Ermüdungserscheinungen oder Krise in der christlich-jüdischen Zusammenarbeit?

Das Thema dieses Vortrages könnte eigentlich paradox erscheinen, wenn man sich vergegenwärtigt, was in den vergangenen 40 Jahren auf dem Gebiet der christlich-jüdischen Zusammenarbeit geschehen ist, insbesondere wenn man die Jahrhunderte und die Jahrzehnte vorher betrachtet.

Ermüdungserscheinungen oder Krise in der christlich-jüdischen Zusammenarbeit?

Ernst Ludwig Ehrlich

Das Thema dieses Vortrages könnte eigentlich paradox erscheinen, wenn man sich vergegenwärtigt, was in den vergangenen 40 Jahren auf dem Gebiet der christlich-jüdischen Zusammenarbeit geschehen ist, insbesondere wenn man die Jahrhunderte und die Jahrzehnte vorher betrachtet. Die große Zäsur in dieser Beziehung, die in Wirklichkeit eine Verachtung oder bestenfalls eine Gleichgültigkeit war, erfolgte durch die Schoa, die zur Folge hatte, dass durch viele Kreise der Christenheit ein Erwachen ging und teilweise auch ein Erschrecken, weil die Kirchen als Institutionen die Juden weitgehend im Stichegelassen hatten.

Eine eigentliche Wende erfolgte auf katholischer Seite durch das Vatikanische Konzil 1965 und durch die verschiedenen Erklärungen der Landeskirchen, vor allem die der Rheinischen Synode 1980.

Betrachtet man die Literatur der letzten Jahrzehnte einerseits und die offiziellen kirchlichen Erklärungen andererseits, so wird man eine Fülle positiver Gedanken und Äußerungen feststellen können und auch die offiziellen Dokumente fangen an, unübersehbar zu werden. Das gilt besonders für die Exegese, vereinzelt jedoch auch für die systematische Theologie, d. h. die Dogmatik. Zentral dabei war die Aussage des Papstes in Mainz 1980, vom ungekündigten Bund Gottes mit Israel. Seither ist über dieses Thema in vieler Hinsicht nachgedacht und veröffentlicht worden. Als einer der Ersten in diesem Zusammenhang ist Franz Mussner zu nennen. Er kommt dabei zu folgendem Ergebnis, das für die Exegese und Dogmatik von Bedeutung ist: »Bei der Parusie, diesem weltöffentlichen Ereignis, wird sich vor den Augen der Völker erweisen, dass Gottes Bund mit den Völkern, seinem erwählten und geliebten Volk, von dem in Röm 11,27 die Rede ist, der Ewige Bund ist, den Gott einst mit den Urvätern Israels geschlossen hat. Wenn die christliche Theologie davon Kenntnis nimmt, dann hilft ihr dies, ihren alten Antijudaismus endlich aufzugeben und mit Ehrfurcht auf die Wurzel der Kirche zu schauen. Erfreulicherweise sind die Kirchen dabei (»Der ungekündigte Bund? Hgg. von Hubert Frankemölle 1998, S. 169f.). Es ist im Übrigen gewiss ein Fortschritt, wenn eine recht umfangreiche Publikation dem Problem vom ungekündigten Bund gewidmet ist. Es wäre ja fast bösartig, wenn man nicht zur Kenntnis nähme, in welcher Weise in beiden Kirchen versucht wird, den früher üblichen Antijudaismus zu vermeiden und dem Judentum gerecht zu werden.

Es gab früher zwei Themen, die vor allem antijüdisch besetzt waren: Die Schuld der Juden am Tode Jesu sowie das Pharisäerproblem. Hier ist auch in der Pädagogik manches geschehen und viel guter Wille aufgebracht worden. Auch die allmähliche Trennung von Juden und Christen wird in vielen Darstellungen weitgehend adäquat behandelt. Wenn also vielleicht zu zeigen ist –und in den beiden umfangreichen Sammelbänden von Rendtorff und Henrix sowie Henrix und Kraus ist nachzulesen, was in den letzten Jahrzehnten an Erklärungen über die Juden von den Kirchen erschienen ist. Im Jahre 2003 spricht der Papst in einem apostolisch-nachsynodalen Text davon, der Dialog mit dem Judentum sei von fundamentaler Bedeutung für das christliche Bewusstsein als solches, und er wünscht sich einen neuen Frühling in der gegenseitigen Beziehung. Dazu gehören der Dialog und die Zusammenarbeit mit den Gläubigen der jüdischen Religion. Der Papst erinnert an das, was Söhne der Kirche Juden während der Geschichte in ihrer antisemitischen Haltung angetan haben, und rät, man solle dafür um die Vergebung Gottes bitten.

