Friedenshoffnung und Friedensarbeit

Nachfolgender Beitrag stammt von dem deutsch-israelischen Pädagpogen und Historiker Joseph Walk, der sich zeitlebens vor allem mit der jüngeren jüdischen Geschichte befasst hat.

Er war einer der Mitbegründer und zeitweiliger Leiter der religiös-zionistischen Friedensbewegung "Os we Schalom". Von 1964 bis 1981 lehrte er Pädagogik an der Bar Ilan-Universität in Ramat Gan und betätigte sich gleichzeitig als Institutsleiter im Bereich der jüngeren Diaspora-Geschichte des jüdischen Volkes sowie als engagierter Mitarbeiter von Yad Vashem. In der Zeit von 1978 bis 1982 sowie erneut nach 1992 leitete der das Jerusalemer Leo Baeck Institut. In dieser Zeit veröffentlichte Walk Bücher, die zu den Klassikern der Forschung über das Dritte Reich gehören. 1996 erhielt Joseph Walk die Buber-Rosenzweig-Medaille, die von den Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit für besondere Verdienste vergeben wird. Joseph Walk, der am 27. Januar in diesem Jahr, 101 Jahre alt geworden wäre, starb 2005, also vor zehn Jahren. Ihm zu Ehren und zu seiner Erinnerung erscheint der nachfolgende Beitrag aus dem Jahre 1996.*

(JCR)

 


Was der Gedanke „Frieden“ im Judentum bedeutet möchte ich nur kurz andeuten. Der Name Gottes bedeutet bei uns „Frieden“, so die jüdische Überlieferung. Der Priestersegen, der auch ihnen bekannt und in die Kirche eingegangen ist, endet mit dem Wort „Frieden“, da der Frieden alles in sich enthält und ohne Frieden eigentlich keine Güter der Welt Sinn haben.

Der Messias wird „der Friedensfürst“ genannt. Der Friede als solcher, der ewige Friede ist das Ideal, von dem Jesaja predigt.

Das ist die einzige Pflicht, von der es heißt, man müßte ihr nachjagen, d.h. jede Pflicht kann man an sich herankommen lassen, wenn die Gelegenheit dazu gegeben ist, aber das ist die Pflicht, die man suchen muß, alles versuchen muß, um zu ihr zu gelangen.

Aber: Was ist der Frieden in unseren Augen?

Ich möchte hier betonen, daß ich, als Israeli, Sie bitte, unsere Situation nicht auf europäische Verhältnisse zu übertragen. Ich will einen sehr scharfen Satz sagen, im Zusammenhang mit dem, was Frieden oder Pazifismus in Israel bedeutet. Nach jüdischer Auffassung ist die Welt nach zwei Prinzipien geschaffen worden; das ist wichtig, weil es etwas typisch jüdisches ist:

Nach dem Prinzip der Gerechtigkeit und dem Prinzip der Barmherzigkeit. Denn wäre die Welt, so sagt der Talmud, nur geschaffen worden nach dem Prinzip der Gerechtigkeit, sie könnte vor Gott nicht bestehen. Aber wäre sie nur nach dem Prinzip des Erbarmens erschaffen, dann würde einer den anderen bei lebendigem Leibe zerfleischen. Die Welt muß eine ausgeglichene Welt sein. Wir dürfen z.B. nicht immer nur nachgeben. Es ist die Pflicht eines Menschen, sobald es notwendig ist, zur Selbstwehr zu greifen.

Auf der einen Seite gehört das Verbot des Tötens eines Menschen zu den drei Todsünden um deretwillen wir unser Leben lassen müßen: Götzendienst, Unzucht, Blutvergießen eines Unschuldigen. Sobald ich also in eine solche Situation gerate, und bei uns sind leider schon Menschen in eine solche Situation geraten, und ich überzeugt bin, daß der Betreffende nicht zu töten ist, dann darf ich es nicht tun, auch dann nicht, wenn ich mein eigenes Leben aufs Spiel setzte.

Wenn, auf der anderen Seite, jemand kommt, um mich zu töten, habe ich die Verpflichtung ihm entgegenzutreten und mein Leben zu retten, denn: Mein Blut ist nicht röter als das seine, aber auch das seine ist nicht röter als das meine. Wir Menschen sind alle gleich geschaffen worden und jeder hat Anspruch und Recht auf das Leben.

Darum hat Martin Buber, einer der Vorkämpfer der jüdisch-arabischen Verständigung, an einer Stelle gesagt : „Wir sind keine Pazifisten“.

Es gibt eine interessante Diskussion in dieser Frage. Gandhi hatte die vollkommen verfehlte Idee, weil er die Verhältnisse in Deutschland nicht beurteilen konnte und nicht wußte, daß wenn man Nazis gegenübersteht, man es nicht mit den Engländern zu tun hat, uns geraten, passiven Widerstand zu leisten. Buber hat ihm damals geantwortet und versucht zu zeigen, was es im Jahre 1938 in Deutschland bedeutet hätte, wenn wir uns auf die Straße gelegt hätten.

