Erlösung als Problem der interreligiösen Begegnung

Eine systematische und religionspädagogische Auseinandersetzung mit einem sperrigen Gegenstand.

1. Erlösung als Thema interreligiöser Begegnung

Über Erlösung heute zu sprechen, sie zum Gegenstand religiöser Lehr- und Lernprozesse zu wählen, stellt vor große Herausforderungen. Christlich motivierte Vorstellungen von Erlösung sind Menschen heute vielfach fremd.[1] Hier können Prozesse interreligiöser Bildung ansetzen, die im Sinne komparativer Theologie[2] aufbereitet werden. Denn Erlösung als Thema interreligiöser Begegnung kann helfen, zum Kern der Sache religiöser Weltdeutung vorzudringen. Wo über Erlösung – sei es implizit oder explizit – gesprochen wird, geht es um das ureigene Anliegen der Religionen, dem Menschen eine Heilsperspektive auf das Dasein erschließen zu können. Der vorliegende Text möchte die damit verbundenen Chancen für interreligiöse Bildungsprozesse aufzeigen, ohne dass deshalb schon über alle inhaltlichen Probleme entschieden wäre. Dies gilt es in intensiven Detailauseinandersetzungen zu vertiefen – um des Dialogs, aber auch um des christlichen Selbstverständnisses willen, das durch die Begegnung mit dem religiös Anderen tiefer erschlossen wird.

Im Folgenden wollen wir den Versuch wagen, im Sinne einer komparativen Theologie[3] diesen Komplex nicht auf Basis eines methodologisch ohnehin problematischen Vergleichs ganzer Religionsgemeinschaften, sondern in einer detaillierteren Untersuchung einzelner Überzeugungssysteme und theologischer Konzepte anzugehen. Ein solches Vorgehen ist gerade auch für eine religionspädagogisch verantwortete Praxis interreligiöser Bildung von Bedeutung. Da weltanschauliche Überzeugungen in pluralen Lebenswelten nicht mehr aus einer religiösen Tradition allein erwachsen, z.T. auch nichtreligiöser Art sind, bietet eine mikrologische Vorgehensweise die Chance, in der Auseinandersetzung mit ausgewählten Positionen nicht-christlicher Religionen das Spezifische einer christlich motivierten Vorstellung von Erlösung kennenzulernen und gleichzeitig wahrzunehmen, dass die Evidenz von Glaubenswahrheiten erst in einem solchen Prozess des kritischen Anund Rückfragens aufscheinen kann.[4]

Nach einer kurzen Erläuterung der Herausforderungen unseres Themas (2) wird unser erster Schritt zur Annäherung an das Problem in einer knappen Skizze dessen bestehen, was christlich unter Erlösung verstanden werden kann (3). Von diesem Punkt aus lässt sich eine interreligiöse Perspektive auf den Erlösungsbegriff erschließen, die zugleich im konkreten Fall spezifische Aspekte des christlichen Denkens neu ins Blickfeld rücken kann (4). Es geht also um eine christliche Annäherung an den theologisch wie lebensweltlich herausfordernden Begriff der Erlösung im interreligiösen Kontext (5), die sich jedoch nicht als abgeschlossenes Deutungssystem begreift, sondern konsequent als offener Prozess wechselseitigen Lernens und tieferen Verstehens angelegt ist (6). Abschließend werden einige religionspädagogische Impulse gegeben (7).

2. Eine bleibende Provokation

Kaum ein theologischer Überzeugungskomplex scheint derart problematisch für die interreligiöse Verständigung wie das christliche Konzept der Erlösung. Denn die Annahme, dass Gott sich in der Geschichte Jesu zum Heil der Menschen selbst geoffenbart habe, birgt das Potenzial mit allen großen nichtchristlichen Religionen in Konflikt zu geraten. So scheint etwa aus jüdischer Sicht die messianische Dimension des christlichen Erlösungsgedankens im Widerspruch zur Erwartungshaltung des kommenden Gottes zu stehen.[5] Im Blick auf die sog. östlichen Religionen lässt sich zwar so etwas wie ein Erlösungsgedanke feststellen, dieser ist aber scheinbar so stark an das menschliche Handeln selbst gebunden, dass er mit der christlichen Gnaden- und Rechtfertigungslehre kollidiert.[6] Noch deutlicher zeigt sich das Problemgefälle im Blick auf den Islam, der sich mindestens in seiner sunnitischen Form explizit nicht als Erlösungsreligion versteht, weil das anthropologische Verständnis islamischer Theologie nicht von einer Erlösungsbedürftigkeit des Menschen ausgeht.[7] Auch für nicht religiöse Weltdeutung[8] stellt der Gedanke, dass Menschen einer von außen kommenden Erlösung bedürfen, eine Provokation dar.[9]

Weil aber der Erlösungsglaube, dass Gottes Selbstmitteilung als Liebe eine Bedeutung für den Menschen hat, dogmatisch die fundamentale Grundüberzeugung des Christentums schlechthin ist, hängt von seiner rationalen Verantwortung das ‚Ganze‘ des christlichen Glaubens ab. Das ist nicht allein für den theologischen Diskurs von Bedeutung, sondern auch für (inter-)religiöse Bildungsprozesse. Was Jürgen Baumert für die schulischen Fächer Religion und Philosophie mit dem vierten Modus der Weltaneignung umschrieben hat, nämlich die Auseinandersetzung mit „Probleme[n] konstitutiver Rationalität“[10], stellt sich gerade in der Auseinandersetzung unterschiedlicher, ja einander widersprechender Überzeugungen von Erlösung als Aufgabe.

Damit ist die Ausgangsproblematik bereits konturiert: Ist angesichts der provokativen Annahme eines in Christus geschehenen Heilsereignisses und ihrer Ablehnung eine interreligiöse Verständigung aussichtslos und eine (durchaus) wechselseitige Herabwürdigung gegebener Wahrheitsansprüche unausweichlich? Was für den interreligiösen Dialog gilt, spiegelt sich auch im Kontext interreligiöser Lernprozesse. Denn das mit dem christlichen Konzept von Erlösung Konnotierte stellt auch für Menschen aus christlichen Lebenswelten eine Art Provokation dar, nicht zuletzt weil die theologische Sprache nicht oder anders verstanden wird als im theologischen Binnendiskurs.[11]