Die Frage stellt sich nun, in welcher Weise all das in den christlichen Gemeinden angekommen ist und wie Pfarrer und Gemeindeglieder davon Kenntnis zu nehmen bereit und in der Lage sind. Man muss sich dabei vergegenwärtigen, dass die Lehre der Kirche und später auch der Kirche der Reformation, eine völlig andere war, die dem Judentum als Religion den Totenschein ausgestellt hatten, bzw. die Berechtigung, Juden zu sein, wenn sie ihre theologische Verworfenheit beseitigen wollten. Dazu diente früher die Judenmission, die heute von der katholischen Kirche abgeschafft worden ist und nur noch in wenigen Seitenzweigen bei Protestanten existiert. Christen haben viel zu wenig gewusst, dass gerade dieses Problem bis weit in unsere Tage hinein zwischen Juden und Christen stand.

Zwei Grundprobleme stellen sich nun in der heutigen Situation. Es ist nicht leicht, eine so lange antijüdische Tradition grundlegend zu verändern, andererseits stellt sich die Frage der eigenen Identität. Wenn man den ungekündigten Bund gelten lässt und sich das nicht nur als abstrakte Formel vorstellt, ergibt sich notwendigerweise die Frage nach dem Proprium des Christlichen. Dies gilt besonders, wenn, was gelegentlich geschieht, das Judentum als eine versteinerte Gesetzesreligion verstanden wird. Dabei wird nicht beachtet, dass das Gottesverhältnis der Menschheit von der menschlichen Seite her der steten Neuvergewisserung bedarf.

Diese ist verbunden mit der immer neu vorgetragenen und gewährten Bitte um Vergebung. Die immer neue Vergebung menschlicher Schuld bedeutet für Israel die Erneuerung des alten Bundes. Der Vorgang der Vergebung hat nicht nur eine individuelle Innenseite, bei der ein einzelner Mensch in der Einsamkeit seines Herzens seine Gottesbeziehung realisiert und erneuert, er hat auch eine kollektive Seite, einen Gemeinschaftsaspekt. So erneuert Israel seinen ungekündigten Bund mit Gott an jedem Jom Kippur zu einem neuen und ewigen Bund. Christen wissen viel zu wenig von der spirituellen Seite des Judentums, bestenfalls erbauen sie sich an den chassidischen Erzählungen von Martin Buber. Wer sich mit dem Judentum beschäftigen will, muss mehr wissen als das, was er dem so genannten Alten Testament - das die Juden die hebräische Bibel nennen –entnehmen kann.

Als Christ wird man bei einer tieferen Beschäftigung mit dem Judentum auf zahlreiche Probleme verwiesen. Das Wesentliche besteht in der Gegenüberstellung von Verheißung und Erfüllung, da das Judentum eine innerliche Erfüllung nicht kennt und auf das sichtbare Reich Gottes wartet.

Das Problem der Erfüllung hat natürlich mit der Christologie zu tun, die Judentum und Christen tum scheidet, wobei die Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazareth ebenso eine Rolle spielt wie die Trinität, gleichgültig, wie diese biblisch gerechtfertigt werden kann, wobei die Menschwerdung 451 im Konzil von Chalkedon formuliert worden ist. In diesen Zusammenhang gehört das Problem der Erlösung, mit dem Christen ja auch ihre Schwierigkeiten haben. Ebenso spielt die Person des Messias im Judentum - aus welchen Gründen auch immer - eine weit geringere Rolle als im Christentum, denn Juden meinen, Gott würde selbst sein Reich schaffen, wenn es Ihm gefällt.

So stehen sich hier zwei sehr verschiedene, aus der gleichen Wurzel stammende Religionen gegenüber. Viele haben inzwischen gelernt, dass sie auf einem gemeinsamen Fundament stehen. Aber dennoch ist das Trennende so gewichtig, dass nicht wenige Christen, gerade wegen der vielen Gemeinsamkeiten, unruhig werden und diese daher zu verdrängen suchen. Das könnte zu einem Antijudaismus führen, der durch die Hintertür wieder erscheint, weil Christen ihre Ursprünge und ihr Gemeinsames mit den Juden schwer ertragen. Dazu kommt, dass gerade die jüngere Generation nicht mehr von einer »Kirche nach Auschwitz« reden will, weil für sie dieser Begriff kaum noch etwas bedeutet, und die Älteren verdrängen, dass Auschwitz überhaupt erst möglich wurde auf dem Hintergrund einer fast zweitausendjährigen Judenfeindschaft.

Nicht die christlich-jüdische Beziehung heute ist in die Krise geraten, sondern eher die christliche Theologie. Neben einer seriösen Exegese steht eine damit teilweise unverbundene Dogmatik. Wir leben in einem Zeitalter der Säkularisation einerseits und einer Falle der Sektiererei. Für Juden ist es leichter, sich mit der Geschichte und der Erinnerung auseinander zu setzen. Christen haben hier offenbar Probleme, die auch ihr Verhältnis zu den Juden berühren. Als Stichworte nennen wir hier »Gesetz und Evangelium«.