In dieser Hinsicht sind wir keine Pazifisten. Buber sagt: „Es gilt, in der Wirklichkeit, in der wir leben, die Demarkationslinie, die Grenzlinie zu finden, zwischen dem notwendig Bösen, das wir tun müssen, um am Leben zu bleiben, und dem möglichst Guten, damit unser Leben lebenswert sei.“

Auf der einen Seite sind wir verpflichtet, das Böse zu tun, um am Leben zu bleiben, auf der anderen Seite, das möglichst Gute tun, damit dieses Leben lebenswert sei.

Buber hat einmal davon gesprochen, daß die Mittel den Zweck entheiligen können auch das sollten wir uns immer wieder vor Augen halten.

Zusammenfassend der Frieden gilt als das, was alles aufwiegt. Immer wieder wird gesagt, daß ohne Frieden alle Güter dieser Welt keinen Wert haben und das der Friede das Endziel sein muß, auf das wir hinstreben. Aber, und jetzt kommt das sehr scharfe Wort: Wir in Israel können es uns nicht leisten, Pazifisten zu sein, auch wenn wir es wollten. „Pazifismus in Israel ist moralisches Parasitentum“. Ich weiß, das ist eine sehr scharfe Formulierung. Ich bin nicht dafür, die wenigen konsequenten Pazifisten, die es bei uns gibt, einzusperren. Ich bin dafür, daß man ihnen erlaubt Zivildienst zu leisten, solange ihre Zahl klein ist. Aber sie können es sich leisten Pazifisten zu sein, weil sie wissen, daß meine Söhne und meine Enkel bereit sind zum Militär zu gehen.

Würden alle so denken wie sie, dann gibt es uns morgen nicht mehr. Es handelt sich also um eine realistische Sicht des Friedens und nicht um ein Ideal, das irgendwo in der Luft schwebt.

Die Grundeinstellung, die ich versucht habe in Bezug auf die Gleichheit der Menschen aufzuzeigen, bedeutet vor allem, und das kommt immer wieder zum Ausdruck in der täglichen Situation eines Kampfzustandes, daß alle Menschen gleich geschaffen sind.

Mein verehrter Lehrer Ernst Simon, Schüler von Buber, hat einmal auf eine talmudische Stelle hingewiesen. Es gibt bei uns in der Praxis keine Todesstrafe, weil kein Indizienbeweis bei uns existiert und schon zu talmudischen Zeit ist die Todesstrafe praktisch abgeschafft worden. Wenn man bei einem solchen Prozeß die Zeugen vernimmt, ruft man sie einzeln ins Zimmer und zeigt ihnen warnend, was es bedeutet das Leben eines Menschen unter Umständen zu beenden. Dabei wird u.a. gesagt: „Wisse, deswegen ist der Mensch als einzelner geschaffen worden, damit nicht einer zum anderen sage, dein Vater ist größer als der meine.“ Ernst Simon sagte: „Das ist die Magna Carta der israelischen Demokratie.“

Dieser Grundgedanke ist, daß alle Menschen gleich sind und wir alle vom selben Adam, vom selben Urmenschen abstammen. Dieser Gedanke beinhaltet auch, daß wenn wir einen Menschen töten, wir ja eigentlich nicht nur ihn töten. Jetzt werde ich etwas hebräisch zitieren. In dem bekannten Anruf Gottes an Kain nach dem ersten Brudermord steht wörtlich übersetzt (es ist eigentlich unmöglich ins Deutsche zu übersetzen): „Die Stimme deiner Blute, der Blute deines Bruders ...“ . Hier wird im Plural gesprochen, weil man in jedem Menschen in der Potenz nicht nur ihn tötet, sondern mit ihm auch alle kommenden Geschlechter. Wieder die Warnung, daß ein Menschenleben nicht nur für sich zu begreifen ist, sondern als der Grundstock einer späteren Generation.

Ich möchte eine dritte Stelle aus der Bibel zitieren, um die prinzipielle Einstellung zu zeigen, die das Judentum hat. Bei der Begegnung zwischen Jakob und Esau steht eine doppelte Bezeichnung: „Er fürchtete sich und es tat ihm weh“. Warum dieses Doppelte? Wir verstehen, er fürchtete sich vor Esau. Unser großer Bibelerklärer Raschi sagte, nach dem Talmud: „Er fürchtete sich davor, getötet zu werden. Es tat ihm weh, töten zu müssen“.

Das ist schwer in die Tat umzusetzen, aber das sollte das Gefühl jedes Soldaten sein, wenn er in den Kampf ziehen muß, wenn es keine andere Möglichkeit gibt.

Ich zitiere einen meiner Enkel, der im Libanonkrieg gefragt wurde, was er empfinde, wenn er auf ein Haus schießt, in dem Zivilbevölkerung lebt. Er antwortete: „Sie wissen gar nicht, wie schwer mir das fällt, aber was soll ich tun, wenn sich die PLO darin verschanzt?“

Dieses Gefühl, diese Furcht einerseits sein Leben zu verlieren und andererseits die Vorstellung, daß man dem anderen u.U. das Leben nimmt, sollte jeden Soldaten begleiten, wenn er gezwungen ist, in den Krieg zu ziehen.

Das sind alles schöne Worte. Die Frage ist, inwieweit das zu verwirklichen ist. Inwieweit haben wir Juden das Recht gehabt zu verlangen, daß uns die anderen milde behandeln, nur weil wir immer die Minderheit waren?

