Mit der Friedensbotschaft der Engel – «verherrlicht ist Gott in der Höhe, und auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade» (Lk 2,14) – reiht Lukas die Geburt Jesu in die Tradition des messianischen Friedensfürsten (Jes 9,5) ein. Ja, die Welt ist in Ordnung, wenn Gott verherrlicht wird und die Menschen untereinander in Frieden leben, weil Gerechtigkeit und Recht zwischen den Nationen walten, wir die Schwerter zu Pflugscharen und die Lanzen zu Winzermessern schmieden, der Krieg nicht mehr gelernt wird (Jes 2,4), und man sich unter Weinstock und Feigenbaum gegenseitig einlädt (Sach 3,10). Dies ist die gemeinsame messianische Hoffnung von Juden und Christen. Wir müssen sie wachhalten, denn wir brauchen Friedensvisionen als kontrafaktische Sehnsucht zur real existierenden Geschichte – gerade in diesen Tagen, in denen in Palästina der brutale Terrorangriff von Hamas den Teufelskreis der Gewalt erneut entfesselt hat.
Die historische Anthropologie lehrt uns, dass wir in der Menschheitsgeschichte bis in die Gegenwart hinein die schlimmsten Formen der Gewalt wider den Nächsten finden, so dass der Mensch die einzige Spezies ist, die sich selbst auslöschen könnte. Es gab immer wieder gute Vorsätze, Friedensverträge, die vom «ewigen Frieden» sprachen. Aber sie währten nicht lange. Um nur ein Beispiel zu nennen: 1815 beschworen die Völker Europas im Manifest der Heiligen Allianz, «sich untereinander nur als Glieder einer und derselben Nation von Christen anzusehen». Aber hundert Jahre später gingen sie beim Ersten Weltkrieg brutal aufeinander los, und auf allen Seiten hielten Vertreter der jeweiligen Kirchen feurige Predigten im Geiste des Nationalismus. Die Geschichte erscheint in der Tat wie eine «Höllenmaschine», um es mit Adorno «nach Auschwitz» und dem «Holocaust» zu sagen: Es sei also zynisch zu behaupten, in der Geschichte manifestiere sich eine messianische Entwicklung zum Besseren.
Und das gilt auch für die Kirchengeschichte selbst, in der die Friedensbotschaft der Engel eine besondere Resonanz hätte finden sollen. Selbst wenn man in Goethes Spruch «Es ist die ganze Kirchengeschichte Mischmasch von Irrtum und von Gewalt» eine grobe, unzutreffende Vereinfachung findet, kann man nicht umhin, mit dem Kirchen- und Religionshistoriker Ernst Benz folgendes festzuhalten: «Weder der Islam noch der Buddhismus noch der Hinduismus haben auch nur entfernt so viele Menschen um ihres Glaubens willen getötet wie die christlichen Kirchen.» Aufgrund seines Ausschliesslichkeitsanspruchs vermochte das Christentum der Versuchung der Intoleranz, der «Aufrichtung einer heillosen innerweltlichen Absolutheit, die den anderen für Zeit und Ewigkeit in Frage stellt» (Joseph Ratzinger), nicht zu widerstehen. Daher hat das Christentum, das mit einem «Märtyrer» begann, seine Unschuld längst verloren. Und davon zeugt nicht zuletzt die schmerzvolle Geschichte des christlichen Antijudaismus. Künstler wie der Mexikaner José Clemente Orozco haben diese verlorene Unschuld des Christentums sehr drastisch ausgedrückt: wenn Christus zurückkäme, würde er als erstes das Kreuz vernichten, weil Christinnen und Christen unter diesem Zeichen eine Spur der Gewalt in der Geschichte hinterlassen haben. So die Botschaft seines Bildes (Öl auf Leinwand, 1943) «Christus vernichtet sein Kreuz».