3. Anthropologisch gewendete Soteriologie

Entscheidend für ein christliches Verständnis der Erlösung in der Gegenwart ist der konsequente Mittvollzug der sog. anthropologischen Wende, für die im 20. Jh. auf katholischer Seite besonders prominent Karl Rahner Pate steht.[12] Rahner geht es dabei nicht nur darum, den Menschen stärker in den Mittelpunkt des theologischen Denkens zu stellen, sondern er stellt ein methodisches Prinzip auf, nach dem im Grunde jeder theologische Satz als Aussage des Menschen über Gott gelesen werden muss. Wann immer über Gott gesprochen wird, wird auch über den Menschen geredet, weil der Mensch derjenige ist, der spricht. Dieser fundamentale Ansatz hat weitreichende Konsequenzen: Denn wenn gesagt wird, dass es keine Aussagen über Gott gibt, die nicht zugleich auch Aussagen über den Menschen sind, muss ebenfalls gesagt werden, dass Aussagen über Gott nur eine Bedeutung haben, wenn sie vom Menschen verstanden werden können. Ist der Mensch aber auf diese Weise als Subjekt der Gotteserkenntnis bestimmt, wird klar, dass jede Theologie die Relevanz ihres Gegenstandes, also Gott bzw. das göttliche Handeln, für den Menschen erschließen muss. In dieser Perspektive ist die anthropologische zugleich eine soteriologische Wende, weil in der Erlösungstheorie seit jeher die Frage nach der Bedeutung der Offenbarung für den Menschen verhandelt wurde. Die Grundfrage lautet also: Welche Relevanz hat die Annahme der Offenbarung Gottes für den Menschen?

So verstanden wird bereits an dieser Stelle klar, dass die soteriologische Ausgangsproblematik sehr viel offener ist als vielfach im interreligiösen Gespräch, aber auch im Rahmen interreligiöser Lehr- und Lernprozesse vorausgesetzt. Hier spielen oft ‚Verengungen‘ auf die starke christliche Betonung der Sünde und – in der Tradition des Augustinus – der sog. Erbsündenlehre eine entscheidende Rolle. Versteht man die Frage nach dem begrifflichen Verständnis jedoch im Kontext der anthropologischen Wende, dann geht es um das Ganze des menschlichen Daseins.[13] Folgende Frage steht dabei im Fokus: Wo kann Gott für den Menschen bedeutsam werden und warum ist die Behauptung, Gott habe sich in Christus selbst zum Heil der Menschen geoffenbart, für das Daseinsverständnis auch des Menschen heute relevant? Genau dieser für komparativ-theologische Diskurse relevante Zusammenhang ist auch religionspädagogisch von Bedeutung. Denn spannend ist, dass diese Frage durchaus auch in die Kontexte andersreligiöser Offenbarungs- bzw. Heilsansprüche gestellt werden kann. Auch islamisch wird man sich die Frage stellen können bzw. müssen, warum es für den Menschen von Bedeutung ist, dass Gott sein Wort im Koran mitteilt. Ebenso dürfte von jüdischer Seite kaum bestritten werden, dass die Tora relevant für ein spezifisches Daseinsund Handlungsverständnis des Menschen ist.[14]

4. Das ‚absurde Dreieck‘ – Sinnfrage, Schuld und Leiderfahrung

Geht man von der zuvor dargelegten Perspektive auf den Erlösungsglauben aus, dann stellt sich die soteriologische Grundfrage ganz fundamental: Was macht den Menschen der Erlösung bedürftig? Was hat also wirkliche Relevanz für das menschliche Selbstverständnis, das sich der Mensch nicht auch selbst zugänglich machen kann und daher auf eine ‚andere Wirklichkeit‘ verweist?

Im Anschluss an Thomas Pröpper kann versucht werden, diese Bedürftigkeit bzw. Offenheit des Menschen in der widersprüchlichen Struktur der freien Vernunft zu verorten.[15] Demnach gehört es fundamental zum Menschsein hinzu, sich zu allem, was ist, in ein Verhältnis zu setzen und das bloße Sein „auf den Sinn dieses Seins“[16] zu übersteigen. Zugleich findet er aber nichts in der Welt vor, das den Sinn des Daseins letztgültig begründen könnte, weil alles, was ist, endlich, bedingt und vorläufig ist. Auch das, was also gut und schön im Leben ist, besitzt keine Endgültigkeit, sondern scheint letztendlich von Leid und Tod nichtig gemacht zu werden. Der Mensch ist in diesem Sinne immer entfremdet von der Welt, die sich seinem vernünftigen Zugriff entzieht: Dasein ist nicht so, wie es sein sollte, sondern es erweist sich letztlich als leidvoll und absurd.[17] Einzig die Freiheit des anderen Menschen scheint als Entsprechung des eigenen Ausgriffs nach Sinn denkbar, insofern sich in der Begegnung freier Subjekte ein Geschehen denken lässt, in dem unbedingte Anerkennung, d.h. eine vorbehaltlose Bejahung des Da- und Soseins des jeweils Anderen, intendiert ist. Allerdings bleibt auch diese Option zunächst verschlossen, weil der Mensch zwar das Vermögen besitzt, unbedingte Anerkennung zu intendieren, er kann sie aber nur bedingt realisieren, sodass seine faktischen Handlungen immer zweideutig und missverständlich bleiben. Mit anderen Worten: Für den Menschen sind die Handlungen des Anderen, auch wenn sie bedingungslos gut gewollt sind, immer Teil der ambivalenten Struktur der Wirklichkeit. Genau hier, so der freiheitsanalytische Zugang, ist aber die Offenheit des Menschen für die Idee Gottes erreicht: Gott darf gedacht werden als unbedingtes Anerkennungsgeschehen selbst, in dem die Widersprüchlichkeit der scheinbar absurden Welt im doppelten Sinne aufgehoben ist. Gott ist demnach Sinnhorizont menschlicher Freiheit, von dem her der Mensch die Ambivalenz der Wirklichkeit neu interpretieren und sein Handeln neu verorten darf: Gott selbst ist das ursprüngliche und bedingungslose Ja zum Menschen, das dieser sich selbst nicht sagen kann. Genau das ist es, was den Menschen der Erlösung bedürftig macht – oder vielleicht besser – was ihn ansprechbar für Gottes Wort sein lässt: die Frage nach Gott als letztem Grund des Daseins, die Frage nach einem Sinn des Seins überhaupt, auf die er in der Welt keine Antwort findet.[18]

