Elie Wiesel – ein Theologe

Zu Beginn meiner Ausführungen[1] möchte ich das Zitat Kardinal Lustigers kommentieren, das Jean Duchesne Ihnen soeben vorgetragen hat. Lustiger war der Ansicht, dass es nicht einfach nur Christen und Juden gebe, sondern auch getaufte Juden. Aber wo bleiben dann die Christen, die eine jüdische Mutter oder einen jüdischen Vater haben, sich von Jesus abgewendet haben und jüdisch geworden sind? Das war die Wahl, die ich getroffen habe. Als Jude, der einst katholisch war, spreche ich heute zu Ihnen.

Elie Wiesels Verhältnis zum Christentum und zu Christen war beides intensiv und schmerzhaft. Wie hätte es auch anders ein können? Seine Kindheit und Jugend verbrachte er im Shtel, wo es mit Sicherheit mehr Synagogen gab als orthodoxe und katholische Kirchen zusammen.

Jede jüdische Gruppe, jede Jeshiva, hatte ihre eigene Synagoge. In Ost-Europa war das Verhältnis von Christen und Juden im Großen und Ganzen von Feindseligkeit auf der einen und Angst auf der anderen Seite geprägt; nur persönliche Kontakte konnten diese jahrhunderte-alte, und manchmal sogar tragische, Situation mildern. Es kann wohl gesagt werden, dass eine gewisse Unkenntnis des Anderen das christlich-jüdische Verhältnis prägte, die christliche Lehre der Verachtung wurde von jüdischer Seite mit Feindschaft und Angst beantwortet. Seit frühester Kindheit wusste Eliezer Wiesel, dass er die Straßenseite wechseln musste, wenn er an einer Kirche vorbeikam, denn im Shtetl ging das Gerücht von der Entführung jüdischer Kinder um.

Trotz allem entwickelt Eliezer während des Krieges doch einige positive Gedanken über Christen, nachdem im Frühjahr 1944 die Nazis in Ungarn, aber vor allem in den Karpaten einmarschierten. Die orthodoxe Maria, die als Dienstmädchen in Hause Wiesel arbeitete, bot der Familie an, Eliezer und seine Schwester bei sich zu Haus zu verstecken. Die Eltern lehnten das Angebot ab und zogen es vor, die ganze Familie zusammen zu halten, auch als sie ins Ghetto zogen und die ersten Transporte mit unbestimmtem Ziel miterleben mussten. Wie viele hunderttausende von Kindern haben ihr Leben verloren wegen der naiven Einstellung, dass die Familie auf jeden Fall zusammenbleiben müsse? Danach traf Eliezer auch auf christliche Mit-Häftlinge, wenn vielleicht auch nicht in Birkenau, dann mit Sicherheit in Buna und Buchenwald. Jedoch sprach er nie von ihnen. Juden waren die isoliertesten aller Gefangenen, isoliert in ihren Baracken und bei der Arbeit. Dennoch haben ihn und andere jüdische Jugendliche Kommunisten aus den Baracken von Auschwitz-Birkenau, dem letzten Lager, gerettet. Nachdem er der Hölle der Nazis entkommen war, lebte Eliezer nur unter Juden in den Lagern, die von der OSE[2] in Frankreich eingerichtet worden waren. Erst als er diese Enklave mit dem Ziel, eine Ausbildung zu machen, verließ, traf er auf Christen, die er aber nie in seinen Schriften erwähnt. Seine erste Begegnung mit einem militanten Christen, wenn Sei mir den Ausdruck erlauben, ereignete sich 1955, als er den Schriftsteller Francois Mauriac (1885-1970) besuchte. Sogar seine ersten Verleger waren Juden. Sein frühester Mentor im Feld der Philosophie und französischer Literatur war Francois Wahl, ein entjudeter Jude. Er führte Wiesel in das christliche – oder christlich beeinflusste Denken ein, z. Bsp. in das Werk Montaignes oder in das Theater des 17. Jahrhunderts.

Die Begegnung mir Mauriac war etwas völlig Neues für unseren noch am Anfang stehenden Schriftsteller. Bis dahin hatte er nur journalistisch gearbeitet und das auch nur in Yiddish oder Hebräisch und wollte grade mit der yiddischen Originalfassung von Die Nacht …Un die velt hot geshvign (Und die Welt hat geschwiegen) anfangen. Mauriac – der den Nobelpreis für Literatur bekommen hatte und Mitglied der Académie Francaise war – war, seit dem Tod von Georges Bernanos, die Verkörperung des katholischen Stranges der französischen Literatur. Mauriac führte den staatenlosen Juden, Korrespondent für die israelische Tageszeitung Yediot Aharonot, in die Welt der großen Literatur ein. Davon hatte Eliezer, jetzt Elie, immer geträumt, auch wenn er es selbst nicht ahnte. Das Kind aus Sighet war gefangen genommen von der jüdischen Mystik. Sein ganzes Leben lang verstand er sich als Schüler von Rabbi Wishnitz, ein Freund seines Großvaters Dodi Feig. Durch die Begegnung mit Mauriac begann sein langer Dialog mit dem Christentum. Derselbe Mauriac, der ihm half Nacht, sein erstes französisches Buch, über seine Erfahrungen während der Shoah zu veröffentlichen.

Auf den ersten Blick schien alles gegen eine Freundschaft zwischen dem französischen Katholiken und dem Jude aus den Karpaten zu sprechen. Ihre jeweiligen Traditionen und noch viel mehr ihre inneren spirituellen Konflikte widersprachen sich. In der ersten Nacht, die Wiesel in Auschwitz verbrachte, zerbarst seine Seele, seinen Glauben, seine Weltanschauung. Auch Mauriac kannte den Kampf in seiner Seele, aber der seinige war ein christozentrischer Kampf, ein mystisches Ringen. Was allerdings Wiesels Haltung erstarren ließ war, wie Mauriac den Holocaust in Beziehung zum Leiden Christi am Kreuz setzte. Diese christliche Interpretation wurde noch problematischer durch den Wunsch Mauriacs, in Wiesel eine Inkarnation des Holocaust zu sehen. Der katholische Schriftsteller sah in Wiesels Überleben eine Form von Auferstehung, eine moderne Christusfigur. Wiesel war für Mauriac ein jüdischer Mystiker, begnadet mit einem einzigartigen Verständnis von Christus, den er sich, wie Chagall, mit Gebetsriemen vorstellt, ein Sohn der Synagoge, ein frommer Jude, der sich dem Gesetzt unterwirft und der nicht starb, „weil er, ein Mensch, Gott wurde“. Elie Wiesel steht auf der Grenze zwischen den beiden Testamenten: er ist vom „Geschlecht Johannes des Täufers“.[3]