In einem Dialog, der in Wirklichkeit ein Monolog ist, legt ein jüdischer Philosoph im Mittelalter seinem Gesprächspartner folgenden Vorwurf in den Mund: „Ihr Juden habt es leicht. Ihr seid überall die Schwachen, ihr seid überall die Unterworfenen. Kein Wunder, daß ihr nach Freiheit, nach Gerechtigkeit und nach Brüderlichkeit schreit. Wir wollen euch einmal sehen, wenn ihr die Starken seid.“ Da antwortet der Jude seinem nichtjüdischen Gesprächspartner und eigentlich antwortet er sich selbst: „Hier hast du eine schwache Stelle gefunden.“ D.h., erst in dem Augenblick, in dem wir die Starken sind, wo es um die Verwirklichung von Idealen geht, nicht um schöne Worte, nicht um Predigten, erst dann wird sich herausstellen, ob wir bereit sind, das, was wir von anderen verlangen, an uns selbst zu erfüllen.

Nun habe ich von Frieden und Friedenshoffnung gesprochen, von dem, was uns immer begleitet und was immer unsere Gebete und unseren Sinn bestimmt. Jetzt komme ich zu der Frage: „Inwieweit kann sich diese Friedenshoffnung verwirklichen?“ Ich gehe davon aus, daß das jüdischpalästinensische Problem, früher nannte man es das jüdisch-arabische Problem, eigentlich verdrängt wurde. Die Zionisten haben geglaubt, haben glauben wollen, „ein Volk ohne Land kommt in ein Land ohne Volk“. Das war eine sehr schöne Formel - wenn sie nur wahr gewesen wäre. Aber in diesem Land lebten Menschen, viel mehr, als heute verbreitet wird.

Im Brockhaus steht, daß es im Jahr 1900 in Palästina 600 000 Einwohner gab, davon waren 10% Juden. Schon 1907 hat ein „eingeborener“ Jude eine kleine Schrift veröffentlicht mit dem Namen „Die verborgene Frage“ oder „Die zurückgedrängte Frage“, und er meinte damit das arabische Problem. Man hatte eigentlich nicht den Mut, sich dem Problem zu stellen.

Ich möchte ihnen zeigen, warum es so schwierig war und so schwierig ist, bis auf den heutigen Tag, anhand eines persönlichen Erlebnisses. Ich bin ein in Deutschland geborener Jude, der in einem zionistischen Haus aufgewachsen ist. Wenn ich gefragt werde, warum ich Zionist bin, dann sage ich: „Ich bin als Zionist geboren, unter dem Bild von Theodor Herzl.“ Der deutsche Zionismus war sicher auch unter dem Einfluß des Weimarer Deutschlands sehr humanistisch, so humanistisch, daß man die wahre Problematik nicht erkannt hat.

1936 kam ich mit meiner Frau nach Israel, wir hatten gerade geheiratet. Wir hatten eine ganz vernünftige Idee, wir wollten von Jerusalem aus mit der Eisenbahn fahren, so wie wir es aus Deutschland gewohnt waren. In der Eisenbahn saß ich neben einem Araber, der mich Neueinwanderer bat, ihm ein Messer zu leihen, damit er seine Apfelsine schälen konnte. Unbedenklich gab ich ihm mein Messer. Daraufhin fauchte mich ein im Lande geborener Jude an: “Bist du verrückt geworden, er ist doch bereit, dir das Messer im nächsten Augenblick in den Rücken zu stechen.“ Heute würde ich einem Araber natürlich kein Messer geben, aber er hätte es auch nicht nötig. Das war meine erste Begegnung mit dem Araberproblem und mit der Sichtweise aus den Augen eines „Eingeborenen“, der mehr Erfahrung hatte als ich. Trotzdem versuche ich bis heute, mir meine Grundeinstellung nicht rauben zu lassen.

Drei Jahre später, also 1939, nach den sogenannten „Ereignissen“ - in Wirklichkeit waren es Unruhen, die Araber versuchten die damals verhältnismäßig große jüdische Einwanderung irgendwie zu stoppen - ist ein mir sehr nahestehender Freund durch einen schrecklichen Unglücksfall, der nichts mit dem Araberproblem zu tun hatte, umgekommen. Dieser Freund war wirklich Pazifist. Er ist mit einem Stock auf die Wache gegangen, was im Dorf ein Lächeln hervorgerufen hat, weil es wenig Sinn hatte. Wir haben ihm ein Heft gewidmet. Ich habe damals folgende Szene geschildert: Ich fahre aus unserem Dorf nach Haifa. Der Autobus ist abgenetzt, gegen Kugeln gesichert. Nun fahren wir in Haifa ein und ich sehe die verzerrten Gesichter der arabischen Bevölkerung. Der letzte Satz dieser Skizze ist: „Und ich vergaß, daß auch sie mich so sahen.“

Ich wollte ihnen damit einerseits zeigen, daß die Problematik nicht verborgen blieb. Wir waren erschrocken, gerade wir, die wir aus Deutschland kamen und geglaubt hatten, in ein sicheres Land zu kommen. Drei Monate später brachen die Unruhen aus.