Das skizzierte anthropologische Verständnis setzt damit die Erlösungsbedürftigkeit bzw. die Offenheit des Menschen für Gott bereits vor der Sünde des Menschen an, die das klassische soteriologische Denken (etwa in Anselm von Canterburys Satisfaktionstheorie) bestimmte. Der Mensch ist nicht erst aufgrund seiner Taten, sondern schon in seinem bloßen Dasein auf einen Sinngrund verwiesen.[19] Gleichwohl ist die Sündendimension des Erlösungsdenkens keineswegs ausgeklammert. Sie wird aber im Kontext der anthropologischen Vorüberlegungen neu perspektiviert. Sünde, begriffen als persönliche, schuldhafte Verweigerung gegen das Ankommen Gottes im Leben des einzelnen und damit der Welt, kann von der Endlichkeitsdimension des Subjekts her neu erschlossen werden. Denn insofern die Welt das Dasein des Menschen nicht zu begründen scheint, sondern dasselbe im Angesicht von Leid und Tod vielmehr dem Schein der Absurdität unterworfen ist, lässt sich erklären, warum Menschen zur Selbstrechtfertigung ihres Daseins neigen. Weil es unmöglich ist, Letztgültigkeit zu finden, scheint es nur sinnvoll, möglichst viel zu leben und dabei keine oder nur bedingt Rücksicht auf die Sinnansprüche der Anderen zu nehmen. Die Wurzel der Sünde läge dann in der verzweifelten Sinngebung des eigenen Daseins im Angesicht der Angst vor dem eigenen Tod.[20] Es geht also nicht um eine ursprünglich ‚verdorbene Natur‘ des Menschen, sondern um dessen ‚Geworfensein‘ (Heidegger) in eine scheinbar „vollkommen gleichgültige Welt-Wirklichkeit“[21], in der er zum Handeln gezwungen ist und um seiner selbst willen Schuld gegenüber dem Anderen in Kauf nimmt. Aus dieser Feststellung kann die auch für nicht religiös Sozialisierte bedeutsame Frage resultieren, inwiefern in einer Welt, in der der einzelne selbst für die Rechtfertigung seines Daseins verantwortlich ist und er deshalb immer wieder Entscheidungen treffen muss, die sich dem Anderen gegenüber als gleichgültig erweisen,  ethisches Handeln überhaupt sinnvoll möglich ist. Auch hier stellt sich also eine Frage nach Gott als Sinnhorizont der menschlichen Freiheit, insofern der Gottesgedanke das eigene, schuldhafte Versagen noch einmal umfassen kann.[22] Wenn demnach die Bejahung des Daseins nicht vom Subjekt selbst abhängt, sondern in Gott immer schon gegeben ist, kann der Mensch vom scheinbaren Selbstanspruch befreit werden, seine Daseinsansprüche notfalls auch auf Kosten anderer durchsetzen zu müssen.

Die Offenheitsstruktur der menschlichen Freiheit lässt sich grafisch dann in etwa so darstellen.

Das ‚absurde Dreieck‘[23] aus Sinnfrage, Schulderfahrung und der Leiderfahrung, wobei der letzte Begriff die oben angedeutete Wirklichkeit des natürlich und moralisch verursachten ‚Nichtseinsollenden‘ in den Blick nimmt, trennt arbeitshypothetisch die Aspekte des komplexen menschlichen Wirklichkeitsbezugs, in dem sich eine Offenheit für Gott selbst anzeigt. Damit ist bereits deutlich: Erlösung, sofern sie sich ereignet, bestünde in der Offenbarung Gottes als Sinnhorizont menschlichen Daseins, als unbedingte Bejahung der Existenz im Angesicht des ‚Neins‘ der Wirklichkeit, an dem der Mensch in seinem Handeln teilhat.

5. Erlösung ist Offenbarung

Ausgehend von diesen Überlegungen lässt sich schließen, dass zunächst in einem ganz formalen Sinne Erlösung als Offenbarung der daseinsbejahenden Wirklichkeit Gottes bestimmt werden kann.[24] Erlösung ist also nicht etwas, was zur Offenbarung Gottes hinzukäme (im christlichen Sinne etwa der Kreuzestod), sondern das Faktum der Selbstmitteilung Gottes in der Geschichte des Menschen als Liebe ist selbst die Erschließung eines Sinnhorizontes, von dem aus der Mensch sein Dasein neu interpretieren kann. Dieser Sinnhorizont eröffnet im theologischen Verständnis die Möglichkeit, das Dasein als ursprünglich begründet zu begreifen (als Antwort auf die Sinnfrage), sinnvoll ethisch zu handeln auch im Angesicht eigener Schuld und endlicher Lebens- und Sinnressourcen[25] (als Integration der Schulderfahrung) und die leidvolle Weltwirklichkeit nicht als das entscheidende Wort über das eigene Dasein begreifen zu müssen, sondern es als Teil der Existenz (im Sinne einer subjektiven Integration konkreter Leiderfahrung) annehmen zu können. Mit einem solchen Zugang gewinnt auch die für Jugendliche relevante Theodizeefrage einen bedenkenswerten Raum.[26]

Im christlichen Verständnis ereignet sich diese Zusage in der Geschichte Jesu von Nazaret.[27] In seinem Leben realisiert Jesus das vorbehaltlose Ja Gottes zum Menschen, das Gott als die Liebe selbst identifiziert und ihn als guten Grund menschlichen Daseins offenbart. In seinem Tod wird die Annahme auch der Zwiespältigkeit des Lebens erschlossen, die dazu befreien kann, das Leben nicht vom Tod her interpretieren zu müssen.[28] Wo nicht der Tod das letzte Wort über das Dasein hat, ist der Zwang zur Selbstrechtfertigung gebrochen. In diesem Sinne ist ein sinnvolles ethisches Handeln neu ermöglicht, weil ich meiner Existenz nicht zuerst einen Sinn abtrotzen muss, sondern sie durch den gegebenen Zuspruch im gleichen Maße vom Anspruch des Anderen an mich her deuten kann.[29] Zugleich ist auch das Scheitern meines guten Willens an realen Umständen im Offenbarungsereignis Gottes als Liebe aufgehoben, gerade weil menschliches Dasein nicht erst durch sittliches Handeln, sondern schon ursprünglich als gewollt offenbar wird. In der Auferstehung Jesu wird offenbar, dass die Liebe nicht an ihrer Negation durch den Tod scheitert, sondern den Tod umfasst und sich als letztgültige Wirklichkeit zeigt.

Entscheidend für das christliche Erlösungsverständnis ist, dass die Aspekte des einen Offenbarungsereignisses nicht voneinander getrennt, sondern als Zusammenhang begriffen werden, in dem Gott als das Wesen, das nicht nur Liebe hat, sondern selbst wesenhaft Liebe ist, offenbar wird und menschliches Dasein und Sosein als ursprünglich gewollt erschließt. Es geht also im christlichen Erlösungsverständnis um eine umfassende Begründung menschlichen Daseins, die nicht auf die Wirklichkeit der Sünde zu reduzieren ist, wenngleich dieselbe natürlich in einer ausführlichen Soteriologie entsprechend zu bedenken ist.

