Funken vom Sinai. Lebensweisheit der Rabbinen

Im Judentum gilt der biblische Text als schriftliche Tora, die Auslegung und Diskussion der Rabbinen als mündliche Tora, als Funken des Feuers vom Sinai. Paul Petzel und Gernot Jonas stellen in ihrem soeben erschienenen Band "Funken vom Sinai" (nähere Angaben zu Buch und Autoren am Ende der Seite) kurze Ausschnitte aus der rabbinischen Diskussion und ihrer erzählerischen Bibelauslegung vor und lassen dabei auch theologische und literarische jüdische Stimmen aus unseren Tagen einfließen. Sie verbinden sie mit Fragen der Gegenwart und erschließen sie auf diese Weise für Christen heute. Dadurch gelingt es ihnen, vieles neu wahrzunehmen, auch manches, das dazu herausfordert, die eigene christliche Identität neu zu verstehen. So wird das mit künstlerischen Abbildungen des hebräischen Alefbets farbig gestaltete Buch zu einer willkommenen Entdeckungsreise. Nachfolgend seien drei Kapitel beispielhaft wiedergegeben. (JCR)


Koschere Handys? – Zum Umgang mit den Massenmedien

Nicht nur für Christenmenschen dürfte eine solche Frage einigermaßen sonderbar klingen, wohl auch für nicht wenige Juden und Jüdinnen; nicht aber für orthodoxe. Was meint koscher? Und was sollen koschere Handys sein?

Die Welt unter dem Gesichtspunkt koscher – nicht koscher zu betrachten macht eine elementare Unterscheidung auf: Was ist geeignet, mit Gott in Beziehung zu treten, was hindert daran? Diese Perspektive wehrt einer falschen Selbstverständlichkeit unserer Gottesbeziehung, einem allzu simplen „von Du auf Du“, was unversehens auf eine „Verkumpelung“ hinauslaufen kann. Ein jüdisches Gottesverständnis weiß durchaus um eine große, geradezu intime Nähe seines Wortes: Das hat seinen Ort im Herzen, ist gleichsam ins Herz der Menschen eingraviert (vgl. Deuteronomium 6,6), wie zweimal täglich im Schema Jisrael erinnert wird. Dieses Gottesverständnis hat aber auch Sinn für die Abstände und zugleich dafür, dass Materielles und Alltägliches durchaus bedeutsam sind. Es misstraut der Auffassung, Körper, Leib und Materie seien nur "äußerlich", während das „Eigentliche“, das Hohe allein im Geistigen und Geistlichen, das Wahre im Inneren liege … Deshalb fragen orthodoxe Juden etwa mit Blick aufs Essen: Weißt du, was du da isst? Was das, was du in dich nimmst, beinhaltet und wie es hergestellt wurde? Aus welchem Gefüge von Bedingungen es hervorgegangen ist und, wie zubereitet, es in dich kommt? Was hier aufklärerisch-ökologisch klingt, darf nicht den tiefsten Grund der Speisegebote verdecken: die Beziehung zu Gott, die durch das Halten seiner Gebote verwirklicht wird. Diese Haltung lässt sich auch so umschreiben: Stehst du nur als Geist vor Gott oder als ganzer Mensch mit all seinen Bezügen? … Auf diesem hier nur angedeuteten Hintergrund klingt die Frage nach koscheren Handys vielleicht nicht mehr nur sonderbar.

Jedenfalls war so die Glosse in einer großen Tageszeitung überschrieben, in der sich der orthodoxe Rabbiner Yitzchaq Ehrenberg zu Massenmedien äußert. Die Vorteile von Handy, Iphone, Smartphone, Internet u.ä. liegen auch für ihn auf der Hand. Sie können und sollen genutzt werden, zieht er selber doch auch Nutzen aus ihnen. Doch ihr Gebrauch ist nicht selbstverständlich. Nichts Menschengemachtes ist selbstverständlich, all unserer Hände Werk kann ambivalent sein. Ambivalent, wenn es um die Frage geht, ob es uns in der Begegnung mit Gott dient oder daran hindert. Diese Perspektive steckt hinter der Frage in der jüdischen Tradition, ob etwas koscher ist oder nicht. Ist es dienlich oder ist es hinderlich – für unsere Beziehung zu Gott, für unsere Beziehung untereinander. Deshalb werden immer wieder sehr konkrete „Gebrauchsanweisungen“ formuliert, zum Beispiel, dass manche Seiten im Internet für Kinder zu sperren sind oder dass nicht während Arbeitsphasen angerufen werden soll.