Im Grunde genommen habe ich immer versucht, mir vorzuhalten: So, wie du sie siehst, so sehen sie dich auch. Die zionistische Organisation hat das Problem in seiner ganzen Schwere vielleicht nicht erkannt oder verdrängt. Aber wir haben vieles getan, um zu einer friedlichen Lösung zu kommen.

Ich möchte die Losung der Woche der Brüderlichkeit erwähnen, die mir unglücklich gewählt erscheint, weil sie in einer ganz anderen Situation, unter ganz anderen Voraussetzungen gesagt worden ist. Ich pflege im allgemeinen zu sagen, wenn ich von dem Palästinenserproblem spreche: Wenn man schon nicht miteinander leben kann, dann sollte man wenigstens nicht gegeneinander leben, sondern nebeneinander und ich finde, daß das schon sehr viel ist. Ich war nie Anhänger eines binationalen Staates, obwohl ich die Menschen geschätzt habe, die diese Idee vertraten. Leider hat die Geschichte meinem Pessimismus recht gegeben, nicht nur in Palästina, auch in Europa. Es genügt, wenn man nebeneinander in Frieden leben kann.

Nun gab es Vorschläge zu diesem Nebeneinander. Es gab 1937 einen Vorschlag, als die Engländer selbst eingesehen hatten, daß es zu einem Miteinander nicht kommen kann, obwohl von unserer Seite eine Bereitschaft dazu vorhanden war. Der zionistische Kongress hat schweren Herzens beschlossen - denn die Grenzen waren sehr zu unseren Ungunsten gezogen - dem Plan zuzustimmen, angesichts der drohenden Wolken, die sich damals über Europa zusammenzogen. Die Araber haben den Vorschlag abgelehnt. 1946 versuchte die anglo-amerikanische Kommission einen Teilungsplan vorzulegen, der wiederum ungünstig für uns war. Wir nahmen ihn an, angesichts der Katastrophe, die geschehen war, angesichts der vielen Flüchtlinge und Deportierten, die gerettet waren. Die Araber lehnten den Vorschlag ab.

1947 beschließt die UNO in einer einmaligen historischen Situation - Amerika und Rußland stimmten zu - einen Judenstaat zu errichten, wiederum mit sehr ungünstigen Grenzen.

Es war trotzdem überwältigend. Wir gesetzestreuen Juden kennen kein impulsives, spontanes Beten. Nicht jeder hatte die Geduld bis um zwei Uhr nachts am Radio zu sitzen. Als Freudenschüsse vom naheliegenden Berg ertönten, liefen alle, ohne daß es verabredet war, in die Synagoge und sprachen zusammen ein Gebet, ohne daß es jemand veranlaßt hatte. Wir sprachen das Lobgebet, das an Feiertagen gesprochen wird. Das war das einzige Mal in meinem Leben, daß ich so etwas erlebt habe. Es war für uns wirklich etwas Überwältigendes. Den Segensspruch, den wir im allgemeinen sagen, wenn ein sehr freudiges Ereignis eintritt, habe ich gesagt, als ich zum ersten Mal die israelische Flagge auf meiner Holzbaracke aufgezogen habe. Das sind Momente, die man nicht vergißt.

Und wir wußten, daß die arabischen Staaten alles daran setzen würden, die Existenz eines jüdischen Staates zu verhindern.

Sie kennen alle die Bewegung „Peace now“ - Frieden jetzt. Sie wissen vielleicht, daß es eine Gegenbewegung gibt unter den sehr gläubigen Juden, die sagt: „Messias jetzt“. Ich bin gegen jedes „jetzt“. Wir Juden sind ein Volk des langen Atems. Wir können und dürfen nichts überstürzen. Auch ein Friede kann nicht überstürzt werden, er muß, wie Buber sagt, ein „fleißiger Kompromiß“ sein und nicht ein „fauler Kompromiß“. Einen „fleißigen Kompromiß“ muß man ausarbeiten, da muß alles überlegt werden, da muß alles in Rechnung gebracht werden. Aber auch nicht „Messias jetzt“, der Messias kommt nicht ohne unser Mittun.

Eine jüdische Legende erzählt, daß einer unserer großen Gesetzeslehrer ausgeht, um den Messias zu suchen. Er findet ihn vor den Toren Roms. Rom ist das Abendland, Rom ist die Kirche. Er bindet seine Wunden auf und zu. Da fragt ihn der Rabbi: „Wann kommst du?“ Er bekommt die überraschende Antwort: „Heute“. Auf die erstaunte Frage des Rabbi: „Heute?“ antwortet der Messias mit dem Psalmwort: „Heute, wenn ihr auf meine Stimme hört.“ Also es hängt von uns ab. Eine Gesellschaft, die sich nicht verändert, ein Volk, das sich nicht verändert, eine Menschheit, die sich nicht verändert, zu der kommt er nicht. Das hat natürlich gewisse Verpflichtungen, große Verpflichtungen für uns. Das muß man auch in Rechnung bringen, wenn man den anderen sieht. Ein Volk ist bereit zu verzeihen, wenn man seine Interessen verletzt. Ein Volk ist nicht bereit zu verzeihen, wenn man seine Ehre verletzt.