Israel aber kann dieses Ziel nur dadurch erreichen, dass es von seinen eigenen Quellen her in dem Menschen Jesus von Nazareth den biblisch prophezeiten Gottesknecht, den Heilskönig und den Menschensohn erkennt. Diesem Entdecken dient unser Christuszeugnis, das wir unseren jüdischen Brüdern weder aufdrängen noch verschweigen dürfen.

Es ist nicht meine Aufgabe - obwohl sie mich ungemein reizen würde - ein Christentum zu entwickeln, das einerseits dem Judentum gerecht wird und andererseits christliche Identifikation bewahrt. Es kommt mir auch nicht zu, hier eine neue Christologie zu entwickeln. Ich kann mich daher nur auf einen christlichen Theologen beziehen, der in einem Aufsatz »Kirche nach Auschwitz« (Johann Baptist Metz in FS Ehrlich 1991) das Folgende schreibt: »Die Geschichte ist ganz zur Literatur geworden, in der man sich à la carte zusammenstellt, was einem schmeckt. ... doch auch für den Glauben der Christen gilt schließlich, dass er nicht nur ein Gedächtnis hat, sondern Erinnerung ist. Erinnerung des Leidens, des Todes und der Auferweckung Jesu Christi. Wir Christen haben diese Gedächtnisverfassung unseres Glaubens zwar kultisch bewahrt (tut dies zu meinem Gedächtnis), aber haben wir sie auch hinreichend öffentlich kultiviert? Haben wir sie geistig-kulturell ausgebildet und verteidigt?«

Ich könnte mir vorstellen, dass mit diesem Gedanken Juden und Christen miteinander sowie nebeneinander leben könnten, wenn die Erinnerung nicht nur kultisch ist, sondern in der Existenz zum Ausdruck kommt. Die gelegentlich derzeit aufgetretene Krise entspringt auch einer Erinnerungs- und Denkfaulheit, einer mangelnden Tiefe in das Eindringen der eigenen Religion, was für Juden und Christen in gleicher Weise gilt.

So bleibt uns heute als Aufgabe, uns mehr als früher nicht nur konkretes Wissen anzueignen, sondern das geistig Erworbene auch spirituell umzusetzen. Wenn heute gelegentlich von Ermüdungserscheinungen gesprochen werden kann, so deshalb, weil man achtlos aneinander vorbeigeht, das Eigene nur noch oberflächlich kennt und das Andere entweder ablehnt oder als überholt ignoriert. Sicher gibt es in der Bundesrepublik wenig jüdische Partner, mit denen ein Dialog möglich ist. Das ehemals deutsche Judentum ist weitgehend vernichtet worden. Dennoch haben Christen gemerkt, dass es sich in Wirklichkeit um sie selber handelt, wenn sie mit dem Judentum zu tun bekommen und eines Tages werden auch Juden erkennen, dass im Christentum ein Stück jüdischer Geschichte enthalten ist, ein Zeugnis ihres eigenen Glaubens.

Wenn wir auf beiden Seiten so weit gelangen, wird von Ermüdungserscheinungen oder Krise nicht mehr die Rede sein. Wir haben bereits miteinander einen langen Weg von fünf Jahrzehnten zurückgelegt. Hoffen wir, dass wir in den kommenden fünf Jahrzehnten die Früchte ernten, deren Samen wir jetzt gesät haben.

Was bleibt von einem langen Leben? Was bleibt von einem langen Pontifikat?

Gut, dass wir es nicht wissen. Eines aber lässt sich mit Gewissheit sagen: Die Israeltheologie Johannes Paul II. wird für immer in die Erinnerung und den Glauben der katholischen Kirche eingeschrieben sein. Eine Rückkehr auf den falschen Weg der Vergangenheit ist nach diesem Pontifikat nicht mehr möglich, da er aufbauend auf den Weisungen des Konzils den Weg zu Israel gewiesen hat und selbst gegangen ist. Auch wenn hier noch viel zu tun bleibt, so hat er damit eine große Arbeit getan und mitgewirkt am Werden der Verheißung nach Ps 133,1: Siehe, wie fein und lieblich ist‘s, dass Brüder so einträchtig beieinander wohnen!

Editorische Anmerkungen

Der Autor ist Ehrenvizepräsident des europäischen B’nai B’rith.

Quelle: »Der christlich-jüdische Dialog auf dem Prüfstand«, Tagung des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und der Konrad-Adenauer-Stiftung, Wesseling, 20. – 22. 10. 2003.