Rabbiner Ehrenbergs Auslassungen enden im Sabbat. Am Sabbat ruht alles und d. h. auch:

Alle Medien sind abgeschaltet. Die Dauerkommunikation ist unterbrochen. Ein neuer Zeit-Raum wird aufgemacht, einer, in dem tief durchgeatmet werden kann.

Wenn die mediale Kommunikation erst einmal unterbrochen ist, kann auch die Frage auftauchen, was die Medien eigentlich sollen und unter welchem Anspruch sie stehen.

Der Tanach formuliert kein prinzipielles Wahrheitsgebot oder Lügenverbot. Konkreter und kontextbezogener heißt es vielmehr im Dekalog: Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen (Exodus 20,16). Die Rabbinen nehmen das zum Ausgangspunkt, um das allererste Kommunikationsmedium „Zunge“ auszuleuchten. Im Traktat Arachin 15 a-16a des babylonischen Talmud konzentriert sich ihre Diskussion. Erstaunlich  – oder auch gerade nicht! – mag sich ausnehmen, wie skeptisch die Vertreter einer ausgesprochenen Diskussions- und Diskurskultur das Werk der Zunge beurteilen. Der „Zungenfertige“ – das ist der, der falsch Zeugnis ablegt – wird ohne Wenn und Aber mit der Schlange verglichen. Pikanterweise identifiziert sie selber ihn als ihr „Gleichnis“. So wird von Resch Laqisch erzählt: „Dereinst werden sich alle Tiere versammeln, zur Schlange kommen und zu ihr sprechen: Der Löwe packt zu und frisst, der Wolf zerfleischt und frisst, welchen Nutzen aber hast du?! Sie wird aber erwidern: Welchen Vorteil hat der Zungenfertige?!“ Keine Frage ist es für die Rabbinen, dass solches Reden und Gerede eine Tat ist (Jahrhunderte vor John L. Austins How to do things with words …) und zwar eine, die auf Tod und Leben geht. So meint R.Chana: „Leben und Tod ist in der Hand der Zunge. Hat denn die Zunge eine Hand?“ Doch das ist rhetorisch gefragt. Denn „wie die Hand tötet, ebenso tötet die Zunge“. Und auch was ihre Reichweite angeht, lassen die Rabbinen jede Vertröstung hinter sich: „Man könnte glauben, wie die Hand nur in der Nähe tötet, ebenso tötet auch die Zunge nur in der Nähe, so heißt es: ein mörderischer Pfeil ist ihre Zunge. Man könnte glauben, wie ein Pfeil nur vierzig bis fünfzig Ellen reicht, ebenso die Zunge “. Doch sogleich folgt: “Sie versetzten zum Himmel ihren Mund, und ihre Zunge ergeht sich auf der Erde…“ Die kosmischen Sphären erreichen also nicht erst unsere Medien. Und die Mischna, der nucleus der talmudischen Diskussionen, hält bündig fest: „Es ergibt sich also, dass das Sprechen mit dem Mund schwerer ist als die Ausübung einer Tat.“ (m Arachin III,5) Solches „Mund-Werk“ gilt entsprechend als die Aufgipfelung des Frevels. „In der Schule Jischmaels wurde gelehrt: Wer Verleumdung redet, steigert die Sünde, so dass sie den drei Übeln entspricht: Götzendienst, Unzucht und Blutvergießen.“ Deshalb dauerte der Weg durch die Wüste ganze 40 Jahre! Die Strafe besteht im Aussatz, was zum Ausschluss aus der Gemeinschaft führt und nur zeigt, was Verleumdung bewirkt. Selbst Gott kann keine Gemeinschaft mit Verleumdern haben. So sagte R. Chisda im Namen Mar Ukabas: „Wenn jemand Verleumdung spricht, so spricht der Heilige, gepriesen sei er: Ich und er können nicht zusammen auf der Welt wohnen…“

Dabei könnten die Menschen um diese destruktiven Potenziale des „Mund-Werks“ wissen, hat der Herr doch die Zunge über ihre Lage aufgeklärt: „Alle Glieder des Menschen befinden sich außen, du aber innen; und mehr noch, ich habe dich mit zwei Mauern umgeben, einer aus Knochen, einer aus Fleisch…“

Die Massenmedien erscheinen auf diesem Hintergrund gleichsam als „extrakorporale Zungen“, was die Risiken des „Mund-Werks“ gigantisch steigert. Zu fragen ist, worin könnten nun „Fleisch und Knochen“ der Massenmedien bestehen, was könnte ihnen „Leibhaftigkeit“ und damit auch Verbindlichkeit (im Sinne realitätshaltiger konkreter Wahrheit) verleihen? Oder anders gefragt: Wie werden Handys & Co koscher?  