Ein Beispiel aus der deutschen Geschichte. Die Inflation und der Versailler Vertrag hatten eine große wirtschaftliche Bedeutung, aber der „Korridor“ war auch daran schuld, daß Deutschland sich so entwickelt hat, wie es sich entwickelt hat. Auch hier weiß ich nicht, ob die Siegerstaaten vernünftig genug waren, auf die Ehre des anderen zu achten.

Es gibt durchaus Stellen in der Bibel selbst, aus denen wir lernen können. Wir sprachen gerade von dem „Nebeneinander“ und „Miteinander“. Unsere Bewegung hat einmal in einer bestimmten Situation gerade auf diese Stelle hingewiesen. Abraham und Lot, sie konnen miteinander in Frieden leben, aber ihre Hirten nicht. Was tut Abraham? Er sagt: „Trennen wir uns doch.“ Und er ist so großzügig, daß er Lot sogar die Wahl läßt. Es kam zu einer Versammlung, die unter diesem Motto stand. Oder ein anderes Beispiel aus der Bibel. Die Urmutter der Araber, des Islam, ist Hagar. Aus meiner Schulerfahrung im Dorf kann ich Ihnen erzählen, wann ich gewußt habe, daß meine Erziehung einen gewissen Erfolg hatte. Die Kinder konnten hebräisch, es war also kein Problem im zweiten oder dritten Schuljahr die Bibel, im Urtext zu lesen. Wir kommen an eine bestimmte Stelle, und man muß es ja veranschaulichen. Es war die Zeit, in der es noch keine Waschmaschinen gab, sondern im Trog gewaschen wurde. Ich sagte: „Ihr wißt doch, wie schwer das ist, wenn die Mutter im Trog Wäsche wäscht. Stellt euch vor, die Hagar war doch schwanger. Sarah sagte zu ihr: Komm her, nimm den Trog und trag ihn herüber.“ Da ist ein Mädchen aufgesprungen und hat gesagt: „Da hat sie aber Unrecht getan.“ Da war ich froh, und ich habe ihr sagen können, daß einer unserer Bibelerklärer sagt: „ ... und hier hat unsere Urmutter Sarah eine große Sünde begangen.“ Hagar war eine Ägypterin, und dasselbe Wort, das sich hier befindet, „sie unterdrückte sie“, findet sich auch später bei der Unterdrückung der Kinder Israel wieder.

Es gibt über die Generationen hinweg sicherlich keine Buchhaltung. Aber wie in der Tiefenspychologie gibt es etwas, das weiterwirkt in der Geschichte, und das schöne war, daß ich dem kleinen Mädchen sagen konnte: „Du stehst nicht allein da.“ Auch einer unserer Bibelerklärer sagt: „Sarah hat hier gefehlt.“

Kürzlich habe ich, zu meiner großen Freude eine hochinteressante Erklärung gefunden, warum die Bindung Isaaks sich anschließt an das Kapitel mit Ismael. Einer unserer modernen Bibelerklärer sagt: „Abraham sollte einmal empfinden, was es bedeutet, mit dem Sohn ausgesetzt zu sein.“ Er hat doch Hagar mit dem Sohn in die Wüste geschickt, was Sarah ihm geraten hatte, und der Sohn wäre dabei beinahe umgekommen.

Das ist eine sehr eigenwillige Erklärung, aber gerade, weil sie jetzt gesagt wurde, in dieser Situation, das hat mich gefreut. Es hat mir Mut gemacht, weil ich leider häufig mit Rabbinern in Konflikt gerate.

Ich bin in Deutschland aufgewachsen und habe eine Erziehung genossen, die sich der Umweltkultur gestellt hat. Wir „Jerkes“, wir deutschen Juden in Israel, denken als Humanisten. Vor etwa zwanzig Jahren hat ein jüdischer Journalist sich als arabischer Student verstellt. Er wollte einen Versuch unternehmen und ist in das Viertel gegangen, in dem die Professoren wohnten, die Intellektuellen, die alle der linken Partei angehörten. Der Journalist suchte eine Wohnung. In dem Moment, als herauskam, daß er arabischer Student war, wurde ihm die Wohnung verweigert. Dann ist er auf den Gemüsemarkt gegangen, auf dem sie jeden Tag von orientalischen Juden hören können, daß man jedem Araber den Hals durchschneiden müßte. Dort hat er sofort eine Wohnung gefunden.

Das sollte uns zu denken geben. Vielleicht haben auch diejenigen Recht, die sagen, daß wir europäischen Juden vielleicht die Mentalität der Araber zuwenig verstehen. Wir haben immer geglaubt, daß die marokkanischen Juden vielleicht eine Brücke herstellen könnten. Ich erzähle das mit Absicht, weil ich nicht den Eindruck erwecken will, daß wir nicht überprüfen, was wir von andern verlangen und von uns selbst verlangen müssen.

Nun komme ich auf unsere Gruppe zu sprechen, eine kleine Gruppe, eine Minderheitsgruppe. Ich habe immer „das Glück gehabt“, in der Minderheit, mit oder ohne Anführungsstriche, zu sein. Ein deutsch-jüdischer Denker hat einmal gesagt: „Die Minderheit hat einen Vorteil, sie muß denken.“ Das ist anscheinend eine psychologische Wahrheit, insofern sind wir eine Gruppe von denkenden Menschen.

