten seines Volkes, den Rahmen eines Liedes zu sprengen, dass doch auf einen grandiosen Sieg zurückschaut und erst einmal das Wunder der Rettung der Israeliten am Meer feiern will.

Was ich als Sperrigkeit im Kontext beschrieben habe, lässt sich auch anders fassen: Diese Lieder greifen weit aus, sie eröffnen große Horizonte. Erst viel später wird erzählt, wie Gott in seinen Tempel einzieht. Wer in 1. Könige 6-8 davon liest, soll sich erinnern, dass der Gott, der jetzt auf dem Zion Wohnung nimmt, der Rettergott von einst ist. Denen, die das auf den vielen dazwischen liegenden Seiten aus dem Blick verloren haben sollten, könnte 1. Könige 6,1 als kleine Erinnerungsstütze dienen („im vierhundertachtzigsten Jahr nach dem Auszug aus Ägypten ... begann Salomo das Haus JHWHs zu bauen“). Durch den poetischen Vorgriff in Exodus 15 bekommt der Tempel eine tiefere theologische Bedeutung; er ist die Wohnung des Gottes, der die Todesmacht niedergerungen hat. An diesem Beispiel lässt sich ablesen, was die eingesprengten Doxologien leisten: Sie verspannen und verklammern die Teile des Bibelkanons, wie es vermittels der linearen Erzählung nicht leicht möglich ist, denn sie konzentrieren die Aufmerksamkeit auf Gott als das Zentrum aller Aktionen und bauen einen theologischen Deuterahmen für die ganze Bibel auf. Diesen Gedanken möchte ich im Folgenden vertieften.

Formal gesprochen wirken die Hymnen als plot breaker, die die Handlung für eine Weile still stellen. Sie schaffen eine Möglichkeit in einer anderen Sprachform mitzuteilen, was für das rechte theologische Verständnis des Erzählten unverzichtbar ist. Den Sängerinnen und Sänger steht ein „übernatürliches“ Wissen von Gottes Geschichtslenkung und vom Sinn und Ziel der Geschichte zur Verfügung. Die Sprecherinnen und Sprecher offenbaren Hintergründiges, ihre Äußerungen sind prophetisch inspiriert. Wenn diese Texte eine Person charakterisieren wollen, dann nicht die der jeweiligen Sprecherin oder des Sprechers; vielmehr dienen diese Texte allesamt der betonten „Charakterisierung Gottes“10. Das lässt sich wiederum an Exodus 15 mustergültig zeigen.

Die vorausgehende Erzählung ist für viele heute ein schwieriger, ja ein skandalöser Text. Sie hören ihn als einen Kriegsbericht, der mit der totalen Vernichtung einer Seite endet. Wenn Mose und die Seinen in Jubel ausbrechen, so mag sich bei denen keine rechte Mitfreude einstellen, die die Opfer nicht übersehen wollen. Die Erzählung in Exodus 14 legt jedoch schon ein Spur, die aus dieser Schwierigkeit hinausführen kann, im anschließenden Moselied wird diese Spur dann breit ausgezogen: Die Meerwundererzählung gibt selbst schon zu erkennen, dass sie nicht als Kriegsbericht aus dem alten Ägypten gehört werden will. Der Text berichtet nicht über eine antike Schlacht, weil hier gar nicht zwei Völker aufeinandertreffen. Auffällig ist auch, dass der Pharao nirgends einen Namen hat. Man hat den Namen nicht im Laufe einer langen Überlieferung vergessen, sondern die verallgemeinernde Rede ist Programm. Den Israeliten wird das Kämpfen sogar ausdrücklich verboten; der einzige, der auf Seiten Israels kämpft, ist Gott. Der Tagesbefehl an die Israeliten lautet bar jeder militärischen Logik: „Rührt euch nicht! Seht (vielmehr), wie JHWH euch heute rettet.“ Hier kämpft kein Volk gegen ein anderes, sondern hier wird von einem Wunder mit Zuschauern erzählt. Die Israeliten sind keine Kriegsteilnehmer, sondern Zeugen für Gottes Handeln. Entsprechend darf auch der Ausgang des Geschehens nicht nach der gewöhnlichen (Kriegs-)Logik bewertet werden.