Messias-Skepsis und -sehnsucht

„Mag er kommen, ich will ihn aber nicht sehen“, gibt der Rabbine ( Rabbi) Ula im Lehrhaus zu Protokoll. Und er meint den Messias. Raba pflichtet ihm zu: „Mag er kommen, ich aber will ihn nicht sehen.“ Solch schroffe Ablehnung des Messias kann irritieren. Doch sie hat gewichtige Gründe:

- Als um die Zeitenwende ein Messias namens Juda in Galiläa fordert, Gott allein nur Adonai zu nennen und niemanden sonst – vor allem nicht den römischen Kaiser – , wurde er sogleich grausam umgebracht.

 -  Theudas, eine Art prophetischer Messias und Zeitgenosse Jesu, schickte sich Mitte der 40er Jahre des ersten Jahrhunderts an, seine Anhänger wie einst Mose das Volk Israel in die Freiheit zu führen – jetzt quer durch den Jordan. Die Römer verstanden das als Revolte und machten kurzen Prozess mit ihm. Er und 400 Anhänger wurden hingerichtet.

 - Wie es dem Messias Jeschua aus Nazareth erging, ist bekannt.

- Schimon ben Kosiba hieß der Anführer im zweiten römisch-jüdischen Krieg 132-135. Die Autorität der Zeit, Rabbi Akiwa, deklarierte ihn als Schimon bar Kochba, das heißt „Sternensohn“ und spielte auf Numeri 24,17 an: Ein Stern geht in Jakob auf, ein Zepter in Israel. Das konnte nur messianisch verstanden werden. Dieser Stern ging allerdings über einer Katastrophe auf. Der Krieg wurde verloren, das Land verwüstet, Juden durften Jerusalem nicht mehr betreten. Bis 1948 dauerte die Zerstreuung, die die Folge dieses verhängnisvollen Krieges war …

Die Liste der Messiasanwärter sei hier nicht fortgeführt. Doch sie brachten das Judentum immer in Bedrängnis, wenn nicht an den Abgrund seiner Existenz. Kein Wunder also, wenn die große Mehrheit des rabbinischen Judentums und des Judentums bis heute messiasskeptisch ist.

Und doch: Ula und Raba wird im Traktat Sanhedrin 98b des baylonischen Talmud umgehend widersprochen. Denn R. Joseph sagte: „Möge er doch kommen, und mir sei es beschieden, im Schatten des Mistes seines Esels zu sitzen“. Das ist pointiert, ja provokativ demütig, allen Erfahrungen zum Trotz ein Statement messianischer Hoffnung. Und aller Skepsis zum Trotz wird in diesem Traktat über fünf große Foliantenseiten (97a bis 99a) hin – das sind in heutigen Druckausgaben ca. 14 Seiten – debattiert über den Messias, sein Kommen, die Umstände und Bedingungen seines Kommens, die Verhältnisse vor und nach seiner Ankunft, das Wie und Was der mit ihm anbrechenden Zeit.