Das soll Sie wieder zurückbringen zu dem, was ich mir unter richtigem Frieden vorstelle. Im Namen Bubers ist das ein „fleißiger Kompromiß“. Stärke, denn die Sicherheit Israels muß gewährleistet sein, aber Schalom als das Ziel, das wir in jeder Situation im Auge behalten müssen und versuchen müssen daraufhinzustreben.

Wir waren biologisch und soziologisch zunächst eine kleine Gruppe aus Deutschland stammender Juden, von Juden, die aus demokratischen europäischen Ländern kamen oder aus Amerika. Es gab sehr, sehr wenige eingeborene Israelis. Ich kann Ihnen klarmachen, warum das so war. In der Bar-Han-Universität, wo ich vor zwanzig Jahren unterrichtet habe, saß ich im Dozentenzimmer. Neben mir saß ein junger Israeli und er sagte: „Ich gehöre zu Euch.“ Etwas erstaunt fragte ich zurück: „Wieso denn?“ Er sagte: „Ganz einfach, ich war fünf Jahre in Amerika, mein Horizont hat sich erweitert.“ Das war nicht ironisch gemeint. Es ist eine Tatsache, die man verstehen kann, daß Menschen, die einen weiteren Horizont, die demokratische Erfahrungen haben und die Geschichte gelernt haben, sensibler sind. So war unsere Gruppe im wesentlichen beschränkt auf Erziehung, auf den Versuch der Aufklärung und auf den nicht geglückten Versuch Rabbiner zu gewinnen, die bereit sind, sich auf unsere Seite zu stellen. Das war 1975.

So entstand ein kleines Gegengewicht gegen jene Siedler, die in einen messianischen Rausch gekommen waren. Man verglich das etwa mit der Tatsache, daß Gott das Herz des Pharao verhärtet hatte, so daß er nicht anders handeln konnte. Ebenso scheint es, daß Gott das Herz Husseins verhärtet hatte. Wir haben ihn am Tag des Kriegsausbruches davor gewarnt, in den Krieg zu ziehen, und er hat diese Warnung in den Wind geschlagen. So fallen ganz unerwartet die West- Bank und Ost-Jerusalem in unsere Hände, was ursprünglich gar nicht vorgesehen war. Also, so argumentiert man dann weiter, ist es Gottes Wille gewesen. Gott hat uns das heilige Land in die Hände gespielt. Wenn das Gottes Wille war, dürfen wir uns nicht dagegen auflehnen und nicht einen Zentimeter von dem heiligen Land zurückgeben. Das war die Problematik, vor der wir standen. Ist das Gottes Wille?

Dann kam 1982, der Libanonkrieg. Zum ersten Mal sahen sich junge Menschen, die „Gusch Emunim“ angehörten, im Krieg, sahen ihre Kameraden fallen. Sie fragten sich: „Was haben wir eigentlich in einem fremden Land zu suchen?“ So entstand eine Parallelgruppe, die nannte sich „Metivot Shalom“ - „Pfade des Friedens“.

Interessanterweise fürchteten sie sich davor, mit uns zusammenzuarbeiten, da wir einen sehr radikalen Anstrich bekommen hatten, jedoch nicht durch unsere Schuld. Sie hofften in die Kreise von Jeschiwot (Talmudhochschulen) einzudringen, besonders auch in die der Talmud-Hochschullehrer. Nach kurzer Zeit haben sie eingesehen, daß das zwecklos war, bzw. wenig versprach. Auf der einen Seite waren wir Älteren, sie die mehr Aktivismus hatten, und so haben wir uns auf der anderen Seite vereinigt. Wir sind heute praktisch eine Organisation, im Land bekannt unter dem Namen Natwod Shalom und außerhalb Israels unter dem Namen Oz ve Shalom. Auf diese Weise änderte sich auch die Taktik, denn junge Menschen sind eher als ältere dazu bereit zu demonstrieren und Mahnwachen zu stellen. Diese jungen Menschen waren dazu bereit. Als palästinensische Schulen geschlossen wurden, stellten sie sich vor dem Haus des Ministerpräsidenten auf mit einem Schild, auf dem stand: „Das Volk des Buches schließt das ‘Haus des Buches’ (= Schulen).“ Oder aber als der Faschist Kahane, den ich nicht als Nazi bezeichnen möchte und der dann später ermordet wurde, gewählt worden war und seinen Siegeszug durch die Altstadt antrat, bei dem er die Araber aufforderte, ihre Häuser zu räumen, sind sie ihm nachgegangen und haben Flugblätter in Arabisch, Englich und Hebräisch verteilt, auf denen stand: „Wir denken nicht so, wir sind anders“. Das war nicht ganz ungefährlich. Genauso gefährlich war es, als in einem Dorf in der Nähe von Jerusalem Häuser zerstört wurden, wie wir meinten zu Unrecht, dort hinzugehen an einem Sabbath, was für einen Juden nicht so leicht ist, in einer fremden Umgebung, um ihre Solidarität zum Ausdruck zu bringen. Als vor vielen Jahren ein sehr bekannter Rabbiner, den ich nicht ganz freisprechen kann von einer Haltung, aus der heraus ein Mord entstehen könnte, in den obersten rabbinischen Rat gewählt werden sollte, haben diese jungen Menschen vor dem Oberrabbinat mit Erfolg demonstriert.