Die Gewaltgeschichte im Schatten des Christentums hat natürlich nicht nur mit einigen lehrmässigen Fehlentwicklungen (intolerante Ausschliesslichkeit, Kreuzzüge, Ketzer- und Hexenprozesse, Antijudaismus) zu tun, sondern wurzelt auch in der Natur des Menschen, in der Anthropologie. Vergessen wir nicht, dass nach dem biblischen Narrativ die Menschheitsgeschichte eine «kainitische Abstammung» aus der Gewalt und dem Brudermord hat. Hochreligionen stellen den Versuch dar, die Natur des Menschen zu «zähmen», den «homo homini lupus» (der Mensch ist dem Menschen ein Wolf) in einen «homo homini amicus» (der Mensch ist dem Menschen ein Freund) zu verwandeln. Zwischen den Steinschleudern der Vorzeit und den Massenvernichtungswaffen per Knopfdruck unserer Zeit gibt es zweifelsohne einen technischen Fortschritt – aber auch einen moralischen? Das ist mehr als zweifelhaft. Kant ahnte deshalb, dass der Fortschritt hin zur Idee der Menschheit «gerade an der Natur des Menschen scheitern könnte … aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden». Nicht zuletzt aus diesem Grund hat der Prozess der Zivilisation einschliesslich des Beitrags der Weltreligionen das Gewaltproblem nicht gelöst. Bedeutet dies Resignation und Defätismus? Keineswegs.
Die historische Anthropologie verzeichnet auch Positives. Demnach befindet sich die Menschheit in einem Zivilisationsprozess, der zur Zähmung oder Kontrolle der willkürlichen Gewalt führen werde: sei es durch das Gewaltmonopol des modernen Rechtsstaates oder durch die kulturelle Domestikation der tierischen Natur des Menschen. Aber die Geschichte verläuft nicht wie eine aufsteigende Linie auf das messianische Friedenszeitalter zu. Ihr Verlauf ähnelt vielmehr dem einer Spirale mit Rück- und Fortschritten. Wir werden manchmal zurückgeworfen und müssen uns des Potenzials unserer Selbstzerstörungskräfte wieder bewusst werden, um den nochmaligen Beschluss zu fassen, eine neue, friedliche Weltordnung auf der Basis von Gerechtigkeit und Recht zu schaffen. Die Fortschritte in den letzten Generationen sind nicht zu übersehen: das Bewusstsein der Einheit der «Menschheitsfamilie» ist gewachsen, nicht zuletzt dank der Wirkung des biblischen Gedankens der universalen Gottebenbildlichkeit aller Menschen; es sind internationale Foren entstanden, um die Weltprobleme gemeinsam zu besprechen und zu lösen; bei Katastrophen ist eine weltweite Solidarität schnell spürbar; die Reisen und die Medien bringen uns täglich bei, dass die leidenden Fernsten uns zum Nächsten werden können – jenseits der Grenzen von Religion und Nation. Gewiss, die aktuellen Kriegsereignisse oder die Situation der Menschen auf der Flucht zeigen uns, dass wir noch nicht fähig sind, humanitäre Katastrophen global zu meistern, aber verglichen mit früheren Zeiten kann man wohl sagen, dass die Welt ein Stück weit «zusammengewachsen» ist.
Juden- und Christentum brauchen ihre gemeinsame messianische Hoffnung nicht zu verstecken. Aber sie dürfen den dramatischen Charakter der Geschichte auch nicht vergessen. Diese ist durch einen harten Kampf gegen «die Mächte der Finsternis» geprägt, der bis zum endgültigen Kommen des Friedensfürsten andauern wird. Auch Christen und Christinnen müssen bedenken, dass die Geburt Jesu das Böse nicht ganz entmachtet hat, die messianische Hoffnung also noch nicht ganz in Erfüllung gegangen ist. Deswegen heisst es in 1 Joh 5,19: «Wir wissen: Wir sind aus Gott, aber die ganze Welt steht unter der Macht des Bösen».
Ja, wir müssen gegen das Böse solidarisch kämpfen. So können wir unseren Beitrag zum endgültigen Kommen des Reiches Gottes leisten, das ein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens, der Wahrheit und der Freiheit «für alle» ist. In diesem dramatischen Kampf sind wir nicht allein. Wäre es so, wäre er angesichts der oben erwähnten kainitischen Abstammung schon verloren. Während die Kulturpessimisten fürchten, dass wir dem Untergang geweiht sind, gehört zum messianischen Narrativ unverzichtbar diese Hoffnung: wenn wir uns Gott, seiner Barmherzigkeit und Gnade öffnen, kann die Kraft des Guten die Gewalt des Bösen überwinden, in uns und in der Welt.
In diesem Sinne wünschen wir Juden und Jüdinnen, Christen und Christinnen sowie allen Menschen guten Willens am Tag des Judentums 2024: «Friede auf Erden!»
Prof. DDr. Mariano Delgado
Mitglied der Jüdisch/Römisch-katholischen Gesprächskommission (JRGK)