Warum überhaupt auf ihn warten?! Wird seinem Kommen nicht, nach biblischen Andeutungen, eine Zeit vorausgehen, die „das Gesicht eines Hundes“ (97a) hat, also dreist und unverschämt sein wird? (Hunde haben – zum Leidwesen vieler Zeitgenossen heute - biblisch keinen guten Ruf: herumstreunend und auch Aas fressend, waren sie geradezu chronisch unrein…) Wird nicht die Gelehrsamkeit in den Lehrhäusern darniederliegen und Krieg sein? Doch wenn Kriege ein Indiz für sein Kommen sein sollten, wieso war er noch nicht längst da, gab es doch schon genug Kriege?! (97a) Werden die Verhältnisse zwischen den Generationen vor seinem Kommen zerrüttet sein, so dass „die Jungen das Gesicht der Greise beschämen“, dass „eine Tochter gegen ihre Mutter auftreten“ wird? Und werden die Preise nicht irrational steigen, Löhne verweigert werden (98a) und die Regierungen “ganz der Ketzerei verfallen sein“? (97a) Ja, wird der Sohn Dawids etwa erst dann kommen, wenn „die Angeber überhand genommen haben werden“, und wenn die, die auf ihn hoffen, „an der Erlösung verzweifelt sein werden“? Mit dieser Frage ist ein Schmerzpunkt berührt. Die Sehne der Erwartung droht zu reißen. Deshalb folgt, ganz ähnlich wie in 2 Petrus 3,3ff die pastorale Tröstung der so strapazierten (und frustrierten) Hoffnung: „Vielleicht denkst du: Wir harren wohl, er (Gott) aber nicht. Doch es heißt: Daher harrt Adonai euch zu begnadigen, und er wird sich erheben, sich eurer zu erbarmen. (Jesaja 30,15) Wenn nun wir harren und er ebenfalls harrt, wer hält es (das Kommen des Messias) dann zurück?“ Und die Antwort lautet, „Die Eigenschaft der Gerechtigkeit hält es zurück ... Denn es heißt: Heil allen, die harren“. (Jesaja 30,18) Breit wird debattiert, was am Kommen des Messias Gottes Werk und was der Menschen Zutun daran ist. Etwa Buße tun? „R. Elieser sagte: Wenn die Israeliten Buße tun, so werden sie erlöst, denn es heißt: Kehret um, ihr abtrünnigen Söhne, ich will eure Abtrünnigkeit heilen“, Jeremia 3,22 zitierend. Dem aber wird umgehend widersprochen, wenn R. Jehoschua ein Wort des Jesaja (52,5) einwirft: „Umsonst wurdet ihr verkauft, und ohne Geld sollt ihr erlöst werden…, ohne Buße und gute Handlungen lässt sich die Zeit seiner Ankunft beschleunigen.“ (97b) Muss nicht jede Herrschaft über Israel beendet sein, bevor der Messias kommt? Oder wird die Abwesenheit „der Knechtschaft der Regierungen“ erst seine Zeit auszeichnen? Doch wird das der einzige Unterschied zur nicht-messianischen Zeit sein, wie Schmuel (99a) meint, oder wird das Heil viel umfassender sein, so dass man an das Jobeljahr (97b) oder den Garten Eden denken muss, ja dass gilt: Es hat außer dir, o Gott, kein Auge geschaut (99a)“?

Oder war der Messias sogar schon da? In der Person des Königs Hiskija etwa? Oder ist er gegenwärtig da – aber unerkannt? Doch wo sollte er dann sein? Gewiss nicht ohne Spitze gegen ein Christentum, das das Erbe des römischen Imperium übernommen hat, wird diese Frage so beantwortet: “Am Tore vor Rom. – Woran erkennt man ihn? – Er sitzt zwischen den mit Krankheiten behafteten Armen; alle übrigen binden ihre Wunden mit einem Male alle auf und verbinden sie wieder alle. Er aber bindet sie einzeln auf und verbindet sie (auch wieder einzeln), denn er denkt: Vielleicht werde ich verlangt, dann soll keine Verzögerung entstehen.“

So gespannt sind die Sehnen derer kaum, die doch „Messianer“ und „Messianerinnen“ genannt werden könnten: die Christen und Christinnen, für die der Titel des Christus / Maschiach tief im Eigennamen Jesus Christus eingeschlafen zu sein scheint. Damit aber ist auch der Sinn fürs Messianische stumpf geworden; die Sehnsucht danach wie betäubt.

Die Lektüre der talmudischen Messiasdebatten könnte Christen zu einem Exerzitium werden, neu messianisch fragen zu lernen. Das verlangt allerdings eine gewisse Demut und einen entwickelten Sinn dafür, dass es mit dem Messianischen auch sehr dialektisch zugehen kann: eben bei den Messias skeptischen Rabbinen den eigenen messianischen Geist anzuschärfen … 


Ertrag der Erwählung für alle oder: Universalität, biblisch und rabbinisch

Wie gehören wir mit den anderen zusammen? Christlich wird man – reflexhaft (?) – an ein großes, utopisches Wir denken, das alle umfasst ganz nach der Melodie „Zieht den Kreis nicht zu klein…“ Passt dahinein die Idee der Erwählung eines besonderen Volkes? Oder wirkt sie mit Blick aufs große Wir nur noch provokativ?