Das nimmt das Lied Exodus 15 auf: Es schildert Gottes Sieg über die Feinde in ganz und gar ungewöhnlicher Weise, und zwar als ein urzeitliches Schöpfungsgeschehen. So darf kein Historiker, der ernst genommen werden will, reden! Gott wird gezeichnet als ein kosmischer Herrscher, der sich der vier großen Naturmächte, der Wassers des Meeres, des feurigen Zornes, des Windes und der Erde bedient, um den übergroßen Feind niederzuringen. Die Sprache des Kampfes ist amalgamiert mit der Sprache der Schöpfung.11 Diese Mischung macht den Text anstößig, im doppelten Wortsinne: Er provoziert, und er bietet zugleich Hilfen an für das rechte Verstehen.

Eine neue Sicht des Bibelkanons

Exodus 15 beschreibt am Ende eine neue universale Ordnung der Schöpfung, in der Gott in seinem neu begründeten Heiligtum inmitten seines von ihm „geschaffenen“ Volkes (15,16) Wohnung nimmt und das Verhältnis zu diesem Volk von chesed, d. h. von Bündnistreue, geprägt ist (15,13). Nach außen hin hält der „Gottesschrecken“ die Bedrohung durch die fremden Völker zurück. Die Ordnung des Exodusgottes ist das Gegenbild der „gierig“ bedrohlichen Feindmacht (15,9). Es wird deutlich, dass das Lied kein historisches außenpolitisches Szenario beschreibt, sondern eine „Durchsicht“ auf den theologischen Grund der Wirklichkeit schenken will. Wir nennen diese Sprache „mythisch“, nicht, weil es sich um „Mythen und Märchen“ oder um die blumige Sprache der Orientalen handelt, sondern weil diese Sprache einen anderen Zugang zur Wirklichkeit eröffnet, einen Zugang, der die Wirklichkeit als Feld des Ringens von Todes- und Lebensmächten begreift. Wer über die Rettung durch Gott sprechen will, kommt an dieser mythischen Sprache nicht vorbei. Damit ist (nebenbei gesagt) eine Trennung von Exodus- und Schöpfungstheologie ebenso passé wie ein radikales Programm der Entmythologisierung.

Auch wenn es in anderen vergleichbar herausgehobenen Liedern der Bibel weniger „gewalttätig“ zugeht, nehmen sie dieses fundamentale Thema der Rettung des Lebens vor dem Tod wieder auf. So ist es kein Zufall, dass im bereits mehrfach erwähnten Lied der Hanna in 1. Samuel 2 die zentrale Aussage lautet: „Der Herr macht tot und lebendig, / er führt in das Totenreich hinab und führt auch herauf“ (V. 6). Dieses Thema: Gottes Sieg über den Tod, könnte ich nun weiter verfolgen in den eingesprengten Psalmen bis zum letzten Buch der christlichen Bibel, der Offenbarung des Johannes. Die Himmelsliturgie in Offb 19,6f kulminiert in den Worten, die an den Schluss des Moseliedes erinnern:

Halleluja!

König geworden ist der Herr, unser Gott.

Wir wollen uns freuen

und ihm die Ehre erweisen.

Und gleich im Anschluss daran wird auf die Bezug genommen, die zu diesem König gehören (19,7f). In der Formulierung vom „Königtum Gottes“ über die ganze Schöpfung, die sich übrigens in Ex 15,18 zum ersten Mal in der Schrift findet, wird dieser vielschichtige thematische Komplex zusammengefasst.

Bei aller Unterschiedlichkeit im Detail bauen diese hymnischen Texte eine durchlaufende thematische Ebene in der Schrift auf. Sie reden nicht nur über diese oder jene Seite des Handelns Gottes, sondern treffen sich in einem Punkt: Es geht immer um die Durchsetzung des Königtums Gottes gegen die Chaosmächte. Sie richten einen königs-theologischen Gesamthorizont der Schrift auf. Diese Texte tauchen den ganzen Kanon in ein bestimmtes theologisches Licht. Die Unterschiede gehen nicht verloren; die je spezifische Akzentuierung durch den narrativen Zusammenhang ist und bleibt wichtig. Die Bibel ist eben kein Gesangbuch, sondern bezieht ihre Prägekraft aus der Konkretheit ihrer vielen Geschichten – keine Frage! Aber die Bibel bleibt dabei nicht stehen. Sie leistet sich einen doxologischen „Überbau“, eine theozentrische Konzentration – wie immer man es nennen will. In der lesenden Wahrnehmung baut sich ein hermeneutischer Großhorizont auf, der auf das Königtum Gottes abzielt. Mir legt sich dafür folgende Parallele nahe: Die jüdische Gebetsform der Beracha setzt jeweils mit dem Bezug auf das Königtum Gottes ein, bevor dann Taten Gottes benannt werden. Diese Gebetsstruktur scheint ein Reflex dieser kanonischen Leselenkung zu sein.