Das einzige Problem dabei ist, dass der Protagonist dieser Lesart sich selbst weder dem „Geschlecht Johannes des Täufers“ zurechnet noch über Jesus, „der nicht starb, weil er, ein Mensch, Gott wurde“ reflektiert. In einer meiner Diskussionen mit Elie Wiesel sagte er, trotz aller Freundschaft und Dankbarkeit, die er für Mauriac empfinde: „Ich respektiere Christen, die sich dem Neuen Testament verpflichtet fühlen, unter der Bedingung, dass sie meine Verpflichtung unserer Bibel, dem Tanach gegenüber ebenso respektieren.“[4]

Die theologischen Differenzen zwischen den beiden waren einfach zu groß; Mauriac konnte nicht verstehen, wo Elie Wiesel herkam und wer er in Wahrheit war. Trotzdem verstand er Nacht, so wie wenige es konnten, allein aus seinem Glauben heraus und setzte sich unermüdlich für die Publikation des Buches ein. Dieses Engagement für ein Buch kann nur im Lichte des an seinem Glauben leidenden Menschen, Mauriac, verstanden werden, so drückt es zumindest Miguel Unamuno in Die Qual des Christentums aus.

Wiesel war Mauriac für seine Hilfe bei der Veröffentlichung von Nacht sehr dankbar. In Jude Heute[5] schreibt er:

Er wusste, dass meine Geschichte ihn verletzen würde, dass sie einige seiner Dogmen kränken würde, um sie aufs Neue in Frage zu stellen; er musste das einfach verstanden haben. Und dennoch hat er nicht gezögert. Im Gegenteil, er ermutigte mich zu schreiben und entwickelte dabei ein sehr großes Vertrauen zu mir, was beweist, wie manchmal Menschen, die nichts gemeinsam haben, nicht einmal das Leiden, über sich hinauswachsen können…

Ich werde das erste Treffen mit ihm nie vergessen.

Wiesels Qualen, die in der ersten Nacht in Auschwitz den mystischen Glauben des Jungen radikal in Frage stellten, verletzten Mauriac. Der französische Schriftsteller würde sich verletzt fühlen von unserer Beschuldigung Gottes, den wir Ha-Kadosch Baruch Hu, (Der Heilige, Gelobt sei Er) nennen. Er würde sich Gottes Todes wegen, ja durch Gottes Selbstmord in den Gaskammern, verletzt fühlen – wie Lévinas es so deutlich ausdrückt, wie Paul Celan es herausschreit in jedem seiner Gedichte. Wir stehen vor Gott, der „den Bund gebrochen hat“, wie es der Philosoph 1986 niederschrieb, und wir können keine Antwort finden, wenn er so überzeugend darlegt: „als ob Er dich verlassen hat.“[6] Das sind Schicksalsworte, angstbesetzte Worte, die keine Widerspruch dulden.

Kehren wir zurück zu Mauriacs Einführung in Wiesels Nacht, um zu verstehen wie qualvoll es für Mauriac gewesen war, Wiesels Manuskript zu lesen.

Das Kind, das uns hier seine Geschichte erzählt, ist ein Erwählter Gottes. Seit dem Erwachen seines Bewußtseins lebte der Knabe, genährt vom Talmud, begierig, in die Kabbala eingeweiht zu werden, dem Ewigen verschworen, nur für Gott. Haben wir jemals an diese Folge eines weniger sichtbaren, weniger auffallenden Schreckens als jedes anderen Entsetzens gedacht – jedenfalls an das Schlimmste von allen für uns, die wir den Glauben besitzen: an den Tod Gottes in dieser Kinderseele, die mit einem Schlage das absolut Böse entdeckt?[7]

Lassen Sie uns einen Moment hier innehalten. Sagt Mauriac hier nicht etwas Unglaubliches: dass das schlimmste Grauen nicht die Auslöschung eines ganzen Volkes war, nicht die Shoah selbst, sondern „der Tod Gottes in der Seele eines Kindes“?

Anschließend zitiert er die rätselhafte Passage der ersten Nacht, die Wiesel im Lager verbrachte. „Nie werde ich diese Nacht vergessen, die erste Nacht im Lager, die aus meinem Leben ein siebenmal verriegelte Nacht gemacht hat“ um. dann hinzufügen:

Nun verstand ich, was ich vom ersten Augenblick an dem jungen Israeliten geliebt hatte: den Blick eines auferstandenen Lazarus, und dennoch eines Gefangenen düsterer Gestade, an denen er, über geschändete Leichen stolpernd, umherirrte. Für ihn drückte Nitzsches Schrei eine fast physische Wirklichkeit aus: Gott ist tot. Der Gott der Liebe, der Sanftheit und des Trostes, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs hat sich im Blick dieses Knaben für immer im Rauch des Menschenopfers aufgelöst, das die götzengierigste aller Rassen gefordert hat.

Bei wie vielen Juden ist dieser Tod nicht eingetreten? An jenem furchtbaren Tage, und den furchtbaren Tagen, an dem der Knabe dem Hängen eines anderen Knaben beiwohnte, der –wie Wiesel uns erzählt - das Gesicht eines unglücklichen Engels hatte, hörte er jemand hinter sich seufzen: „Wo ist Gott? Wo ist er? Wo ist nur Gott?“ Und eine Stimme antwortete in mir: „Wo er ist? Hier – an diesem Galgen hängt er.[8]

Wer, wenn überhaupt, kann das sagen? Ich meine, dass das nur der mit all den Kindern in Auschwitz zu Tode bedrohte Jude sagen darf, er ganz allein…Sie kann, wenn überhaupt, nur der im Abgrund mit seinem Gott zusammengepferchte Jude vornehmen, derjenige der selbst in jener Hölle steht, „wo sich Gott und Mensch voller Entsetzen in die Augen schauen“ (Elie Wiesel). Er allein, so meine ich, kann hier von einem „Gott am Galgen“ sprechen, nicht wir Christen außerhalb von Auschwitz, die wir den Juden, so oder so, in eine solche Situation der Verzweiflung geschickt oder in ihr doch belassen haben. Hier gib es für mich keinen „Sinn“, den wir ohne die Juden bezeugen könnten. Hier sind wir, ohne die Juden in der Hölle von Auschwitz, zum Unsinn, zur Gottlosigkeit verurteilt.[9]

