Erneuerung der Welt in jüdischer Tradition und Mystik

Die göttliche Zusammenarbeit mit dem Volk Israel zur Wiederherstellung der ursprünglichen und endgültigen Schöpfungs-, Erwählungs- und Erlösungspläne Gottes bildet den Hauptinhalt der jüdischen Mystik seit talmudischer Zeit bis in unsere Tage. Zwei kurze Abschnitte aus dem Zohar sollen erste Eindrücke über das göttlich-israelitische Zusammenwirken vermitteln.

Erneuerung der Welt in jüdischer Tradition und Mystik

Gehorsam gegenüber den Vorschriften der Tora, Deutung der Geschichte und Wachsamkeit gegenüber momentanen Ereignissen und Gefahren - diese Punkte wurden im Volk Gottes seit vorchristlicher Zeit als ineinandergreifende Verpflichtungen betrachtet. Tora, Geschichtserfahrung und Gegenwart gelten im israelitisch-jüdischen Volk als Arbeitsprogramm für die Vorbereitung einer umfassenden zukünftigen Gemeinschaft unter der wiederhergestellten und voll akzeptierten Herrschaft Gottes. Die göttliche Zusammenarbeit mit dem Volk Israel zur Wiederherstellung der ursprünglichen und endgültigen Schöpfungs-, Erwählungs- und Erlösungspläne Gottes bildet den Hauptinhalt der jüdischen Mystik seit talmudischer Zeit bis in unsere Tage. Zwei kurze Abschnitte aus dem Zohar1 sollen erste Eindrücke über das göttlich-israelitische Zusammenwirken vermitteln.

1. Befreiung Israels und Anwesenheit Gottes

In Ex 14,8-10 heißt es, Gott habe das Herz des unterdrückerischen Pharao verhärtet. Dieser heidnische Herrscher jagte deshalb den vor ihm fliehenden Israeliten nach und kam nahe an sie heran, als sie beim Roten Meer lagerten. Die erschrockenen Israeliten schrien voller Angst zu Gott um Beistand. Dazu heißt es im Zohar: „Es ist gesagt worden, daß der Pharao die Israeliten dazu brachte, sich Gott wieder anzunähern [...] Als sich die Israeliten dem Roten Meer näherten, erschraken sie und schrien laut. Wer brachte sie dazu, sich dem Vater in der Höhe zu nähern? Der Pharao! Es heißt ja: Der Pharao holte die Israeliten ein.2

Auch Lev 26,3.11 wird im Zohar zitiert und kommentiert. Dort sagt Gott zu den Israeliten: „Wenn ihr meine Satzungen befolgt, [...] werde ich meine Einwohnung in eurer Mitte verwirklichen, und meine Seele wird euch nicht verstoßen.“ Der Zohar kommentiert diese biblischen Worte Gottes so: „Die Schechina3 ist meine Einwohnung. Meine Einwohnung ist mein Pfand bei euch Israeliten. Sie ist das Pfand, das früher bei mir zurückbehalten wurde [...] Jetzt aber will ich mein Einwohnen in eurer Mitte verwirklichen. Ich werde ein Pfand bei euch niederlegen, um zu bestätigen, daß ich mit euch leben will. Obwohl Israel sich jetzt im Exil befindet, ist mein Pfand (= meine Anwesenheit) bei ihnen [...] Ich will mein Wohnen in eurer Mitte festlegen. Und meine Seele wird sich nicht von euch distanzieren.4

Beide Abschnitte sind im Zohar aufeinander bezogen. Gott benützt auch die mächtigen heidnischen Feinde Israels, zum Beispiel den Pharao, um die Israeliten wieder in seine Nähe zu bringen. Seine hilfreiche Präsenz auch - und besonders - in schwerer Zeit bleibt das Licht und die Kraft dieses Volkes. Sie durchwirkt auch die feindlichen, nicht-israelitischen Völker, um das Volk seiner Erwählung zu schützen und zu erziehen. Gottes stete Anwesenheit ermöglicht auch in Zeiten der Exile und der Zerstörung israelitischer Heiligtümer innere Sicherheit und ein geschichtlich aktives Verhalten.

2. Israel, das Basisvolk

In der Mischna zum jüdischen Neujahrsfest wird Ex 17,11 folgenderweise interpretiert: „Immer wenn Mose seine Hand (gegen die angreifenden Amalekiter) erhob, war Israel stark. Ließ er sie sinken, waren die Amalekiter stark.“ In der Mischna5 zum jüdischen Neujahrsfest (mRhSh 3,8) heißt es dazu: „Machen etwa die Hände des Mose den Krieg? Oder zerbrechen sie den Krieg? Vielmehr: Immer wenn die Israeliten gegenüber den göttlichen Anordnungen einsichtig waren und ihr Herz ihrem Vater im Himmel unterwarfen, waren sie siegreich, wenn nicht, pflegten sie zu fallen [...] Nicht die erhobenen Arme des Mose haben den Israeliten zum Sieg über Amalek verholfen. Vielmehr regten sie Israel an, die Augen zum Himmel zu erheben. Nachdem sie sich ihrem Vater im Himmel ergeben haben, haben sie gesiegt."