6. Erlösung interreligiös?

Nachdem nun erschlossen ist, was der Begriff der Erlösung im christlichen Kontext meinen kann, lässt sich die Frage nach einer interreligiösen Perspektivierung neu stellen. Denn es geht eben nicht mehr so sehr um die Frage, ob andere religiöse Traditionen den Erlösungsbegriff explizit verwenden, sondern vielmehr darum, ob es funktionale Entsprechungen zur offenbarungstheologischen Bestimmung des Erlösungsbegriffs gibt. Dabei ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass diese spezifische Variationen zum christlichen Verständnis beinhalten oder eben gar nicht vorhanden sind. Diese funktionalen Entsprechungen eröffnen den Raum, in dem interreligiöse Lehr- und Lernprozesse anzusiedeln sind. Sie theologisch angemessen herauszuarbeiten, stellt eine wesentliche Aufgabe für die didaktische Planung dar.

Nun wird man nicht umhin kommen, zu sehen, dass Religionen an sich keine einheitlichen, sondern radikal heterogene Komplexe sind, die in sich eine unhintergehbare Pluralität von Deutesystemen der eigenen Tradition vereinen. Einen Zugang zu einer Religion gewinnt man nur über die Untersuchung einzelner Konzepte und Deutungen, nie aber zu einer Tradition in ihrer Gänze. Die interreligiösen Verständigungsprozesse sind somit immer fragmentarisch, vorläufig, personal und situativ vermittelt und setzen das Wissen um diese je beschränkte Erkenntnismöglichkeit voraus. Das gilt überdies nicht nur in einem systematisch-theologischen oder religionsphilosophischen Sinne, sondern auch religionspädagogisch. Das Prinzip der Korrelation setzt ja genau dort an, wenn der Lebensweltbezug des lernenden Subjekts mit Glaubensinhalten und Glaubenspraktiken korrelierend in ein Gespräch gebracht wird. Das mikrologische Vorgehen Komparativer Theologie bildet eine tragfähige Voraussetzung dafür, eine Sensibilität für das Widerständige in der vermeintlich eigenen und fremden Religion aufbauen zu können.[30] Dabei kann ein Wissen um die beschränkte Erkenntnismöglichkeit und die Erfahrung der Sinnhaftigkeit des Ringens darum gerade im Prozess wiederkehrender komparativer Auseinandersetzungen gewonnen, genauer erarbeitet werden.

In diesem Sinne soll es im Folgenden darum gehen, einen exemplarischen Zugriff auf andere religiöse Traditionen zu gewinnen, die gleichwohl selbstverständlich einen induktiven Zugang zu den Traditionen selbst gewährleisten können. Die Aneignung religionskundlichen Wissens kann auf diese Weise sinnvoll verknüpft werden mit der Aus-ein-ander-Setzung um die Frage nach der allgemein anthropologischen Fragen nach Erlösung wie auch nach der spezifischen Bedeutung von Erlösung anderer Traditionen.

6.1 Judentum

In der Auseinandersetzung mit jüdischen Offenbarungs- und Erlösungsvorstellungen ist aus christlicher Sicht grundsätzlich an das besondere Verhältnis zwischen JüdInnen und ChristInnen zu erinnern, das sich formal aus der Verwurzelung des Christentums im Judentum ableiten lässt. Inhaltlich ist es dabei besonders durch das ‚Judesein‘ Jesu bestimmt, d.h. dass das Bekenntnis zu Christus als der Selbstmitteilung Gottes als Liebe nicht außerhalb dieses Selbstverständnisses Jesu reflektiert werden kann. Vor diesem Hintergrund ist eine in der christlichen Theologie oft vorgenommene schroffe Gegenüberstellung der Offenbarungskonzepte in Judentum (Mitteilung satzhafter Wahrheiten und Handlungsge- und -verbote) und Christentum (liebevolle Selbstmitteilung aus Gnade), die nicht selten in eine christliche Gesetzespolemik mündet(e) von vornherein ausgeschlossen. Klaus von Stosch benennt in einer christlichen Annäherung an den jüdischen Offenbarungsbegriff drei zentrale Aspekte:[31] Offenbarung ist aus jüdischer Sicht Sprachereignis (a), sie ereignet sich ‚zwischen‘ Menschen (b) und die Pluralität ihrer Deutungen und Explikationen wird als Positivum gewertet (c). Impliziert ist damit ein dynamischer Ereignischarakter, der durchaus ethisch bestimmt ist (b), zugleich aber stark diskursiv verfasst ist (c). In diesem Verständnis wird eine starke Einbindung des Menschen in das Heilsgeschehen ersichtlich: Gott wirkt seine Offenbarung, die im christlichen Verständnis eben mit der Erlösung des Menschen identisch ist, nicht am Menschen vorbei, sondern er benötigt den Menschen, damit sein Wort in der Welt an- und zur Geltung kommt. Im Rahmen interreligiöser Lernprozesse vermag die jüdische Argumentation einerseits ein möglicherweise deistisch geprägtes Weltbild Jugendlicher herauszufordern und andererseits Pluralität innerhalb eines Weltdeutungssystems, einer Religion denkend nachvollziehbar zu machen, ohne dass die unterschiedlichen Positionen als beliebig missverstanden werden.

Aus dieser Perspektive lässt sich möglicherweise ein tieferes Verständnis dafür gewinnen, dass Erlösung aus jüdischer Sicht eine konkrete Aussage über den Zustand der Gegenwart meinen muss. Erlösung müsste, wenn das Offenbarungshandeln Gottes sich im menschlichen Handeln bewährt, in der Welt erfahrbar und sichtbar sein. Gerade hier scheint die Wurzel der Skepsis gegenüber einem emphatischen christlichen Begriff der Erlösung zu liegen: Die Welt, in der wir leben, ist offenkundig noch nicht erlöst, sondern wartet noch auf das ‚messianische Zeitalter‘, auf die Gutwerdung des gegebenen Zustands. „Nicht umsonst wird gerade […] unter religiösen Juden in den letzten Jahrzehnten weniger über Erlösung gesprochen, (sic!) als über den viel praktischeren Begriff Tikkun Olam – der ‚Korrektur der Welt‘. Gewiss, das erlöste messianische Zeitalter bleibt darin als eigentliche Richtschnur inbegriffen. Aber alle Schritte dahin sind vom Menschen zu gehen, in einer Gott-Mensch-Beziehung, die hauptsächlich darin besteht, in konkreter Arbeit ein paar Dinge an dieser Welt zu ‚korrigieren‘ – damit sich der Weg der ‚Erlösung‘ am Ende doch noch bestätigen wird.“[32] Solche Argumentationsstrukturen sind für Jugendliche von Interesse, bestätigen sie doch das entwicklungsbedingte Anliegen, die Welt aktiv gestalten zu wollen.