Im Blick auf das Neue Testament wird dann deutlich, dass sich die Botschaft von der Durchsetzung des Königtums Gottes und der Auferweckung der Toten nicht als eine thematische Neuausrichtung oder gar Verfremdung erweist, sondern auf einem breiten Fundament der älteren Heiligen Schrift, des Alten Testaments aufruht.

Interessante Erkenntnisse vermittelt die Frage nach der Pragmatik dieser Texte: Sie erschließen „einen höheren und umfassenderen Erkenntnisraum“12 und vermitteln ein „anderes“ Wissen. Sie können zur Anregung werden für eine entsprechende theologische Erschließung der eigenen Erfahrungen, die dann in einen ähnlichen Lobpreis mündet. Auch das lässt sich an Exodus 15 veranschaulichen: Die Abfolge von Moselied und Mirjamlied wirft viele Fragen auf. Man könnte die Abfolge der beiden Lieder so verstehen, dass Mose die Vorgabe macht und Mirjam mit den Frauen den Refrain aufnimmt. Eine verbreitete und recht androzentrisch anmutende Deutung... Schaut man genauer hin, wird eine andere Deutung möglich. Der Übergang von der Königsproklamation in 15,18 zur nachfolgenden Erzählung erfordert unsere besondere Aufmerksamkeit.13 V. 19 setzt nicht einfachhin die in V. 1 unterbrochene Erzählung fort, sondern versetzt uns in die Erzählung von Kapitel 14 hinein. Der Vers ist eine Zusammenfassung der Erzählung vom Untergang der Ägypter und der Rettung er Israeliten, wie sie in 14,23-29 vorliegt. Die Konjunktion ki am Anfang von V. 19 kann keine unmittelbare Fortsetzung der Proklamation von V. 18 im Sinne einer Begründung sein. V. 19 wird vielmehr am besten als Temporalsatz übersetzt: „Als die Rosse des Pharao mit Wagen und Reitern ins Meer zogen, ließ JHWH das Wasser des Meeres auf sie zurückfluten, nachdem die Israeliten auf trockenem Boden mitten durchs Meer gezogen waren. Und die Prophetin Mirjam, die Schwester Aarons, nahm die Pauke in die Hand ...“

Jetzt hat sich die Perspektive völlig verschoben: Das Siegeslied von Exodus 15 ist die Antwort des Mose und aller Israeliten auf Mirjams Beispiel. Durch Mirjams Deutung können die Israeliten erkennen, dass es JHWH war, der sie gerettet hat, und können an ihn und an Mose, seinen Knecht, glauben. Wie Maria Magdalena in Bezug auf die Auferweckung ist Mirjam die erste Zeugin der Rettungstat Gottes. Ihr Zeugnis legt den Grund für die Erfahrung der anderen. Mirjams Lied ist nicht nur eine Antwort, sondern so selbst Teil des Rettungsgeschehens, denn ohne ihr Zeugniswort gäbe es keine Erfahrung des rettenden Gottes.

Ex 15,20 stellt Mirjam als „Prophetin“ vor: Ihr Wort erschließt das Ereignis als Handeln Gottes; ihr Wort gehört zur Tat Gottes an Israel. In einem englischen Wortspiel, dass sich nicht ins Deutsche übersetzen lässt, wird dieser Zusammenhang treffend eingefangen: Biblische Prophetie ist nicht nur foretelling, sondern auch forth-telling: Sie lehrt, die Welt mit den Augen Gottes anzuschauen und neu zu sehen – als Ort der verwandelnden Kraft des königlichen Schöpfers. An seinem jetzigen Ort und durch den gerade aufgezeigten erzählerischen Rückgriff ist das Lied der Mirjam beides, Erstoffenbarung und Beginn der Überlieferung im Nachsprechen des Moseliedes.

Mirjam und die Frauen tanzen und singen: Das ist ihre Erfahrung von Freiheit. Im Bibeltext bildet sich diese Befreiung ab, wenn der normale Gang der Erzählung unterbrochen wird. Dichtung und Lied verhalten sich zur Prosarede wie das Tanzen zum gewöhnlichen Gehen. Es ist richtig, durch das Gehen kommt man ans Ziel, aber im Lied drücken sich Lebendigkeit und Geistbegabung aus.