Während des Libanonkrieges haben wir zusammen vor dem Oberrabbinat eine Demonstration veranstaltet, zusätzlich zu der großen Demonstration in Tel Aviv, anläßlich der Massaker in Saba und Shatila. Ich möchte hier die Tatsache festhalten: in Saba und Shatila haben nicht Juden ge mordet, sondern libanesische Christen, aber unter unserer Oberhoheit, und die Waffen hatten wir geliefert, wenn auch nicht zu diesem Zweck. Es gibt im Judentum eine indirekte Verantwortung, die steht im fünften Buch Moses, wo erzählt wird, wenn man einen Erschlagenen findet und man nicht weiß, wer ihn erschlagen hat, dann gehen die Ältesten der am nächsten liegenden Städte hinaus, um zu sagen: „Unsere Augen haben nicht gesehen, unsere Hände haben das Blut nicht vergossen. Würde man auf den Gedanken kommen, die Ältesten hätten getötet? Nein. Sie wollen sagen: „Wir haben es nicht gesehen, sonst hätten wir diesen Getöteten nicht hinausgeschickt ohne polizeiliche Wache. Wir haben das Blut nicht vergossen. Er war vielleicht hungrig, er war vielleicht durstig. Wir haben ihn gehen lassen, er wollte sein Leben retten und hat sein Leben dabei verloren, weil er einfach nicht anders konnte, als sich sein Leben irgendwie zu sichern.“ D.h. indirekte Verantwortung besteht, und wir haben das, als religiöse Gruppe, bewußt zum Ausdruck gebracht.

Es gibt manchmal indirekte Möglichkeiten zu wirken, ich komme jetzt noch einmal auf das Erzieherische zurück. Auch erwachsene Menschen kann man in eine Situation bringen, in der sie plötzlich zum Nachdenken gezwungen sind. Ich habe vorhin gesagt, daß ich auch Kahana nicht mit den Nazis vergleiche. Kahana hat die Absicht gehabt, gewisse Gesetze durchzubringen, die sehr unliebsam an die Nürnberger Gesetze erinnern. Aber nicht darüberhinaus, jeder Vergleich mit dem einmaligen Geschehen der Shoa ist wirklich absolut verfehlt. Nun habe ich vor vielen Jahren Gelegenheit gehabt im Rahmen eines Kurses über vergleichende Erziehungswissenschaft, mich mit dem Thema „Nationalcharakter und Erziehung“ zu befassen wenn es überhaupt so etwas gibt. Es gibt darüber ein sehr bezeichnendes Buch eines deutschen Psychologen, 1915 geschrieben, indem er die Deutschen mit den Engländern und den Franzosen vergleicht, aufgrund der Nationalhymne.

Nun habe ich folgenden Test angestellt, was die Studenten nicht wissen konnten: Ich lese euch jetzt zehn Eigenschaften vor, polar gegeneinander gesetzt: seßhaft - nomadenhaft, aufrichtig - verschlagen, offen in den Kampf gehend - von hinten angreifend, u.s.w. Dann habe ich gefragt, auf wen diese Eigenschaften zutreffen. Nun hatte ich in den Kursen fast immer arabische Studenten. Alle Anwesenden schwiegen verlegen, bis dann einer schließlich sagte: „Also, das sind wir, und das sind die Araber. Das liegt doch auf der Hand.“ Darauf bat jemand, ich solle die Quelle angeben. Darauf sagte ich: „Doßers, Die Judenfrage im Geschichtsunterricht, Leipzig, 1936. Alles, was ihr jetzt uns zugeschrieben habt, das bezieht sich dort auf die arische Rasse, und alles, was ihr den Arabern in die Schuhe geschoben habt, das gilt für uns. Jetzt seid mal etwas vorsichtiger mit Nationalcharakter.“ Dieser Test hat mehr bewirkt, als wenn ich eine lange Predigt gehalten hätte.

Nun zurück zu unserer verhältnismäßig kleinen Gruppe. Wir treten in der Politik ein für „Land gegen Frieden“. Auch hier gibt es wieder zwei Rabbiner, die zwei unterschiedliche Anschauungen vertreten, den sog. aschkenasischen Rabbiner, also den westlichen, der nicht mehr am Leben ist, und einen orientalischen, der noch weiter aktiv ist. Dieser zweite Rabbiner hat uns erzählt, als er uns empfangen hat, daß der militante Kollege ihn fragte: „Wie können sie nur bereit sein, Land gegen Frieden einzutauschen. Wir beten doch jeden Tag: „Gott erbarmt sich seines Landes.“ Woraufhin er die schlagfertige Antwort bekam: Direkt dahinter steht auch: „Gott erbarmt sich seiner Geschöpfe.“ Die Frage ist: Was geht vor? In dieser Hinsicht sind wir schweren Herzens prinzipiell bereit, Land zurückzugeben, wenn dadurch Menschenleben gerettet werden können. Das Prinzip ist nicht so leicht zu verstehen. Das jüdische Religionsgesetz erfaßt nicht nur den Menschen in der Synagoge, in der Familie, sondern es ist ein Gesetz, das das ganze Leben erfüllt und auch das Leben der Gemeinschaft gestalten will. Daher kommt es, daß Rabbiner Stellung nehmen zu prinzipiellen Fragen der Politik, was u.U. schwere Folgen haben kann.