Christliche Erlösungstheorien profilieren an dieser Stelle oft ein stärkeres Passivitätsmoment: Erlösung ist Gnade, die zuerst geschenkt wird, und nicht vom menschlichen Handeln hergestellt wird. Von Gott her wird ein neuer Weg des Daseinsverständnisses ermöglicht, der vom Menschen selbst nicht zu erschließen ist. Und doch muss natürlich auch christlich daran festgehalten werden, dass es außerhalb der symbolischen Vermittlung der Erlösung in der Welt keine Erkenntnis derselben geben kann.[33] Auch christlich ist also daran festzuhalten, dass nur die menschliche Annahme des Offenbarungsereignisses im praktischen Tun die Wirklichkeit der Erlösung zur Durchsetzung bringt. Dass die Möglichkeit dieser Annahme christlich wiederum von dem Gedanken des Geschenktseins getragen ist, dass ich also zum Tun des Guten nicht durch mich, sondern durch das zwischenmenschlich vermittelte Ja Gottes befähigt bin, muss hier keinen zwingenden Widerspruch bedeuten. So scheint gerade in der Ausbuchstabierung des oben in (b) thematisierten ‚Zwischenmenschlichen‘ (etwa bei Emmanuel Levinas) die Herkünftigkeit meines Handelnkönnens vom Anderen auch jüdischerseits einholbar. Auf diese Weise kann die Spannung des Schon-jetzt und Noch-nicht eschatologischer Verheißung wahrgenommen und die politische wie gesellschaftliche Dimension jüdischen und eben auch christlichen Weltverständnisses stark gemacht werden.

Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass christliche Zugänge zum Erlösungsglauben eine stärkere Betonung des bereits Geschehenen beinhalten, d.h. Gottes Wort ist ein für alle Mal unwiderruflich gesagt. Zwar ist die Welt noch nicht im Sinne dieses Wortes verwandelt, aber das Entscheidende, Gottes Selbstkundgabe als guter Grund des Daseins hat sich bereits ereignet. Jüdische Erlösungsvorstellungen können an dieser Stelle bleibend vor einem christlichen Triumphalismus warnen, der das noch bestehende Leid und den aktuellen Notstand der Welt zu übersehen droht, wie etwa das einer christlichen Theologie nachhaltig zu denken gebende Beispiel der jüdisch-theologischen Auseinandersetzung zur Möglichkeit des Judeseins nach Ausschwitz zeigt.[34] Das ‚Noch-nicht‘ der Erlösung bleibt der Stachel im Fleisch des Erlösungsglaubens, der ein passives Warten auf die Vollendung unterbindet. Gerade diese präsentisch-eschatologische Pointe des jüdischen Denkens hat etwa durch die sog. Neue Politische Theologie gewichtigen Einfluss auf die neuere christlich-theologische Debatte erhalten.[35]

6.2 Islam[36]

Es ist oben bereits angedeutet worden, dass sich islamisch-theologische Konzepte vom Begriff der Erlösung tendenziell distanzieren. Ein Grund dafür mag historisch in der starken christlichen Verknüpfung von Sünde und Erlösung liegen.[37] Insofern aber gezeigt wurde, dass es weniger um die Begriffshülse ‚Erlösung‘ als um ihre inhaltliche Füllung geht, lassen sich auch islamisch möglicherweise Anschlussmöglichkeiten finden.[38]

Gegen diese Tendenz lässt sich aber etwa mit dem schiitischen Gelehrten Mahmoud Ayoub im anthropologischen Grundverständnis eine klare Parallelität zu Camus aufweisen, wenn er Leid und Tod als Grundmysterien der Menschheit beschreibt, weshalb „denn auch die Idee von oder die Hoffnung auf Erlösung aus dem Leiden geboren“[39] ist. Ohne auf die konkrete, stark eschatologisch konzentrierte Erlösungsvorstellung hier näher eingehen zu können, kann somit Erlösung durchaus als Thema islamisch-schiitischer Theologie identifiziert werden.[40] Einen für den hier vorgetragenen christlichen Ansatz besonders interessanten sunnitischen Weg schlägt Milad Karimi ein, der – dem jüdischen Verständnis gar nicht unähnlich – die Offenbarung des Koran als Sprachereignis, das die Schönheit Gottes offenbart, versteht. Diese Schönheit vermag – dem Liebesbegriff im christlichen Verständnis äquivalent – das Gutsein des Daseins zu offenbaren, eben Gott als guten Grund menschlicher Existenz ins Wort zu setzen. So ist dann auch das geschriebene Wort, das historisch später zur mündlichen Tradierung des Koran ist, nur von der Form der Rezitation her zu begreifen und in der Rezitation des Koran hat der Mensch Anteil an der Offenbarung Gottes. „Der Koran ereignet sich in der Rezitation und zugleich im Hören desselben. Durch diesen dynamischen Akt des melodischen Vortrags und des Hörens gewinnt der Koran als Koran an Realität, genauer: Der Koran wird erst zum Koran, wenn er rezitiert und im gleichen Atemzug gehört wird. Allein in diesem Akt wird die Gegenwart Gottes sinnlich wahrnehmbar.“[41]

Aus dieser Perspektive ergeben sich zwei für das soteriologische Gespräch zwischen ChristInnen und MuslimInnen nicht ganz unerhebliche Einsichten: 1. Auch islamisch lässt sich Offenbarung als Erschließung der ursprünglichen Daseinsbejahung durch die Schönheit Gottes begreifen, die im Akt der Rezitation des Koran erinnert wird. Offenbarung ist „Ausdruck jener Einsicht, dass er [der Mensch; Vf.] und mithin die gesamte Schöpfung einen grundlegenden Charakter haben, den man als Gottzugewandtheit beschreiben kann. Insofern Erlösung hier erwähnt werden kann, so realisiert sie sich im Gedenken dieser ewigen Bindung.“[42] Was islamisch also als Erlösung bezeichnet werden kann, ist die Erinnerung des Menschen an das, was schon immer gilt, im (rezitierten) Offenbarungswort. Aus christlicher Sicht ist dieses Verständnis formal – in der liturgischen Erinnerung des Christusereignisses – durchaus zugänglich. Solche Zugänge bieten sich denn auch im Rahmen interreligiöser Lernprozesse an. Es geht im Sinne ästhetischen Lernens[43] darum, das mit dem theologischen Begriff der Erlösung Konnotierte in religiösen Ritualen (wieder-)erkennen zu können. Solche Zugänge sind wichtig, da in ihnen und durch sie die existenzielle Dimension aufscheinen kann, die sich in dem vertrauensvollen Einlassen auf Gottes Offenbarung öffnet.