Wer ist in dieser Frage so weit wie Johan Baptist Metz gegangen? Was er begriff, konnte Mauriac, trotz der ganzen Großzügigkeit seines Geistes und Herzens in seiner ganzen Schärfe nicht erfassen. Um jedes Missverständnis zu vermeiden, soll es hier noch einmal gesagt werden: Wiesels Aussage „Gott hängt an diesem Galgen“ kann nicht auf Nitzsches Gott ist tot, so gern von Atheisten zitiert, reduziert werden. Vielmehr ist Wiesels Glaube in Rabbi Nachman von Bratislavas Diktum verwurzelt: „Nur ein gebrochener Glaube ist ein unversehrter Glaube“.

Auch soll es nicht bedeuten, dass manche Überlebenden, ob Juden oder Christen, ihren Glauben nicht verloren haben, während andere als Gläubige hervorgingen, obwohl sie es vorher nicht gewesen waren. Der amerikanisch-jüdische Reformtheologe Richard L. Rubinstein sagte etwas Grundlegendes, das Wiesel kritisierte oder sogar ablehnte. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass Rubinsteins Gedanke umso wichtiger ist, gerade weil Wiesel ihn ablehnte. Rubinstein meinte nämlich, dass die Tradition des Midrasch durch Auschwitz für immer zerbrochen wurde und dass der Gott der Geschichte tot ist.[10]

1986 fragte ich Wiesel, wie er zu Rubinsteins Gedanken stehe, und er antwortete unmissverständlich:

Ich habe seiner Philosophie immer widersprochen. Mein Widerspruch kommt aus dem Glauben heraus und nicht von außen her, während Rubinstein behauptet, dass der Gott der jüdischen Geschichte tot sei und daher auch der Gott Israels. Ich dagegen glaube, dass unsere 3500 Jahre alte Geschichte uns als Juden trägt, und dass es zu spät und darüber hinaus unannehmbar sei zum Heidentum zurückzukehren, und zu behaupten: wir können nach Auschwitz ohne Gott leben.[11]

Hier wenden wir uns Lévinas zu in unserer biblischen Analyse von Gottes Tod, seinem Rückzug aus den Todeslagern (tzimtzum wie es die Kabbalisten nennen würden) und Wiesels Ansicht über diese Dinge in Nacht. Lévinas hat einige der radikalsten Aussagen über Gott nach Auschwitz formuliert, bar jeder Rhetorik. Es scheint, als ob jede Rhetorik zerbrochen sei im Angesicht einer Wirklichkeit jenseits von allem, was davor war, jenseits jeden Versuchs, eine Begründung oder eine Theologie zu formulieren. Wir stimmen mit dem Autor von Totalität und Unendlichkeit[12] überein, dass nach Auschwitz keine Predigt mehr möglich sei.

Die endgültige Frage ist wohl die, kann man Jude bleiben im Angesicht eines Gottes, der den Bund gebrochen hat, der nicht mehr antwortet, der jede Bitte ausschlägt, der dich sterben läßt, als ob er dich im Stich gelassen hat? In dem wir Juden bleiben, nehmen wir da nicht die Verzweiflung, vielleicht den Zweifel derer, die an der Schwelle des Todes standen, zu sehr auf die leichte Schulter?[13]

Ein leises Echo dieses Gedankens ist in Mauriacs Vorwort für Nacht zu hören, wo er behauptet, die Botschaft des Neuen Testaments ist für jüdische Ohren unverständlich geworden.

Wir kennen nicht den Wert eines einzigen Tropfen Bluts, einer einzigen Träne. Alles ist Gnade. Wenn der Ewige Allmächtige der Ewige Allmächtige ist, gehört ihm das letzte Wort eines jeden von uns. Das hätte ich dem jungen Juden sagen sollen. Stattdessen habe ich ihn nur weinend umarmen können.[14]

Die Worte „alles ist Gnade“ können kaum verstanden werden im Kontext des absoluten Grauens, des absoluten Bösen. Gleichwohl hatte Mauriac kurz vor diesen letzten Zeilen geschrieben:

Habe ich ihm bestätigt, dass das, was für ihn ein Stein des Anstoßes wurde, für mich der Eckstein geworden ist? Und dass die Übereinstimmung zwischen dem Kreuz und dem Leiden der Menschen in meinen Augen der Schlüssel zu dem unergründlichen Geheimnis bleibt, in dem sein Kinderglaube verlorengegangen ist?[15]

Wiesel beschreibt seine Gefühle beim Rezitieren des Shemoneh Esreh (das 18 Bitten Gebet) an Rosh Hashanah im Buna Lager. Seine Worte müssen wir sehr aufmerksam lesen:

Wer bist Du mein Gott?, dachte ich zornig, verglichen mit dieser schmerzerfüllten Menge, die Dir ihren Glauben, ihren Zorn, ihren Aufruhr zuschreit? Was bedeutet Deine Größe, Herr der Welt, angesichts all dieser Schwäche, angesichts dieses Verfalls und dieser Fäulnis? Warum noch ihre kranken Seelen, ihre siechen Körper heimsuchen? …

„Lobet den Ewigen…“

Die Stimme des Kantors ließ sich vernehmen. Zunächst glaubte ich, es sei der Wind.

„Gepriesen sei der Name des Ewigen!“

Tausende Lippen wiederholten die Lobpreisung, tausende beugten sich wie Bäume im Sturm.

Gepriesen sei der Name des Ewigen!