Die Partikularität der Juden, ihre beharrliche Weigerung, sich mit dem Imperium Romanum zu arrangieren und einfach Volk unter dessen Völkern zu sein, ließ Ressentiments wachsen. Odium humani generis, Hass aufs Menschheitsgeschlecht, bescheinigte man dem Judentum. Diese Diktion zeigt die Betriebstemperatur der Frage an, wie´s um die Erwählung in einem großen Wir stehen kann ...

Vielleicht kein Hass (oder doch?), doch „Erwählungsreserven“ und „-verdächtigungen“ leben auch in der Moderne fort. Die bürgerlichen Revolutionen konnten bekanntlich mit dem Menschen den Juden nicht versöhnen, die sozialistischen weithin auch nicht. Freiheit und Rechte ohne Diskriminierungen gab´s nur für Erstere. 

Und wird die Geschichte der Bibel und der Christen nicht oft genug noch auf folgende Weise kurz gefasst:  Mit Adam und Eva, Noach und auch noch Abraham fing alles in universaler Weite an, bis es zu einer Art „mosaischer Verengung“ kam: Im Auszug aus Ägypten formierte sich Israel als Gottes ureigenstes Volk mit einer langen Geschichte im verheißenen Land, auch in Babylon usw. Schwer hatten es die Propheten, ans Universale zu erinnern, bis endlich Jesus diese Geschichte wieder menschheitsweit zum Heil öffnete ... In solchen Narrativen, die in vielen christlichen Ohren wohl immer noch harmlos klingen, leben unbewusst und ungewollt, wie wir annehmen, Ressentiments über Ressentiments fort. Die erkennt man an ihren Vergesslichkeiten und blinden Flecken.   

Die weite Sicht von Genesis 1 ist doch eine, die aus der so einzigartigen Beziehung dieses Volkes aus Geflüchteten zu JHWH hervorgegangen ist! Es waren israelitisch-jüdische Theologen, die die Schriften so komponiert haben, dass die Menschheit vorangestellt ist! Und selbst die Großmächte Ägypten und Assyrien, die lebensbedrohlich für Israel waren, konnten „Volk Gottes“ betitelt und gesegnet werden: Gesegnet ist Ägypten, mein Volk, und Assur, das Werk meiner Hände, und Israel, mein Erbbesitz. (Jes 19,25) Und längs durch den Psalter sind die Völker der Welt präsent. In Psalm 100,1-3 wird aufgerufen: Jauchzet Adonai zu, alle Lande! Dienet Adonai mit Freude! … Erkennt: Ja, Adonai, (nur) er ist Gott, er hat uns gemacht, Ihm gehören wir: Sein Volk und Herde seiner Weide. Der Kontext legt nahe, dass hier die Völker zum Lobpreis aufgerufen sind. Dann aber – spektakulär – ist ihnen sogar die Bundesformel in den Mund gelegt, die doch die einzigartige Beziehung von JHWH und Israel charakterisiert! (Erich Zenger)

Die Erwähltheit Israels scheint in hohem Maße partizipative Züge zu haben. Und zugleich gilt: Durch solchen Lobpreis wird Israel von den Völkern so wenig aus seiner Auserwähltheit verdrängt wie die nach Zion wallfahrenden Völker ihrer Identitäten beraubt werden. „Vielfalt ohne Beliebigkeit“ (Jürgen Ebach) ist das biblische Motto: Denn die Beziehung zu JHWH und untereinander ist durch Recht und Gerechtigkeit bestimmt, wie sie in Zion den Völkern gelehrt werden wird. (vgl. Jesaja 2, 1-5) Doch das ist keine Sache der Endzeit erst. Nach der rabbinischen Auslegung der Tora sind alle Menschen in den Bund Gottes mit Noach aufgenommen und auf die Noachidischen Gebote verpflichtet (vgl. Talmud Traktat Sanhedrin 56 a/b).In diesen Noachidischen Geboten sind Recht und Gerechtigkeit für alle schon heute zugänglich: Recht einsetzen, kein Götzendienst, keine Gotteslästerung, kein Blutvergießen, keine Unzucht, kein Raub und keine Grausamkeit gegen Tiere. Diese Gebote entstammen, obwohl nicht gerade unvernünftig, dennoch keiner reinen Vernunftethik, wie sie der Mensch qua Natur und eben Vernunftbegabung hervorbringen könnte. Es ist ein Konzentrat, „die Summe seiner Tora“, die Israel den anderen Völkern anbietet. (Klaus Müller) Wer sie realisiert, ist ein Gerechter, und alle Gerechten aus den Völkern werden „Anteil an der kommenden Welt“ haben, ganz ohne die 613 Ge- und Verbote Israels zu erfüllen.