Missverständnisse scheinen auf islamischer Seite besonders da zu entstehen, wo unterstellt wird, dass im christlichen Erlösungsdenken die ‚Gottzugewandtheit‘ des Menschen erst durch die Offenbarung hergestellt werden müsse, dass diese also nicht ursprünglich gelten würde, was dem koranischen Konzept der fitra (= ursprüngliche Gottzugewandtheit) widerspräche.[44] Dieses Verständnis ist christlich aber aus schöpfungstheologischen Gründen abzulehnen. So stellt schon die Genesis gerade das Narrativ einer ursprünglich guten Schöpfung zur Verfügung, die nicht erst nachträglich bonisiert werden müsste. Erlösung muss vielmehr als Erinnerung dieses originären Gutseins begriffen werden. Lassen sich also funktionale Äquivalenzen des Offenbarungs- bzw. Erlösungsdenkens in christlicher und islamischer Sicht feststellen, so ist eine sensible Würdigung von Unterschieden, die als Denkanstöße für den jeweils anderen gelten können, nicht zu unterschlagen. Im Rahmen interreligiösen Lernens wird man sich aus christlicher Perspektive etwa fragen können, ob die ästhetische Dimension der realen Vergegenwärtigung Christi in der sakramentalen Vermittlung ausreichend bedacht ist oder ob nicht gerade die sinnliche Schönheit des Daseins als Vermittlungssymbol Gottes als des guten Grundes viel stärker im Fokus stehen müsste. Umgekehrt lässt sich die Frage an die islamische Theologie formulieren, ob die starke Betonung des Gutseins der Wirklichkeit nicht dazu neigt, Leid und Schuld, das Nichtseinsollende also, unterzubestimmen.

2. Aus den vorhergehenden Bestimmungen lässt sich auch der von christlicher Seite gelegentlich erhobene Vorwurf einer Werkgerechtigkeit relativieren.[45] Das vorgetragene islamische Offenbarungsverständnis ermöglicht dem Menschen in einem gewissen Sinne erst das gute Handeln, das zweifelsohne eine gewichtige Rolle in der islamischen Tradition spielt. Es ist aber Gottes guter Wille, der ursprüngliche Befähigung des Menschen zu allen Tätigkeiten ist, und die Erinnerung dieser Ermöglichung im Erleben der Rezitation weist dem Menschen immer wieder den Weg, der ihm in dieser Welt bereitet ist. Dann geht es eben weniger um Ethik als um Äst-ethik, weniger um ein Müssen als vielmehr um ein Dürfen.[46] Wo nämlich erkannt ist, dass gutes Handeln dem Grund meines Daseins entspricht, ist sein ethischer Verpflichtungscharakter zwar nicht aufgehoben, aber als Möglichkeit der Teilhabe an der Umsetzung des ursprünglichen Gutseins der Schöpfung erschlossen. Damit ergibt sich auch hier die Möglichkeit, in der interreligiösen Auseinandersetzung mit dem offenbarungstheologisch relevanten Begriff der Erlösung ethische Lernprozesse einzubinden, so dass die theologisch-anthropologische Rückbindung religiöser Ethik an das jeweilige theologische Argumentieren[47], das einer Religion eigene Weltbild deutlich werden kann.

7. Einige religionspädagogische Impulse

Das sperrige und für viele Menschen heute aus unterschiedlichen Gründen als kaum lebensrelevant wahrgenommene Thema Erlösung eröffnet, wie sich gezeigt haben sollte, vielfältige Chancen für interreligiöse Lehr- und Lernprozesse in der Erwachsenenbildung, der Gemeindearbeit und nicht zuletzt auch im Religionsunterricht. Wegen der notwendigen Fähigkeit zum Perspektivenwechsel[48], zur Arbeit mit durchaus anspruchsvollen Texten wie zu komplexen Gedankenexperimenten bietet sich die Arbeit mit Jugendlichen etwa ab 15 Jahren an. Für die Lehrenden bedeutet das, sich intensiv mit dem Thema befasst zu haben, so dass begründet aus dem Selbstverständnis der Religion(en) erwachsene Aspekte von Erlösung, die inhaltlich dem oben dargelegten Verständnis entsprechen, so in ein interreligiöses Gespräch gebracht werden können, dass die anthropologische Dimension von Erlösung aufscheinen kann und gleichzeitig Unterschiede in der theologisch-anthropologischen Weltdeutung deutlich werden können. Über den Weg einer komparativ-theologischen Auseinandersetzung mit anderen, den christlichen Vorstellungen widersprechenden Überzeugungen und Deutungen kann das Nach-Denken über die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen nicht nur das Ganze des christlichen Glaubens plausibel machen, sondern ebenso das Ganze bspw. eines sunnitisch-islamischen Verständnisses von menschlichem Heil und ‚Erlöstsein‘. Der einzelne Lernende wird bei solchen Reflexionsprozessen subjektive Konstrukte zur Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens mit den in einen kritischen Diskurs tretenden Argumentationsstrukturen der theologischen Perspektiven vergleichen können. Damit kann religiöse Urteilskompetenz, die in pluralen Gesellschaften auf der Fähigkeit zu einem Denken in Komplementarität angewiesen ist, eingeübt werden. Religionsdidaktisch ist ein solcher Zugang interessant, weil das mikrologische Vorgehen dazu geeignet ist, den Reflexionsprozess auf unterschiedlichen didaktischen Wegen in Gang zu setzen, seien es z. B. bibel- bzw. korandidaktische Ansätze, seien es Ansätze ethischen Lernens, seien es Ansätze des Theologisierens.