Warum, warum soll ich ihn preisen? Jede Faser meines Wesens sträubte sich dagegen. Nur weil er Tausende seiner Kinder in Gräben verbrennen ließ? Nur weil er sechs Gaskammern Tag und Nacht, Sabbat und Festtag arbeiten ließ? Nur weil er in seiner Allmacht Auschwitz, Birkenau, Buna und so viele andere Todesfabriken geschaffen hatte? Wie soll ich zu ihm sagen: gepriesen seist du, Ewiger, König der Welt, der Du uns unter den Völkern erwählt hast, damit wir Tag und Nacht gefoltert werden, unsere Väter, unsere Mütter, unsere Brüder in den Gaskammern verenden sehen? Gelobt sei Dein heiliger Name, Du, der Du uns auserwählt hast, um auf Deinem Altar geschlachtet zu werden?“…

Und ich, der Mystiker von einst, dachte:ja, der Mensch ist stärker, größer als Gott. Als du von Adam und Eva hintergangen wurdest, hast Du sie aus dem Paradies gejagt. Als Noahs Geschlecht Dir mißfiel, (sic) hast Du ihm die Sintflut geschickt. Als Sodom keinen Gefallen mehr vor Deinen Augen fand, hast Du Feuer und Schwefel vom Himmel regnen lassen. Aber diese Männer hier, die Du getäuscht hast, die Du hast foltern, erwürgen, vergasen, einäschern lassen, was tun sie? Sie beten Dich an! Sie preisen Deinen Namen.[16]

Jemand, der das durchlebt hat und an seinem Glauben festhält, als ob nichts passiert sei, belügt sich selbst und andere. Ich würde behaupten, dass diese Sätze der Kern der theologischen Aussagen des Buches Nacht sind. Dem kann man nichts hinzufügen; alles Notwendige ist bereits gesagt. Glaube ist hier zur Qual geworden; ein traumatisierter Glaube, der um Bedeutung ringt, um dann der Verzweiflung nachzugeben. In unserer Zeit ist nur noch ein solcher Glaube möglich. Jede andere Form des Glaubens wäre verlogen. Was das betrifft, ist Wiesel ein großer Lehrer. Er sah das, was Johannes vom Kreuz, oder Theresa von Aquila nicht in ihren kühnsten Träumen, in ihren dunkelsten Nächten zu denken wagten.

Kardinal Lustiger mit seinem ganz besonderen Glauben konnte das gut verstehen. In den Gesprächen mit seinem Freund und Bruder, Elie Wiesel, kommentierte er die Galgen-Episode in Nacht mit folgenden Worten:

Es scheint mir nötig hervorzuheben, dass diese Erfahrung des Schweigens Gottes eine Glaubenserfahrung an sich war. Selbst wenn der Glaube verdunkelt, oder zermalmt wird, ist es immer noch der Glaube. An Gott zu glauben bedeutet zu akzeptieren, dass er nicht mehr antwortet.

Statt von „Glaubenserfahrung“ zu sprechen fände ich es präziser, von Glaubensprüfung zu sprechen. Dies ist Wiesels besonderer Beitrag zum Gespräch mit den Christen, ja mit jedem gläubigen Menschen, mit jedem Transzendenz-Suchenden.

Das können wir in dem Gespräch mit einem anderen Kardinal, Kardinal O’Connor aus New York sehen. Der Austausch zwischen Wiesel und Kardinal O‘Connor führte zu einem Buch A Journey of Faith, das 1990 veröffentlicht wurde.[17] In einem besonderen Moment ihres Austausches bemerkte O’Connor, dass in der Hölle der Konzentrationslager wenige Gefangene, in einigen bekannten Fällen, es geschafft hätten, einen inneren Frieden zu bewahren. Er nannte zwei Beispiele, den jüdischen Psychoanalytiker Viktor Frankl und den inzwischen heiliggesprochenen Franziskaner Priester Maximilian Kolbe. Kolbe hatte sich freiwillig gemeldet und den Platz eines ihm unbekannten, verurteilten Häftlings vor dem Erschießungskommando eingenommen. Neun Häftlinge verloren ihr Leben als Strafe für den Fluchtversuch eines Einzelnen. Kolbe und seine Kameraden wurden in einem besonderen Block, wo sie dem Hunger und Durst preisgegeben waren, festgehalten. Keine Schreie der Angst drangen ans Ohr der Aufseher oder der SS, stattdessen aber fromme Lieder. Wiesel reagiert auf O’Connors Bemerkung mit einer Äußerung über ultrareligiöse Juden, die er in den Lagern gekannt hatte, „Sogar sie hatten keinen inneren Frieden gefunden“.

Aber betrachten wir Wiesels theologischen Dialog mit Lustiger. Kurz nachdem Le Choix de Dieu[18], das Gespräch Lustigers mit dem sozialistischen Politiker Jean-Louis Missika und dem Soziologen Dominique Wolton, erschienen war, schrieb Wiesel einen langen Artikel in Le Monde, in dem er zu dem Buch Stellung nahm und Lustigers Behauptung, man könne beides, Jude und Christ sein, vehement ablehnte. Einige Tage später, Wiesel und ich arbeiteten in New York an unserem Buch Evil und Exile, fragte ich ihn nach etwas, das Lustiger oft und immer wieder gesagt und geschrieben hatte und das in seiner Antwort auf die vorhersehbare Frage von Missika wieder auftauchte, nämlich, ob Gott sein auserwähltes Volk in der Shoah verlassen habe. Lustiger antwortete mit folgenden Worten, die mich, und noch viel mehr Wiesel, schockierten:

Nein. Er hat sein Volk nicht verlassen. Aber diese Antwort ist unerträglich. Ich kann sie nur aushalten, indem ich sie als Teil des Geheimnisses des leidenden und barmherzigen Messias sehe.

Um die Erwiderung Wiesels auf Lustigers Bemerkung in den richtigen Kontext zu setzen, müssen wir zurückgehen zu einem Interview, das der damalige Erzbischof Lustiger den Journalisten Ben Porat und Dov Judowski, dem einstigen Cheredakteur von Yediot Aharonot gab. (Nebenbei bemerkt, es war Judowski, der Wiesel als Korrespondent angestellt hatte.) In diesem Interview äußerte sich Lustiger folgendermaßen zu den jüdischen Opfern des Holocaust:

Ich glaube, sie sind gewissermaßen ein Teil des leidenden Messias. Aber nur Gott kann das sagen, nicht ich. Und ich denke, dass diejenigen, die sie verfolgt haben, eines Tages erkennen werden, dass wir dank ihres Leidens gerettet sind.

Wir wissen, dass es für Wiesel keine Antwort, keine Erklärung für die Shoah gibt. Als ich ihm Lustigers Antwort zeigte, antwortete er mit folgenden Worten:

Das ist für mich inakzeptabel… Selbst die Ankunft des Messias würde nicht unbedingt eine Antwort auf das unermessliche und ungerechtfertigte Leid bringen. Und jetzt hören wir, dass die Erklärung in dem leidenden Messias gefunden werden kann! Nein. Für mich bleibt Auschwitz eine Frage.