Nicht nur Einzelne haben eine Zukunft vor Gott, auch ganze Völker. Im Traktat Pesachim 118b des babylonischen Talmud spricht Raw Kahana im Namen seines Vaters: „… Dereinst wird Mizrajim (Ägypten) dem Messias ein Geschenk darbringen, er aber wird die Annahme verweigern wollen.“  Diese Szene kann irritieren: Warum lehnt der Messias Ägyptens Gabe ab? Seine Reserviertheit hat ihren Grund in seiner Erinnerung an die Sklavenhalterschaft Ägyptens, die offensichtlich nicht einfach mit einem Geschenk vergessen zu machen ist. „Alsdann wird der Heilige, gepriesen sei er, zum Messias sprechen: Nimm es (doch) von ihnen an, denn sie haben meinen Kindern in Mizrajim Gastfreundschaft gewährt.“ Und in talmudischer Kürze folgt: „Es kommen Vornehme aus Mizrajim.“ (Psalm 68,32). Die Repräsentanten Ägyptens sind also in der messianischen Zeit doch dabei.

Nicht ohne Mühe ringt der Traktatabschnitt weiter: auch um die Anwesenheit Kuschs (Äthiopiens) und letztendlich sogar um eine Chance für das „wilde Tier“ Rom.

Was für eine Idee von Universalität, einem großen Wir der Völker, begegnet hier?! Der Messias zögert und selbst Gott beginnt zu argumentieren; um jedes einzelne Volk wird gerungen. Nicht in grenzenloser messianischer Gnade oder generöser Amnestie (was schnell klingt wie Amnesie …) wird universale Einigkeit dekretiert, sondern durch die geschichtlichen Erfahrungen hindurch. Eingedenk ihrer Opfer wird sie mühsam erarbeitet. In Absetzung von einer abstrakten, prinzipiellen Universalität, wie sie in der Antike im Umgang war und es in der Moderne auch ist, spricht Lévinas von einer „induktiven Universalität“ Israels: konkret, erinnerungsstark und Identitäten wahrend wie der Gottesknecht seinerseits den glimmenden Docht nicht löscht und das geknickte Rohr nicht zerbricht (Jesaja 42,3): Ertrag der Erwählung Israels für alle.


 

Gernot Jonas / Paul Petzel

Funken vom Sinai
Lebensweisheit der Rabbinen

Patmos Verlag/Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG
Ostfildern 2024
240 S. mit 44 farbigen Abbildungen
Euro 24,-

www.verlagsgruppe-patmos.de

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Editorische Anmerkungen

Gernot Jonas ist evangelischer Pfarrer und langjähriges Mitglied des Studienkreises Kirche und Israel der Evangelischen Kirche im Rheinland und Westfalen. Aus dem Niederländischen hat er Grundlagenwerke des christlich-jüdischen Dialogs übersetzt, aus dem Jiddischen den »Klassiker« Scholem Alejchem. Zusammen mit Paul Petzel verantwortet er die Kolumne »Geh hin und lerne« der Zeitschrift Junge Kirche, die sich aus christlicher Sicht mit rabbinischen Einsichten befasst.

Dr. Paul Petzel war nach Studium der Theologie und Kunst Gymnasiallehrer und arbeitet heute als freier Theologe. Seit Jahrzehnten im jüdisch-christlichen Dialog engagiert, hat er 2017 zusammen mit Norbert Reck im Auftrag des Gesprächskreises Juden und Christen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken das Standardwerk »Von Abba bis Zorn Gottes. Irrtümer aufklären – das Judentum verstehen« herausgegeben.

Quelle: Gernot Jonas/Paul Petzel, Funken vom Sinai. Lebensweisheit der Rabbinen. © Patmos Verlag. Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, Ostfildern 2024; www.verlagsgruppe-patmos.de. Mit freundlicher Genehmigung der Autoren und des Verlags.