Aus dieser und aus vielen ähnlichen Stellen im Talmud und in den mystischen Schriften schimmert die Überzeugung durch, daß das Volk Israel über seine Feinde siegen und dadurch weiterbestehen kann, wenn es den Willen seines Vaters im Himmel erfüllt und vertrauend zu ihm betet. So wird dieses Volk zum Basis-Volk für alle Völker der Erde und für das Wachsen des kommenden Reiches Gottes.

Besonders aus Jes 49,6 wurde in der jüdischen Tradition herausgelesen, daß das Volk Israel das Volk der Voraussetzung für die Rettung der Völker der Welt ist. Gott sagt dort zu seinem Knecht (eventuell zum Messias): „Es ist zuwenig, daß du mein Knecht bist, nur um die Stämme Israels wieder aufzurichten und die Verschonten Israels heimzuführen. Ich mache dich zum Licht der Völker, damit mein Heil bis an die Grenzen der Erde reicht.“6 Ebenso wichtig für die jüdischen Mystiker aller Epochen und Färbungen waren Spr 10,25 und Jes 60,21. Spr 10,25sagt: „Der Zaddik (der Gerechte) ist die Grundlage der Welt.“ Als Zaddikim galten besonders seit dem 13. Jahrhundert die glaubwürdigen Lehrer von Tora, Talmud und Mystik. In Jes 60,21 wird das Ideal des Zaddik- auf das ganze Volk Israel ausgedehnt: „Dein Volk besteht aus lauter Zaddikim. Für immer werden sie das Land besitzen: als aufblühende Pflanzung des Ewigen, als Werk seiner Hände, durch das er seine Herrlichkeit zeigt.“

Wenn wir diese drei Bibelstellen (Jes 49,6; Spr 10,25; Jes 60,21) im Sinne der jüdischen Mystiker sehen, dann kann das Volk Gottes als Volk des Anfangs der endgültigen Herrschaft Gottes über alle Völker und über die ganze Schöpfung bezeichnet werden. Die übrigen Völker sind Israels Begleiter und Nachahmer, teilweise auch seine Feinde. Die gerechten und frommen Lehrer Israels sind die herausragenden menschlichen Mitplaner und Mitgestalter der Endherrschaft Gottes. - Damit sind wir wieder bei den Ideen und Lehren der Kabbala angelangt!

3. Einige Begriffe, Lehren und Kräfte der Kabbala

Die hebräische Wurzel „q-b-l“ bedeutet empfangen, übernehmen, weitertradieren, akzeptieren. Das Substantiv Kabbala ist daher mit Weiterleitung, Weitertradierung, Überlieferung, Übernahme wiederzugeben. Gemeint ist die jüdisch-mystisch-spekulative Bewegung, die sich besonders seit dem Mittelalter neben religiös-philosophischen Strömungen und rabbinischen Gemeindetraditionen als dritte geistig-religiöse Einflußquelle etablieren konnte. Mehrere kabbalistische Hauptideen stammen bereits aus spätantiker Zeit: Gnostische, neuplatonische, jüdisch-esoterische und auch christlich-theologische Ideen wurden von den Kabbalisten aufgegriffen und neuausgewertet (interpretiert). In der gnostischen Mythologie der Spätantike wurde gelehrt, daß Lebensfunken des göttlichen Lichtes während des Prozesses der Schöpfung - bzw. während der schöpferischen Herausströmung aus Gott, der Emanation - in alle Menschenseelen hineingelangt sind.