Eine Einladung

An den Hymnen fällt auf, dass sie zwar sehr bildreich über Gottes Königtum reden, dabei aber doch allgemein bleiben. Das bietet die Möglichkeit, sie auf unterschiedliche Situationen zu beziehen. In diesen Texten werde ich eingeladen – zum Mitsingen! Es geht gar nicht zuerst und vor allem darum, dass ich diese Geschichten verstehe, indem ich eine Lehre daraus ziehe, einen wichtigen Gedanken, eine theologische Einsicht mitnehme. Die eingebetteten Hymnen zeigen mir eine Möglichkeit auf, sie laden mich ein, mein Leben, wie man so trefflich sagt, „ins Gebet zu nehmen“, es ebenso zu tun, wie die Figuren der biblischen Erzählung.

Die Wirkung wird sein, dass ich auf eine ganz eigene Weise „erfasst“ oder „umfasst“ und über mich „hinausgeführt“ werde. Vom Gehen zum Tanzen und Singen... Am Bibeltext lässt sich beobachten, wie das Erzählen in die Liturgie einmündet. Das gleich gilt für die Leserinnen und Leser der Heiligen Schrift. Ich erfahre nicht nur etwas über andere; ich werde nicht nur eingeladen, reflektierend Stellung zu nehmen: Lesen mündet ein in Liturgie – in die Feier vor Gott.

Über der Heiligen Schrift steht der Himmel offen!

ANMERKUNGEN
  1. Vortrag am 18. Juli 2005 auf der 37. Jüdisch-Christlichen Bibelwoche in Haus Ohrbeck bei Osnabrück.
  2. Münsterschwarzacher Cantica, Münsterschwarzach 2004.
  3. Vgl. G. Steins: „Die Einheit der Heiligen Schrift – ein „aufgegebenes“ Thema der Bibelexegese“. Religionsunterricht an höheren schulen 48 (2005), S. 140 – 150.
  4. Martin Buber, s. u. Anm. 5.
  5. Zur Geschichte und den aktuellen Tendenzen einer „Biblischen Theologie“ vgl. die sehr informativen Artikel zum Stichwort in LThK 3. Aufl. und RGG 4. Aufl.
  6. Vgl. G. Steins: „Nichts hinzufügen, nichts wegnehmen! Elementarisierung als Herausforderung des Alten Testaments“, in: R. Lachner / E. Spiegel (Hg.): Qualitätsmanagement in der Theologie. Chancen und Grenzen einer Elementarisierung im Lehramtsstudium. Vechtaer Beiträge zur Theologie 8, Kevelaer 2003 (143-166); gekürzte Fassung des Beitrages unter dem Titel: „Wege durch den ‚Bibeldschungel’. Kanonische Fingerzeige“, in: Bibel und Liturgie 76 (2003), S. 99-110.
  7. Vgl. dazu jetzt auch die weit ausholende Studie: Thomas Söding: Einheit der Heiligen Schrift? Zur Theologie des biblischen Kanons, QD 211, Freiburg 2005.
  8. Martin Buber: Zur Verdeutschung des letzten Bandes der Schrift. Beilage zum vierten Band Die Schriftwerke, Darmstadt 6. Aufl. 1986, 3f (Hervorhebung vom Vf.).
  9. Vgl. zum Folgenden die wichtigen Beobachtungen von Norbert Lohfink: Im Schatten deiner Flügel. Große Bibeltexte neu erschlossen, Freiburg 1999, S. 220-223; ich nehme einige Gedanken und verbinde sie mit Beobachtungen an Ex 15; grundlegend bleibt J. W. Watts: Psalm and Story. Inset Hymns in Hebrew Narrative, JSOTS 139, Sheffield 1992..
  10. N. Lohfink: Im Schatten, S. 221.
  11. Zu diesem wichtigen Zug in Ex 14f: T. F. Fretheim: Exodus, Louisville 1991 z. St..
  12. N. Lohfink: Im Schatten, S. 223.
  13. Vgl. zum Folgenden auch: J. G. Janzen: Exodus, Louisville 1997.

Editorische Anmerkungen

Professor Dr. theol. Georg Steins lehrt Biblische Theologie / Exegese des Alten Testaments und ist Mitglied der Forschungsstelle für Christlich-jüdische Studien an der Universität Osnabrück.

QUELLE: Begegnungen. Zeitschrift für Kirche und Judentum, Nr. 4, 2005.