Aus Leiden eine Theologie zu formulieren, ist so als ob man es rechtfertige und ihm einen Sinn gäbe. Und das wäre Verrat an beiden, der Antwort und dem Leiden.

Mit einem Federstrich werden die Höllenqualen der Juden mit der Passion Christi, die für Christen einen erlösenden Charakter hat, verglichen, ja gleichgesetzt und dabei wird die Verzweiflung und die Zweifel derer, die dem Tod ins Angesicht blickten, vollkommen außer Acht gelassen. Eines war für Wiesel absolut klar und unanfechtbar, dieser Gedanke führt jeden Erlösungsgedanken ad absurdum, selbst wenn der Messias morgen käme, könne auch Er die Qualen und den Tod von eineinhalb Millionen jüdischen Kindern nicht wieder gut machen.

Ich möchte zurückkehren zu einer der zentralen Behauptungen von Lévinas, die sogar noch weiter geht als die soeben gehörten von Wiesel. Lévinas hatte die Erhabenheit, die Weisheit und die „fundamentale Einsicht“ eines Philosophen, eines Phänomenologen, eines Mannes des Glaubens und der Überzeugung. Diese Eigenschaften gaben ihm eine große Klarheit in seinen vielen Betrachtungen des Göttlichen.

Ein gewisser Gott und eine gewisse Art und Weise über Gott nachzudenken haben ihr Ende erreicht. Was aber für das Göttliche von Bedeutung ist, ist etwas anderes als Allmacht und Stärke. Ich verneine diese Attribute nicht, frage mich aber wo sie herkommen.

Nietzsches Verneinung Gottes hat das 20. Jahrhundert bestätigt. Ein Gott des Versprechens, ein Gott, der gibt, Gott als Substanz: all dies kann nicht länger aufrechterhalten werden. Jedoch wohnt die Ur-Wahrheit, das Wunder aller Wunder, in der Tatsache, dass ein Mensch einem anderen etwas bedeuten kann.[19]

Später in dem Gespräch zögert Lévinas keinen Augenblick, seinem Gesprächspartner zuzustimmen, als dieser fragt, ob Nietzsches Gott die Idee eines Gottes wiederspiegelt, der den Weg des Nihilismus gegangen sei.

Dieser Gott hat eine Stimme. Er spricht mit einer stummen Stimme, und die Worte werden gehört. Aber dieser Gott ist Nietzsches toter Gott. Er hat in Auschwitz Selbstmord begangen.

Doch der andere Gott – dessen Existenz statistisch nicht zu beweisen ist, und der nur für die Menschheit von Bedeutung ist – ist ein Widerspruch gegen Auschwitz. Und dieser Gott erscheint im Antlitz des Anderen.[20]

Aber es gibt noch etwas, was unser Lehrer Lévinas sagt und was wir hier wiederholen müssen. In einem Text, der Entsetzen hervorruft und Hoffnung erklingen lässt, spricht er von 1941:

1941! Ein Loch in der Geschichte, ein Jahr in dem alle sichtbaren götter (sic) uns verlassen haben, als gott (sic) wirklich tot war oder sich vor die Offenbarung zurückgezogen hat.[21]

Lévinas, und nicht nur er, muss mit aller Klarheit und intellektueller Redlichkeit von dem Moment sprechen in dem „gott (sic) wirklich tot war oder sich vor die Offenbarung zurückzog“.

Dieser Gedanke ist nicht weit entfernt von Celans verzweifelter, eindringlicher Dichtung. Protest, Empörung, Verzweiflung eine Folge von Auschwitz. Levinas nimmt Fackenheim sehr ernst. Doch er geht weiter und spricht mit Angst und Zittern von einer „Lehre“, aufgelesen in Auschwitz. Es ist etwas, das kaum in Worte gefasst oder gehört werden kann, und dennoch muss es als eine Warnung dastehen. Für Levinas gibt es nach der Shoah keine Predigt, kein glückliches Ende mehr. Der Philosoph sieht so etwas wie Israels ultimative Bestimmung in seiner inhärenten Verfügbarkeit zum „unfreiwilligen Opfer, der Verfolgung ausgesetzt.“[22] Hier stimmt Wiesel ihm zu.

Nun möchte ich zum Gespräch zwischen Wiesel und Lustiger zurückkehren, um auf vier entscheidende Momente hinzuweisen.

Der erste bedeutende Moment geschah, als der Kardinal von seinem jüdischen Bruder sagt, “er sei einer der größten Theologen unserer Zeit“. Das ist es, was ich hier zu zeigen versuche. Was Wiesel von der Abwesenheit Gottes sagt, von der Überlegenheit des Menschen Gott gegenüber, und von der Notwendigkeit, Gott den Prozess zu machen, sollte – bei aller Problematik, die dieser Sichtweise eigen ist – von Rabbinern, Priestern und – warum nicht – sogar von Imamen aufgenommen werden. Johann Baptist Metz hat es auch gesagt, wurde aber ebenso wenig wie Lustiger gehört. Wiesel wird als Dichter wahrgenommen. Aber wenn die Theologie heute solche Überlegungen bezüglich des Heiligen nicht ernst nimmt, wird sie erstarren, verwelken und nur zu denen sprechen, die unwillig sind, Fragen zu stellen, die ihren bedauernswerten Glauben zu Asche zerfallen lassen könnten. Beziehungsweise ihr Glauben ist bereits zerbröckelt zu Asche. Der einzig erstrebenswerte Glaube heute kann nur eine quälender, ein traumatisierter Glaube sein, ein Glaube am Rande des Abgrunds; ein als absurd widerderlegbarer Glaube des blinden Vertrauens in ein unerschaffenes Wesen, das wir Gott nennen, Dieu, God, Elohim, Adonai, Allah, was immer Sie mögen. Damit im Einklang sind die ersten Zeilen von Und die Welt hat geschwiegen, die yiddische Originalfassung von Nacht:

Im Anfang war der Glaube –der kindlich war: Vertrauen – das vergeblich war; und die Illusion – die gefährlich war.