[1] Vgl. PEMSEL-MAIER, Sabine, Art. Erlösung, in: Wissenschaftlich religionspädagogisches Lexikon im Internet, in: www.wirelex.de [aberufen am 26.04.2019]; WEISS, Thomas / KROMER, Ingrid / MIKLUSCAK, Pavel, „Erlösung ist, wenn man schulfrei hat!“ Erste Ergebnisse einer qualitativ-empirischen Studie zur Erfassung und didaktischen Bearbeitung von Erlösungsvorstellungen 10- bis 14-jähriger SchülerInnen der Sekundarstufe I in Österreich, in: Österreichisches Religionspädagogisches Forum 22 (2014) 161–171, 164.
[2] Vgl. hierzu VON STOSCH, Klaus: Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen, Paderborn u.a.: Schöningh 2012 (= Beiträge zur Komparativen Theologie 6).
[3] Vgl. dazu VON STOSCH 2012 [Anm. 2]; LANGENFELD, Aaron: Theologie aus der Praxis: komparative Theologie als Orientierung im Bildungsprozess eines pluralitätskompetenten Umgangs mit religiöser Diversität, in: BAUR, Katja / OESSELMANN, Dirk (Hg.): Religiöse Diversität und Pluralitätskompetenz. Eine Herausforderung für das Lernen, Lehren und Forschen an Hochschulen und Bildungseinrichtungen, Berlin: Lit 2017 (= Interreligiöses Lernen an Hochschulen 5), 108–122.
[4] Zur religionspädagogischen Begründung eines solchen Vorgehens vgl. ALTMEYER, Stefan / TAUTZ, Monika: Der Religionsunterricht als Ort Komparativer Theologie? Auf dem Weg zu einer fundamentalen und konkreten Didaktik des interreligiösen Lernens, in: BURRICHTER, Rita / LANGENHORST, Georg / VON STOSCH, Klaus (Hg.): Komparative Theologie: Herausforderung für die Religionspädagogik. Perspektiven zukunftsfähigen interreligiösen Lernens, Paderborn u.a.: Schöningh 2015 (= Beiträge zur Komparativen Theologie 20), 113–140.
[5] SCHOLEM, Gershom: Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum, in: DERS.: Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, 121–167.
[6] GRESHAKE, Gisbert: Tod – und dann? Ende – Reinkarnation – Auferstehung. Der Streit der Hoffnungen, Freiburg / Basel / Wien: Herder 1988, 51–92.
[7] Vgl. KARIMI, Milad: Zur Frage der Erlösung des Menschen im religiösen Denken des Islam, in: VON STOSCH, Klaus / LANGENFELD, Aaron (Hg.): Streitfall Erlösung, Paderborn u.a.: Schöningh 2015 (= Beiträge zur Komparativen Theologie; 14), 17–37, 21 und 31.
[8] Nicht religiöse Weltdeutungssysteme bei Prozessen interreligiösen Lernens mit einzubeziehen, ist eine im religionspädagogischen Diskurs bisher viel zu wenig beachtete Notwendigkeit. Interessant ist dabei, dass der Begriff der Erlösung noch bis in die 1990er Jahre hinein in religionspädagogischen Grundlagenwerken aufgenommen worden ist (vgl. bspw. BITTER, Gottfried: Erlösung / Befreiung, in: Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe, München: Kösel 1986, 703–750), in neueren Werken allerdings fehlt (so bspw. bei BITTER, Gottfried u.a. (Hg.): Neues Handbuch Religionspädagogischer Grundbegriffe, München: Kösel 2002; oder bei HILGER, Georg / LEIMGRUBER, Stephan / ZIEBERTZ, Hans- Georg (Hg.): Religionsdidaktik. Ein Leitfaden für Studium, Ausbildung und Beruf, München: Kösel 22012.
[9] Paradigmatisch ist hier noch immer der Ausruf von Nietzsches Zarathustra zu nennen: „Ach dass einer sie noch von ihrem Erlöser erlöste!“ (NIETZSCHE, Friedrich: Also sprach Zarathustra, in: DERS.: KSA, Bd. 4, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München: dtv 132011, 117.) Würden sich – so darf man übersetzen – die Christen von der Erlösungshoffnung verabschieden, so wären sie frei.
[10] BAUMERT, Jürgen: Deutschland im internationalen Bildungsvergleich, in: KILLIUS, Nelson / KLUGE, Jürgen / REISCH, Linda (Hg.): Die Zukunft der Bildung, Frankfurt a.M. 2002, 100–150, 113.
[11] Vgl. PEMSEL-MAIER 2016 [Anm. 1], 10, die darauf hinweist, dass an die Stelle der Sehnsucht nach Erlösung die nicht oder kaum eschatologisch ausgerichtete Sehnsucht nach Glück und Sinn getreten ist
[12] Vgl. dazu instruktiv RAHNER, Karl: Theologie und Anthropologie, in: DERS.: Sämtliche Werke, Bd. 22/1a, Freiburg i.Br.: Herder 2013, 283–300.
[13] Vgl. zu dieser Begriffswahl auch den Titel von HÄRING, Hermann: Es geht ums Ganze. Zur Revision des Opfermodells im Diskurs von Gnade und Sünde, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 160/1 (2012) 21–30.
[14] LISS, Hanna: Die Tora im Judentum, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 67/2 (2015) 113–124.
[15] Vgl. dazu ausführlich PRÖPPER, Thomas: Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, München: Kösel 31991, 182–194 sowie PRÖPPER, Thomas: Theologische Anthropologie, Freiburg / Basel / Wien: Herder 22012, 495–599.
[16] SARTRE, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, in: DERS.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Philosophische Schriften. 3, Reinbek: rororo 192016, 38.
[17] Vgl. zur Begrifflichkeit des Absurden ausführlich CAMUS, Albert: Der Mythos des Sisyphos, Reinbek: rororo 122010.
[18] Vgl. dazu im Ausgang von Pröpper ausführlich LANGENFELD, Aaron: Zur Frage nach der Ansprechbarkeit des Menschen für Gott, in: DERS. / LERCH, Magnus (Hg.): Theologische Anthropologie, Paderborn u.a.: Schöningh (utb) 2018, 145–154.
[19] Dieser Logik folgend, können auch nicht religiöse Menschen im Sinne eines Gedankenexperiments für interreligiöse Bildungsprozesse zum Themenfeld der Erlösung eingeladen werden.
[20] Vgl. KIERKEGAARD, Søren: Die Krankheit zum Tode, in: DERS.: Die Krankheit zum Tode. Furcht und Zittern. Die Wiederholung. Der Begriff der Angst, München: dtv 32010, 31–177, 31–41.
[21] WERBICK, Jürgen: Den Glauben verantworten. Eine Fundamentaltheologie, Freiburg-Basel-Wien: Herder 42010, 631.
[22] Das Phänomen der ‚Gottesverdunstung‘ (vgl. METTE, Norbert: „Gottesverdunstung“. Eine religionspädagogische Zeitdiagnose, in: ENGLERT, Rudolf u.a. (Hg.): Gott im Religionsunterricht, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2009, 9–23) wird damit zu einer die Vernunft herausfordernden Anfrage, die gerade im Kontext der vorgestellten Überlegungen bedeutsam wird, denn am Beispiel der bleibenden Provokation christlichen Erlösungsglaubens und im Prozess interreligiöser Auseinandersetzung damit kann sich ein Nachdenken über die Gottesfrage auch für religiös nicht oder kaum sozialisierte Menschen als sinnvoll erweisen: Gott als Sinnhorizont menschlichen Daseins.