Besonders Isaak Luria, der bedeutendste Impulsgeber der Kabbala (1534-1572), entwickelte daraus und aus anderen älteren Traditionen die Lehre von den zehn Sefirot.7 Sie sind Eigenschaften Gottes und schöpferische Preisgaben zum Aufbau der Welt, zur Ermöglichung des göttlich-menschlichen Dialogs und zur Verwirklichung des Reiches Gottes. Nach kabbalistischer Lehre ist jedes Wort der Tora ein Teil des uneingeschränkten göttlichen Namens und damit der göttlichen Wirklichkeit. Das Volk Israel, die Menschheit, die organische und anorganische Welt, der Geschichtsablauf und sogar die Dämonen sind Ausfaltungen oder Schattierungen des göttlichen Namens. Teilweise bilden sie eine Spannung gegenüber der göttlichen „Verborgenheit aller Verborgenheiten“ und dem „Anfang ohne Anfang“ (Zohar III 288 a). Gott ermöglichte die Welt und die Menschen durch einen Akt der Selbstbeschränkung. Im Gefolge einer durch Sünden der geschaffenen höchsten Wesen (Engel und Menschen) verursachten kosmischen Katastrophe entstanden Zersplitterungen von Funken in der Welt und in den Menschen. Das Volk Israel hat die Aufgabe, als eine Gemeinschaft von Mitarbeitern Gottes für die Widerherstellung/Heilung der Schöpfung, besonders der Menschen, besorgt zu sein und so zusammen mit Gottes Wirken die endgültige göttlich-menschlich-weltlich-harmonische Einheit, den Yichud,8 zur vollen Wirklichkeit werden zu lassen.

4. Der Tikkun ha-Olam

Es geht hier um den zentralen Ausdruck der lurianischen Kabbala.9 Er bedeutet Wiederherstellung, Neuordnung, Reparatur, Heilung der Schöpfung. Die wichtigsten Ideen rund um den Tikkun ha-Olam sind zunächst vorzustellen.

Der christliche Kabbalaforscher und Scholastiker Joseph de Voisin (15. Jh.) hat den Tikkun ha-Olam prägnant definiert.10 Er bezeichnete ihn als „concatenatio rerum creaturarum cum causa prima“, d. h. als Zusammenkettung (Wiederuusammenführung) der geschaffenen Dinge mit dem Schöpfergott. Das göttliche und israelitische Programm tendiert auf eine Wiederaufbesserung der Welt, auf eine Reparatur der durch Sünden beschädigten und verwirrten Welt und auf die Wiederherstellung der Konformität mit Gottes Werken und Plänen in der Welt und mit der Welt.

Besonders Drei um den Tikkun ha-Olam kreisende Begriffe bilden das Zentrum der Mystik von Isaak Luria: 1. Der Zimzum: die Selbstbeschränkung Gottes zugunsten der Schöpfung, 2. die Schevirat ha-Kelim: das Zerbrechen der Gefäße im Gefolge der Ursünden der obersten Geschöpfe Gottes (der Engel und der Menschen), 3. Der Tikkun ha-Olam: die mindestens seit Abraham begonnene, aber noch nicht vollendente Zusammenführung von Schöpfer und Geschöpfen zur ursprünglich geplanten Einheit und zum dialogischen Austausch.

Wichtige Texte mit Tikkun-Vorschriften finden sich bereits in der Mischna und im Talmud. In mGit 4,2-4 und bGit 34b-40b wird das Tikkun-Ideal im Zusammenhang mit Ehe- und Besitzkrisen dargelegt. Wichtige Initiatoren des Tikkun-Denkens waren vor allem Hillel (um 20 v. Chr.) und Rabban Gamaliel der Ältere (30-40 n. Chr.). Hillel führte vor allem den Prosbul 11 ein: Wenn Rückgabedaten von Geld und entlehntem Besitz von den Entlehnern verweigert werden, weil diese Daten auf einen Schabbat oder Feiertag fallen, dann erlöschen die Verschuldungen nicht, sondern müssen bei nächster Gelegenheit erledigt werden. So können und müssen auch Diebstahl, religiöse Zerrissenheiten und Feindschaften vermieden werden.

Israels religiöse und soziale Abirrungen, Streitereien und Verbannungen müssen also sowohl durch volkseigene Bemühungen als auch durch Gottes Beistand aufgehoben werden. So kann die wahre, wiederhergestellte/geheilte Zeit der Harmonie und der göttlich und israelitisch geprägten Welt, zu der schlußendlich auch die Weltvölker Zutritt haben werden, heranreifen. Sie wird spätestens beim Kommen des Messias zur Vollendung finden.

Nach kabbalistischer und chasidischer Überzeugung12 wird der Messias - teilweise durch Leiden und Nöte hindurch - den Tikkun ha-Olam für Gott, Israel und die Gesamtschöpfung zur Reife bringen. Zur Vollendung Israels gehört auch der Sieg über die Feinde Israels, die Wiederherstellung des Tempels in Jerusalem und die Rückführung aller exilierten Israeliten ins Heilige Land.

5. Abschließende Bemerkungen

Im Zusammenhang mit einer Auslegung von Jes 53,5 („Er wird durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden wird er zermalmt“) erzählte ein Kabbalist in Safed (ca. 1550n. Chr.) von einem Frommen, der viele Leiden über sich ergehen lassen mußte wegen seinen früheren Übertretungen: „Der Fromme ließ die Nöte über sich ergehen, um die bevorstehenden Leiden des Messias zu vermindern.“13 In der Kabbala gibt es viele jüdisch-christliche Gemeinsamkeiten, die aus Leidenserfahrungen heraus gewachsen sind.