Wir glaubten an Gott, vertrauten den Menschen, und lebten in der Illusion, dass jeder von uns mit einem heiligen Funken aus der Flamme der Shekhinah betraut worden war; dass jeder von uns in seinen Augen und seiner Seele ein Abbild von Gottes Ebenbild trage. Das war der Ursprung, wenn nicht gar der Grund all unserer Qual.[23]

Bevor ich das zentrale Thema anspreche, das die beiden Männer trennte – nämlich des Kardinals doppelte Loyalität zum Juden- und zum Christentum – möchte ich einen zweiten Punkt ansprechen, der 25 Jahre lang über ihrem Dialog schwebte. Ich meine Lustigers starkes Plädoyer dafür, dass Juden Christen nicht länger als goyim, als Götzendiener ansehen, sondern sie als Gläubige an den einen Gott akzeptieren. Das war ein erstaunlicher Schritt und Wiesel stimmte voll und ganz mit ihm überein.

Seit Nacht veröffentlicht wurde, sah Lustiger in Wiesel „einen der großen Theologen unserer Zeit.“ Für einen Kardinal war das eine überraschende Aussage über einen jüdischen Dichter. Zur gleichen Zeit, als ihr Dialog im Fernsehen übertragen wurde, erweiterte Lustiger diese Aussage in einem Aufsatz in der Jesuiten Zeitschrift America:

Eine solche Behauptung mag wie eine Überraschung klingen. Elie Wiesel würde sich selbst als nie als „Theologe“ bezeichnen. Er geht auf Distanz zu denen, die sich „Theologen nennen, vom theologischen Denken reden. Er geht sogar so weit, uns immer wieder daran zu erinnern, dass es, genau genommen, gar keine „jüdische Theologie“ gäbe.

Elie Wiesel weist die Idee, dass er ein Theologe sei und Theologie betreibe weit von sich. Aber man kann den Begriff „Theologe“ auch anders auffassen. Als ein Mensch mit dem Gott spricht, und der wiederum mit Gott spricht und die Geschichte erzählt.[24]

Lustiger betont, der Verfasser von Nacht sei kein Theologe der „Gott-ist-tot Theologie“. Erlauben Sie mir eine Parallele zwischen des Kardinals langem Aufsatz und einer Passage aus dem Babylonischen Talmud, Tractat Baba Bathra (12b), zu ziehen. „R. Jochanan sagte: seit der Zerstörung des Tempels wurde die Prophezeiung nicht mehr den Propheten sondern den Narren und Kindern geschenkt.“ Und wir möchten hinzufügen: auch den Dichtern, denn Wiesel war ein Dichter. Wenn er nicht der Theologe der „Gott-ist-tot“ Theologie war, so ist er der doch der Theologe des Schweigens Gottes. In anderen Worten, Wiesel ist jemand, der die unerträgliche Stummheit des Gottes Israels und der Völker, auf sich geladen hat. Er ist, wie George Steiner es formulierte, ein Kind Israels, das „die unbegreifliche Schuld von Gottes Gleichgültigkeit, Abwesenheit oder Machtlosigkeit auf sich genommen hat.“[25] In diesem Sinne war Wiesel einer der größten Theologen des 20. Jahrhunderts, obwohl er diese Auszeichnung und die damit verbundene Verantwortung ablehnte. Und Steiner ging noch weiter als er sich auf Celans Psalm stützend folgendes schrieb:

Wenn Christus, Sohn Gottes und Menschensohn zugleich am Kreuz für die Menschen starb, so können wir sagen, dass das jüdische Volk („Radix Matrix“) für Gott gestorben ist, und Gottes unvorstellbare Schuld, oder Abwesenheit, oder Machtlosigkeit auf seine Schultern geladen hat.[26]

Ein dritter wichtiger Moment im Gespräch von Wiesel und Lustiger hat etwas mit dem Karmeliter Kloster in Auschwitz und der unglücklichen Aussage Paul II. im August 1989 zu tun. Unerwartet und in der Mitte einer Krise im christlich-jüdischen Verhältnis erinnerte der Papst an die Lehre der Kirche, die so viel besagt wie, dass der Ungehorsam der Juden den neuen Bund hervorgerufen hat – als ob dessen Anhänger in ihrer ganzen langen Geschichte nicht den Ungehorsam der Blasphemie, des Meineids, und des Mordes an tausenden von unschuldigen Nicht-Christen verübt hätten. Später, wie wir wissen, machte Paul II große und allgemein bewunderte Schritte auf die Juden zu.

Den vierten Moment dieses Gesprächs habe ich fürs Ende aufgehoben. In Wahrheit war er der erste, der Anlass des Gesprächs überhaupt und zwar die Art und Weise in der Lustiger sich als Jude betrachtete.

Einige von Ihnen waren dabei, in dem Büro an der Sorbonne, als Wiesel aufbrauste und Lustiger herausforderte, ihm deutlich zu verstehen gab, dass er kein Recht habe, sich einen „erfüllten Juden“ zu nennen. Bei dem Fernseh-Interview war Wiesel etwas verhaltener, während in dem Artikel in Le Monde seine Kritik unverhohlener klingt:

Kardinal Lustiger ist beunruhigend… er verunsicherte extreme Christen, weil er sich immer noch als Jude sieht: er beunruhigte die Juden, weil er Christ geworden ist. … Der Jude in mir ist im Angesicht des Juden in ihm sehr traurig…Er ist davon überzeugt, dass er sein Volk nicht verlassen habe… Er mag im ethnischen Sinne Recht haben, aber nicht im religiösen, in dem wir uns alle befinden.

Ich bestehe auf der Tatsache, dass Erlösung für Juden nur innerhalb ihres Judentums möglich sei. Das Judentum ist für einen Juden das, was das Christentum für einen Christen ist: der beste, vielleicht der einzige Weg, die Wahrheit, die ihm bestimmt ist, zu erkennen.

Hier möchte ich noch eine Aussage Wiesels während der Fernsehübertragung betonen: „Ich glaube nicht, dass ein Jude übertreten muss, um seine Erfüllung zu finden.“

Aber was kann man letztendlich über den Austausch der beiden herausragenden Zeugen des 20. Jahrhunderts sagen? Beide haben ihre Mutter in Auschwitz-Birkenau verloren, und beide arbeiteten, jeder auf seine Weise, für Versöhnung zwischen den Menschen, und besonders zwischen Juden und Christen.