Wir haben sehr strenge Sabbathgesetze. Wir dürfen nichts Neues schaffen. Das hat nichts mit der Schwere der Arbeit zu tun. Wir sollen genauso wie Gott, der von der Schöpfung geruht hat, jede schöpferische Arbeit unterlassen. Die Rabbiner haben festgelegt, daß Lebensgefahr den Sabbath verdrängt. Das ist ein Prinzip, d.h., wenn jemand in Lebensgefahr ist oder erkrankt ist, dann sind wir verpflichtet dem Sabbath zu entsagen, z.B. auch zu fahren, um jemanden zum Arzt zu bringen. Aber wer entscheidet nun, ob diese Situation eingetreten ist? Die Rabbiner haben festgelegt, daß die Entscheidung beim Arzt oder bei dem Kranken liegt und nicht beim Rabbiner. Ganz ähnlich argumentieren wir, die Rabbiner können bestimmte Grundsätze festlegen, aber die Frage, ob eine Situation politisch eintritt, in der ein Verzicht Menschenleben retten kann, unsere Sicherheit garantieren kann mehr als ein nochmaliger Krieg, Gott behüte, das entscheiden nicht Rabbiner, das müssen Staatsmänner und Politiker entscheiden oder Strategen. Das entscheiden nicht Rabbiner und da überschreiten sie manchmal ihre Grenzen. Auch dagegen kämpfen wir, mehr oder weniger erfolgreich.

Unsere Arbeit hat in den letzten eineinhalb Jahren einen großen Aufschwung erfahren, weil wir einen neuen Sekretär haben, der durch seine Persönlichkeit weit größere Wirkungsmöglichkeiten hat als andere. Es ist tragisch, daß er vor eineinhalb Jahren einen seiner Söhne verloren hat, der von Terroristen ermordet wurde. Dieser Sohn war in seiner Klasse immer in der Minderheit. Er hatte den Mut, gegen alle anderen aufzutreten und für den Frieden einzutreten, und der Vater hat gesagt: „Das ist das Vermächtnis meines Sohnes“. Er hat sein Geschäft niedergelegt und sich uns für zwei Jahre zur Verfügung gestellt. Ich weiß, daß er Möglichkeiten hat, die wir nicht hatten, weil die Menschen ihm zuhören, sogar in den Siedlungen von „Gusch Emmunim“, weil man einem solchen Menschen anders gegenübertritt. Das weiß er selber auch. Es ist ihm gelungen, dreißig Familien, die auch Opfer des Terrors waren, in einer Gruppe zusammenzuschließen, nicht nur religiöse. Das ist etwas so überwältigendes, daß unsere Arbeit rein zahlenmäßig aber auch qualitativ einen großen Aufschwung erlebt hat. Er hat in Zusammenarbeit mit Politikern und Militär Friedenspläne entwickelt, nach denen der größte Teil der Siedlungen im jüdischen Teil bleibt, der Bevölkerung dieser Siedlungen zu uns kommt, wobei wir sehr wenig Land in Anspruch nehmen, um das Land nicht den anderen wegzunehmen.

Eine Frage bewegt uns alle und sollte meines Erachtens an das Ende der Friedensverhandlungen treten und nicht an den Anfang: Jerusalem. Es wird jetzt immer wieder darüber gesprochen. Zunächst eine Tatsache: In der Bibel ist Jerusalem 656 mal erwähnt, im Koran einmal. Bei den Christen habe ich immer den Eindruck, es handele sich mehr um das himmlische Jerusalem, nicht so sehr um das irdische. Und doch glaube ich, daß hier eine Lösung gefunden werden kann, wenn der gute Wille besteht, die Einheit der Stadt zu wahren und doch jede Seite zu ihrem Recht kommen zu lassen.

Im allgemeinen wird erklärt: Jerusalem, Stadt des Friedens. Das Wort „Jeru“ klingt an im Hebräischen an „Israe“ „er wird gesehen werden“, nämlich Gott auf dem Berge Moria, dem Tempelberg. Das ist die jüdische Komponente. Das Wort „Salem“ erinnert an „Metusalem“, den König von Salem. Er ist Monotheist, aber kein Jude, also die nichtjüdische Komponente. Wir legen Gott in den Mund: „Nenne ich die Stadt nur „Jeru“, wird Metusalem Einwand erheben, nenne ich sie nur „Salem“, dann wird Abraham sich gegen mich auflehnen, darum nenne ich sie „Jerusalem“.

Editorische Anmerkungen

Der Text basiert auf einem Vortrag von Prof. Dr. Joseph Walk, Jerusalem, den er am 8. März 1996 auf einer Tagung der Buber-Rosenzweig-Stiftung in Jauernick-Buschbach bei Görlitz hielt. Erstmals publiziert wurde er in der "epd-Dokumentation" Nr. 29 vom 8. Juli 1996. Hier wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung der Buber-Rosenzweig-Stiftung.