Noch wichtiger ist die kabbalistisch-chasidische sowie die auch schon weit frühere israelitisch-jüdische Glaubensüberzeugung, daß Gott sich stets mitten unter seinem Volk befindet und daß dies der Hauptpunkt und der Hauptbeweis der Erwählung, Rückführung und Rettung dieses Volkes ist. Gott lebt, leidet, wirkt und entfaltet sich zusammen mit seinem Volk. So wird dieses Volk laut den Worten des messianisch denkenden Israel ben Elieser (1700-1760) „capax Dei“ (= Gott fassend) zur Spur Gottes in der Welt.

Die Neuordnung der Schöpfung, der Tikkun ha-Olam, als gemeinschaftliche Aufgabe von Gott und seinem erwählten und begnadeten Volk ist ein tragender Gedanke des Judentums und des Christentums. Beide „Völker“ arbeiten trotz teilweise getrennter Glaubensinhalte an Gottes Wirken zur Wiederherstellung und Erlösung der Welt mit. Dies ist ein wichtiger Ansporn in der jetzigen jüdischen und christlichen Krisenzeit.

Anmerkungen
  1. Der Sefer ha-Zohar (das Buch des Strahlens) wurde hauptsächlich von Moses de Leon (1250-1305) auf der iberischen Halbinsel verfaßt. Mehrere Traditionen dieses jüdisch-mystischen Buchs gehen bis ins 2. Jh. n. Chr. zurück.
  2. Zohar zu Ex 14. Text in englischer Übersetzung bei Daniel Chanan Matt, Zohar, The Book of Enlightenment, New York 1983, 111 f.
  3. Wörtlich Einwohnung. Gemeint ist die Anwesenheit Gottes im Kult, beim Tora-Studium und bei der Tora-Praxis.
  4. Zohar zu Lev 26; vgl. D. Ch. Matt, op. cit. (Anm. 2) 135 f.
  5. Die Mischna ist das um ca. 220 n. Chr. abgeschlossene Werk der das jüdische Volk verpflichtenden mündlichen Offenbarungstradition.
  6. David Flusser hat in seinen Dialogen mit mir mehrmals erklärt, daß Jes 49,6 das wichtigste Motiv für die Predigtreisen des Apostels Paulus zu den Völkern der Welt gewesen ist.
  7. Sefira/Sefirot bedeutet Zählung. Es geht um die Zählung einer Zehnergruppe von Wirkungskräften, die der unfaßbare Gott aus sich heraus preisgibt, um die Welt und die Menschen zu erschaffen und in der Verbindung mit sich zu erhalten. Vgl. auch die Rezension von Adalbert Böning zu: Otto Betz, Licht vom unerschaffnen Lichte, FrRu 5(1998)125 f.
  8. Jichud bedeutet Einheit, Einigung, Vereinigung. Inhaltlich ist die Zusammenarbeit zwischen Gott und Israel zur Wiederherstellung der Einheit, Ordnung und Gottgefälligkeit der Schöpfung und insbesondere Israels gemeint.
  9. Zur lurianischen Kabbala und speziell zum Tikkun-Begriff vgl. bes. Moshe Idel, Messianic Mystics, Yale University 1998; Johann Maier, Die Kabbalah, Einführung, klassische Texte, Erläuterungen, München 1995.
  10. In seinem Vorwort zum Werk „Pugio fidei“ des das damalige jüdische Denken zusammenfassenden Raimundus Martini (1220-1285).
  11. Vom griech. prosbolä = Vorbehalt.
  12. Gemeint ist hier der osteuropäische Chasidismus, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Podolien entstanden und bis heute von vielen charismatischen Gestalten mit messianischem Bewußtsein getragen und gefördert wird. Führende Chasidim (wörtlich: Fromme, Begnadete) waren vor allem Israel ben Elieser, der als Baal Schem Tov (Besitzer des göttlichen Namens) bezeichnet wurde (1700-1760), ferner Schneur Zalman von Ljadi (1745-1812) und Rabbi Nachman von Brazlaw (1772-1844). Vgl. Clemens Thoma, Rabbi Nachman von Brazlaw, Meister der Spiritualität, Herder, Freiburg/Br. 2002.
  13. Vgl. Lawrence Fine/Louis Jacobs (ed.), Safed Spirituality, Rules fo Mystical Piety, The Beginning of Wisdom, New York 1984, 92-114.