Zum Schluss möchte ich Ihnen noch von einem entscheidenden Ereignis berichten, das für Wiesel so schmerzhaft war, dass er nur selten davon sprach.

Es war am Ende einer von Wiesel unterrichteten Kursstunde an der New York University 1978. Er erzähle den Studenten wie am Tag seiner Befreiung in Buchenwald religiöse Juden sich zu einem minyan zusammenfanden. Sie bildeten das religiöse Quorum, um das Kaddish zu sagen, das Gebet, in dem gleichzeitig die Heiligung des göttlichen Namens und das Gedenken an die Verstorbenen rezitiert wird. Zurecht wird es oft mit dem Vater-Unser verglichen. Arthur Kurzweil berichtet im Hadassah Magazin was Wiesel seinen Studenten sagte:

Ernsthaft blickte Wiesel seine Studenten an: „Und ich werde dieses für jeden Einzelnen von euch sagen; ich werde es öffentlich sagen; ich werde es sogar vor der Torah-Rolle sagen: Gott hat dieses Kaddish nicht verdient.[27]

Eine Aussage von unerhörter Tiefe hallt uns hier entgegen, die unendliche Verzweiflung eines Mannes, dessen Herz und Glauben für immer zerbrochen sind, und der weder weinen noch stumm bleiben kann. Wiesel lehrt uns auf diese Weise das Unfassbare zu fassen, das Unsagbare zu sagen. Ich würde sagen, dass diese Lehre manche seiner weitreichenden Äußerungen einlöst. Kardinal Lustiger und Johann Baptist Metz haben es beide schon früh erkannt, mit dieser überwältigenden Einsicht, die uns befreit von unseren vorschnellen Urteilen, unserem ungerechtfertigt guten Gewissen, von „den Tröstungen, die uns nichts abverlangen, von dem Mitleid ohne zu leiden“[28]

Nachdem ich das gesagt habe, wird mir klar, dass ich Wiesels Glauben nur kurz angesprochen habe und dieses Thema unbedingt weiter verfolgen muss. Im Talmud Traktat Yoma (69b) berichten unsere Weisen, dass nach der Entweihung und Zerstörung des ersten Tempels Jeremias das göttliche Attribut nora (furchtbar, Furcht einflößend) im Sh’moneh Esreh nicht mehr benutzte. Ferner berichten sie, dass Jahrhunderte später Daniel aufschrie: „Heiden versklaven Seine Kinder; wo ist Seine Macht?“ und fortan im Gebet nicht mehr die Bezeichnung ha gibor (der Mächtige) für Gott benutzte. Aber die Rabbiner haben, meiner Meinung nach zu Unrecht, diese Bezeichnung wieder eingeführt. Was genau machen wir, Juden und Christen, wenn wir unsere traditionelle Liturgie nach der Shoah sprechen? Sind unsere Gebete nichts weiter als ein Netz von Lügen?

Ich kehre zurück zu Wiesel, obwohl ich mich keinen Zentimeter weit von ihm entfernt habe. In Paroles d’etranger (Worte eines Fremden) schreibt er etwas, das uns als Gläubige, am Gebet-Verzweifelte erscheinen lässt. Wieder einmal erzählt Wiesel eine Geschichte. Er ist ein begnadeter Geschichtenerzähler, der dich mit seinen Geschichten ans Ende der Nacht begleitet, dich zum Weinen oder Tanzen bringen kann.

Hier ist die Geschichte. Sie handelt von einem frommen Mann, der im Gebet stolpert. Jeden Tag, wenn er an der Stelle kommt, an der es heißt Ahavah rabbah ahavtenu (Du hast uns mit großer Liebe geliebt) hält er inne und ringt nach Atem. Nichts kommt aus seinem Mund. Jedes Wort ist zu einem Hindernis geworden.[29]

Weiter im Text schreibt er:

Es ist vollkommen unbefriedigend. Alle unsere Gebete sind unzureichend. Wie können wir in einem Jahrhundert nach Auschwitz und Maidanek noch von der Erhabenheit, der Größe und der Barmherzigkeit unseres Vaters im Himmel sprechen?

„Eine große Liebe“ und was ist mit Auschwitz? Ein gewaltiges Erbarmen – und was ist mit Belsen? Wie kann ein Betender diese Worte sprechen, ohne dass sie sich in Lügen und Blasphemie verwandeln?[30]

Diesen Worten können wir nur ein Gedicht hinzufügen, eines der ergreifendsten Gedichte von Celan. Tenebrae und Psalm sind ohne Frage die Gedichte Celans, die der Theologie am verwandtesten sind. Sie sind berührt von dem, was Jean-Luc Marion Anatheismus nennt. Gleichzeitig sind sie auch die tragischsten seiner Gedichte, denn sie stellen alle uns vertrauten Kategorien auf den Kopf

          Tenebrae

Nah sind wir, Herr,

nahe und greifbar.

Gegriffen schon, Herr,

ineinander verkrallt, als wär

der Leib eines jeden von uns

dein Leib, Herr.

Bete, Herr,

bete zu uns,

wir sind nah.[31]

Umgekehrt müssen wir fragen: ist es noch nicht zu spät? Was Celan hier ausdrückt ist, dass sich ein schwindelerregender Abgrund mit der Shoah aufgetan hat. Nicht wir sind es, die zu Gott beten müssen, sondern er müsste Seine Gebete an uns richten. Dies sind die gleichen Gedanken wie die von Steiner oder Wiesel, der sie aber anderes formuliert hätte. Es ist als ob die Kategorien zwischen dem Heiligen und der Menschheit sich umgekehrt haben; sie haben die Plätze getauscht.

