"Für mich ist es ein Tag der Hoffnung, ein Tag der Freude"

Ansprache des Bundespräsidenten anlässlich der ersten orthodoxen Rabbinerordination in Niedersachsen seit Ende des Zweiten Weltkrieges am 21. November 2022 in Hannover.

"Auf drei Dingen beruht die Welt: Auf Recht, auf Wahrheit und auf Frieden", heißt es in der Mischnah. Wie tröstlich ist dieser Satz, wie gut passt er zu diesem Tag heute. Wir dürfen heute die Ordination von fünf Rabbinern und eines Vorbeters feiern, hier in Hannover, in einer Stadt, in der seit Jahrhunderten Jüdinnen und Juden lebten, ehe die Nationalsozialisten das jüdische Leben in Deutschland, in Europa fast vollkommen auslöschten. Als Bundespräsident empfinde ich es als Ehre und als großes Glück, bei dieser Feier dabei zu sein. Für mich ist es ein Tag der Hoffnung, ein Tag der Freude. Es bewegt mich zutiefst, dass heute zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg in Hannover – einer Stadt, der ich mich sehr verbunden fühle –, dass hier zum ersten Mal in Niedersachsen wieder Rabbiner ordiniert werden.

Liebe künftige Ordinierte – "Auf all Deinen Wegen erkenne Ihn": Das ist das Leitmotiv des Rabbinerseminars zu Berlin, in dem Sie Ihre Ausbildung erhalten haben. Es steht damit ganz in der Tradition jenes bedeutenden Rabbinerseminars, das der große Esriel Hildesheimer 1873 gegründet hatte. Das "Hildesheimer" wurde rasch zu einer Institution. Es strahlte in der jüdischen Welt weit über die Grenzen Berlins und Deutschlands hinaus als Lehrstätte des orthodoxen Judentums, als Lehrstätte, die Tradition und Moderne zu verbinden strebte. Nach der Pogromnacht am 9. November 1938 wurde das Hildesheimer von den Nationalsozialisten zwangsweise geschlossen. Deutschland versank in dunkelster Nacht.

Wer hätte sich vorstellen können, dass nach dem Menschheitsverbrechen der Shoah in diesem Land wieder Rabbiner ausgebildet würden? Dass in Deutschland wieder ein so vielfältiges, in die Zukunft gewandtes jüdisches Leben erstehen würde? Schon seit 1.700 Jahren leben in Deutschland Jüdinnen und Juden, daran haben wir 2021 in einem wunderbaren Festjahr erinnert.

Aber Sie alle kennen auch das bittere Fazit des großen Leo Baeck nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Theresienstadt: Die Epoche der Juden in Deutschland sei ein für allemal beendet. Welches Glück für unser Land, dass es anders kam! Welches Glück, dass in den letzten Jahrzehnten ganz unterschiedliche jüdische Gemeinden erblühen konnten, dass neue Synagogen gebaut werden, dass neue jüdische Kindergärten, Schulen und neue Lehrstätten entstehen und dass wieder Rabbiner gebraucht und ausgebildet werden.

Sehr verehrte Rabbiner Nehorai Daus, Mendel Itkin, Meir Yisroel Myropolskyy, Shimshon Pushenco, Bryan Baruch Weisz, sehr verehrter Herr Kantor Benjamin Maroko, Sie sind Teil dieses neuen jüdischen Lebens und ein sehr wichtiger dazu. Sie alle wirken als geistliche Lehrer und Seelsorger in Ihren Gemeinden und legen Gottes Wort aus: "Auf all Deinen Wegen erkenne Ihn". Sie wirken weit in unsere Gesellschaft hinein, insbesondere, weil einige von Ihnen – ebenso wie Ihre Vorgänger - aus osteuropäischen Ländern und der geschundenen Ukraine stammen. Und Sie alle bauen mit am Fundament unseres Zusammenhalts, an dem, was unsere Demokratie ausmacht: ein friedliches Miteinander der Religionen und die Achtung der Würde jedes Menschen, der hier lebt. Dafür möchte ich Ihnen heute danken.

Wir leben in einer Zeit, in der die Werte, auf denen unsere liberale Demokratie gründet, wieder stärker angefochten werden. In einer Zeit, in der sich auch in unserem Land Antisemitismus wieder viel unverhohlener und offener zeigt, in der Jüdinnen und Juden diffamiert, verhöhnt, tätlich angegriffen werden; in der das Undenkbare geschehen konnte und ein rechtsextremer Attentäter am höchsten jüdischen Feiertag eine vollbesetzte Synagoge angriff. Wie sehr wünschte ich sagen zu können, dass dieser Anschlag in Halle zu einer Wende geführt hätte. Aber ich kann es nicht sagen. Die Zahl antisemitischer Straftaten steigt in Deutschland. In der Nacht auf den vergangenen Freitag gab ein Unbekannter Schüsse auf die Tür des Rabbinerhauses in Essen ab, direkt neben der Alten Synagoge. Mich hat diese Nachricht erschüttert. Und auch in Berlin wurde am Wochenende eine Synagoge beschädigt.

Das alles schmerzt mich zutiefst. Ich bin überzeugt, es kann darauf nur eine Antwort geben: Wir müssen wachsam sein. Wir dürfen nicht wegschauen! Wir dürfen in Deutschland keinerlei Antisemitismus dulden! Und: Solche Taten müssen mit aller Härte des Rechtsstaates geahndet werden. All das führt uns einmal mehr vor Augen, wie dringend notwendig es ist, jüdische Einrichtungen in Deutschland ganz besonders zu schützen. Wir erleben es auch an diesem Tag, der doch einer der Hoffnung und der Freude ist.

Liebe künftige Ordinierte, ja, es ist ein Tag der Hoffnung und der Freude für unser Land. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer Ordination und danke Ihnen allen für Ihr Engagement für unser Land und Ihre Kraft im Glauben. Mein Dank geht auch an Sie, lieber Josef Schuster. Ohne den Zentralrat der Juden gäbe es das Rabbinerseminar zu Berlin nicht. Und ich danke auch Ihnen, lieber Ronald Lauder, der Sie sich seit vielen Jahren dafür einsetzen, dass in Mittel- und Osteuropa neues jüdisches Leben entsteht, für Ihre Unterstützung.

Ihnen, den heute Ordinierten, wünsche ich alles Gute und viel Erfüllung und Kraft bei Ihrem Wirken! Sie alle wissen: "Auf drei Dingen beruht die Welt: Auf Recht, auf Wahrheit und auf Frieden".

Editorische Anmerkungen

Quelle: Bundespräsidialamt.