[23] Vgl. LANGENFELD, Aaron: Das Schweigen brechen. Christliche Soteriologie im Kontext islamischer Theologie, Paderborn u.a.: Schöningh 2016 (= Beiträge zur Komparativen Theologie; 22), 178–181.
[24] Vgl. Pröpper 1991 [Anm. 12], 59: „[…] diese Offenbarung ist unsere Erlösung.“
[25] Vgl. zu diesem Topos etwa HÖHN, Hans-Joachim: Existentiale Semiotik des Glaubens – oder: Theologie nach dem cultural turn, in: Salzburger Theologische Zeitschrift 18 (2014) 23–42, 32.
[26] Vgl. STÖGBAUER-ELSNER, Eva: Art. Theodizee, in: Wissenschaftlich religionspädagogisches Lexiokon im Internet, in: www. wirelex.de [abgerufen am 26.04.2019]. Die Theodizeefrage kann von Kindern und Jugendlichen als Widerspruchsproblem bedacht werden. Gerade weil Leiderfahrungen nicht christozentrisch gedeutet werden, bietet es sich an, über interreligiöse Zugänge zum Themenfeld Erlösung diesen Aspekt mit aufzunehmen. Möglich ist das über ein mikrologisch aufbereitetes interreligiöses Gespräch – im Sinne des Theologisierens mit Jugendlichen – auf der Grundlage entsprechend vorbereiteter Texte.
[27] Vgl. PRÖPPER 1991 [Anm. 12], 197: „Ohne Jesu bestimmtes Menschsein wäre Gott nicht als Liebe, ohne seine Bereitschaft zum Tod nicht der unbedingte Ernst dieser Liebe und ohne seine Auferweckung nicht Gott als ihr wahrer Ursprung offenbar geworden.“ Vgl. ausführlich auch LANGENFELD 2016 [Anm. 21], 222–229.
[28] Vgl. LANGENFELD, Aaron: Selbstmitteilung im Kontext theologischer Anthropologie, in: DERS. / LERCH 2018 [Anm. 16], 173.
[29] Vgl. ERNST, Stephan: Gefangen in der Angst um sich selbst, in: Katechetische Blätter 141/5 (2016) 336–342.
[30] Zu einer Hermeneutik des widerständig Fremden vgl. TAUTZ, Monika: Interreligiöses Lernen im Religionsunterricht. Menschen und Ethos im Islam und Christentum, Stuttgart: Kohlhammer 2007 (= Praktische Theologie heute 90), 363–367.
[31] Vgl. hierzu und zum Folgenden VON STOSCH, Klaus: Offenbarung, Paderborn u.a.: Schöningh (utb) 2010 (= Grundwissen Theologie), 104–108.
[32] KLAPHECK, Elisa: Jüdische Zugänge zur Vorstellung von Erlösung, in: VON STOSCH / LANGENFELD (Hg.) 2015 [Anm. 6], 243–253, 253.
[33] Vgl. PRÖPPER 1991 [Anm. 12], 210–215.
[34] FACKENHEIM, Emil L.: Die gebietende Stimme von Ausschwitz, in: BROCKE, Michael / JOCHUM, Herbert (Hg.): Wolkensäle und Feuerschein. Jüdische Theologie des Holocaust, München: Chr. Kaiser 1982, 73–110.
[35] Vgl. METZ, Johann Baptist: Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz: Matthias-Grünewald 51992, 165–174; ARENS, Edmund: Vom Schrei zur Verständigung. Politische Theologie als öffentliche Theologie, in: POLEDNITSCHEK, Thomas / RAINER, Michael / ZAMORA, José Antonia (Hg.): Theologisch-politische Vergewisserung. Ein Arbeitsbuch aus dem Schüler- und Freundeskreis von Johann Baptist Metz, Münster: Lit 2009, 129–138.
[36] Vgl. zum folgenden Absatz LANGENFELD, Aaron: Erbsünde und Erlösung im christlich-islamischen Dialog, in: Katechetische Blätter 141/5 (2016) 331–335.
[37] Vgl. DÜZGÜN, Saban Ali: Art. Errettung, in: HEINZMANN, Richard (Hg.): Lexikon des Dialogs. Grundbegriffe aus Christentum und Islam. 1, Freiburg i.Br.: Herder 2013, 163.
[38]38 Als Beispiel für ein solches Bemühen sei verwiesen auf KHORCHIDE, Mouhanad / STOSCH, Klaus von: Der andere Prophet. Jesus im Koran, Freiburg i.Br.: Herder 2018, 254–264.
[39] AYOUB, Mahmoud: Die Idee der Erlösung in Christentum und Islam, in: WERBICK, Jürgen (Hg.): Sühne, Martyrium und Erlösung? Opfergedanke und Glaubensgewissheit in Judentum,
[40] In diesem Zusammenhang bietet sich religionsdidaktisch ein Zugang über das Altarbild von Guido Reni „Christus am Kreuz“ (1575–1642) an, das von Navid Kermani in einem Essay aus muslimischer Perspektive gedeutet wird. Dessen Deutung hat ihrerseits eine heftige Diskussion um die Heilsbedeutung des Kreuzes angeregt. Vgl. hierzu KERMANI, Navid: „Warum hast du uns verlassen?“, in: Neue Züricher Zeitung (14.03.2009); TÜCK, Jan-Heiner: Religionskulturelle Grenzüberschreitung? Navid Kermani und das Kreuz: Nachtrag zu einer Kontroverse, in: Internationale katholische Zeitschrift „Communio“ 38/3 (2009) 220–233; MICHALKE-LEICHT, Wolfgang: Im Schauen auf sein Antlitz, in: RelliS 1 (2011) 32.
[41] KARIMI 2015 [Anm. 6], 29.
[42] EBD., 31.
[43] KALLOCH, Christina / LEIMGRUBER, Stephan / SCHWAB, Ulrich: Lehrbuch der Religionsdidaktik. Für Studium und Praxis in ökumenischer Perspektive, Freiburg i.Br.: Herder 2009, 220–236.
[44] Vgl. EBD., 30.
[45] Dieser Vorwurf findet sich mindestens implizit bei KÖRNER, Felix: Eschatologie und Ethik. Christlich-islamische Zuordnungen, in: NEGEL, Joachim / GRUBER, Margareta (Hg.): Figuren der Offenbarung. Biblisch – Religionstheologisch – Politisch,
[46] Vgl. dazu etwa VON STOSCH, Klaus: Herausforderung Islam. Christliche Annäherungen, 2. durchges. u. korr. Aufl., Paderborn u.a.: Schöningh 2017, 85–97.
[47] TAUTZ, Monika: Argumentieren lernen im Rahmen religiöser Bildungsprozesse – Einüben in die Rationalität religiöser Überzeugungen, in: BUDKE, Alexandra u.a. (Hg.): Fachlich argumentieren lernen. Didaktische Forschungen zur Argumentation in den Unterrichtsfächern, Münster u.a.: Waxmann 2015 (= LehrerInnenbildung gestalten 7), 153–166.
[48] Vgl. TAUTZ, Monika: Art. Perspektivenwechsel, in: www.wirelex.de [abgerufen am 26.04.2019], 2015.

Editorische Anmerkungen

Dr. Aaron Langenfeld, Institut für Katholische Theologie der Kulturwissenschaftlichen Fakultät, Universität Paderborn. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie und ihre Didaktik sowie Geschäftsführer des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften.
Dr. Monika Tautz, Institut für Katholische Theologie der Philosophischen Fakultät, Universität zu Köln. Studienrätin im Hochschuldienst, Fachbereich Religionspädagogik und Religionsdidaktik.

Quelle: Österreichisches Religonspädagogisches Forum 27/1 (2019), S. 208-225; Creative Commons Lizenz CC-BY.