Was aber sagt dieses Gedicht theologisch aus? Mir scheint es kaum möglich, dieses Gedicht außerhalb des Theologischen zu betrachten. Den Begriff „Theologie“ müssen wir jedoch mit Jean-Luc Marion als „Anatheologie“ verstehen – ein fremder Ausdruck, der nicht nur eine sprachliche Neuprägung darstellt, sondern auch ein Paradoxon. Aber lassen sie uns Celans Gedicht mit Wiesels Vorstellung des Messias in Verbindung bringen. Es scheint als ob das jüdische Volk die Rolle des leidenden Gottesknechts angenommen habe, ein zentraler Begriff in der christlichen Theologie. Aber hier wird das jüdische Volk zum Messias erhoben. Mit folgenden Worten über Wiesel erweiterte Alex Derczanski das Wort „theologisch“

Er ist zu zurückhaltend, als dass er sein Volk in den Stand der Märtyrer erheben würde. Vielleicht ist das der Grund, warum er uns mit dem Wunsch zurücklässt, mehr zu wollen. Wiesels Schriften enthalten liturgische Andeutungen.[32]

Vielleicht erkennen wir hier eine der Bedeutungen des Midrash, der sich quer durch die jüdische Geschichte zieht. Celan durch Texte von Wiesel und Steiner zu verstehen, bedeutet zu erkennen, dass das jüdische Volk „die unvorstellbare Schuld von Gottes Gleichgültigkeit, oder Abwesenheit oder Machtlosigkeit auf sich geladen hat“. (Steiner) Das ist genau, was es bedeutet, der leidende Gottesknecht zu sein. Wir haben einen leidenden Gottesknecht, erwählt von Gott, oder selbst erwählt, Messias oder der Messias zu sein. Ohne lächerlich zu erscheinen, können nur Juden das Folgende in seiner vollen theologischen und messianischen Bedeutung sagen:

Bete, Herr

Bete zu uns

Die nahe sind.

_ora est.

Was ist Wiesels Antwort auf diese Anatheologie, auf diese Bedeutungslosigkeit, diesen Wahn der Geschichte, auf das Verschwinden alles Göttlichen aus dem Weltbild des Menschen, auf das unheilbare Trauma, das er uns überliefert, uns eingeflößt, ja, mit dem er uns geimpft hat? Seine Antwort ist Gesang.

[1] Hierbei handelt es sich um einen Vortrag, den ich am 19. September 2017 am Collège des Bernardins, gehalten habe im Rahmen eines Colloquiums zum 10. Todestag von Kardinal Jean-Marie Lustiger und dem ersten Todestag von Elie Wiesel.

[2] OSE ( Oeuvre de Secours aux Enfants) war eine Organisation, die jüdische Kinder während der deutschen Besatzung rettete.

[3] Francois Mauriac, Bloc-Notes, 29. May 1963 zitiert in Wiesel, Alle Flüsse fließen ins Meer, Hofmann & Kampe, 1994

[4] Wiesel und Michael de Saint-Chéron, Le Mal et l’Exil dix ans après Nouvelle Cité, 1999. Tanach ist das Akronym für die drei Teile der hebräischen Bibel, Torah, Neviim (die Propheten) und Ketuvim (die Schriften).

[5] Jude Heute : Erzählungen, Essays, Dialoge. Aus dem Französischen von Hilde Linnert, 1991.

[6] >Emmanuel Levinas, «Le scandale du mal», in Les Nouveaux Cahiers, n° 85, été 1986, p. 16. Ich zitiere es in Entretiens avec Emmanuel Levinas 1983-1994, Livre de Poche, Biblio essais, LGF, 2010, p. 151.

[7] Elie Wiesel, Die Nacht, zu begraben Elisha, Ullstein, 1987, S. 13

[8] Wiesel, SS. 14-15

[9] Johann Baptist Metz, “Im Angesicht der Juden“, in conccilium 195, (1984) S. 386.

[10] Emil Fackenheim, „The human Condition After Auschwitz: A Jewish Testimony a Generation Later,” Syracuse, N.Y. 1971

[11] Saint-Chéron und Wiesel, Dialogues avec Elie Wiesel 1882-2012, Paris, 2017

[12] Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, übersetzt von Wolfgang, N. Krewani, Freiburg 1993

[13] Levinas, « Le Scandal du mal », Les Nouveaux Cahiers 85,(1986)

[14] Mauriac, Vorwort, Nacht, S. 16

[15] Ders. S. 15-16

[16] Wiesel, Nacht, S.94-96

[17] Wiesel und John O’Connor, A Journey of Faith, New York, 1990

[18] Jean-Marie Lustiger, Gotteswahl, übersetzt aus dem Französischen von Thorsten Schmidt, München 1992

[19] Arno Münster, Hrsg. La différence comme non-indifférence: Ethique et altérité chez Emanuel Lévinas, Paris, 1995

[20] Ders.

[21] Lévinas, Humanismus des anderen Menschen, Mit einem Gespräch zwischen Emmanuel Levinas und Christoph von Wolzogen als Anhang "Intention, Ereignis und der Andere", Übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Ludwig Wenzler, Philosophische Bibliothek, 2005.

[22] Jean Greisch & Jacques Rolland, Emmanuel Lévinas l'Éthique Comme Philosophie Première : Actes du Colloque de Cerisy-la-Salle, 23 Ao Ut-2 Septembre 1986

[23] Wiesel, „Preface to the New Translation,” Night

[24] Veröffentlicht in America, Band 159 Nr. 15, (19. November 1988) S. 401-406

[25] George Steiner, „Das lange leben der Metaphorik: ein Versuch über die Shoah, in Akzente, Jg- 34, H.3, Juni 1987, S. 194-212

[26] Ders.

[27] Hadassah Magazine, Dezember 1978

[28] Levinas, Eigennamen. Meditationen über Sprache und Literatur, Aus dem Französischen von Frank Miething, München 1988.

[29] Wiesel, Paroles d’etranger, Paris, 1982

[30] Ders.

[31] Paul Celan, Gesammelte Werke, in 3 Bd. Frankfurt, 1986, Bd. 1, S. 163

[32] Alex Derczanski, „Comprendre Wiesel,“ Esprit, 9, (Sept. 1980)

Editorische Anmerkungen

*Michael de Saint-Cheron, Schriftsteller und Essayist, ist ein hervorragender Kenner der Beziehungen zwischen christlichem und jüdischem Denken und der Theologie sowie der Philosophien der hinduistisch-buddhistischen Welt. Er gilt als Experte der Arbeiten von André Malraux, Emmanuel Levinas und Elie Wiesel. Er veröffentlichte "Entretiens avec Elie Wiesel 1984-2000" ("Interviews with Elie Wiesel: 1984-2000"; Paris, Parole et silence, 2008). Zusammen mit Elie Wiesel: "Evil and Exile" (University of Notre Dame Press, 1990). Ebenfalls "Conversations with Emmanuel Levinas: 1983-1994" (Duquesne University Press, 2010); und 2017 erschien: "Gandhi" (Taylor and Francis, London).

Übersetzt aus dem Französischen und Englischen von

Eva Schulz-Jander.