Eine spirituelle Heimat.

Wir leben in einer bemerkenswerten Zeit. Nach 2000 Jahren Misstrauen und Feindschaft zwischen den jüdischen und christlichen Glaubensgemeinschaften, erleben wir, dass sie auf dramatische Weise neue Wege der Begegnung finden. Von tiefgreifender Konsequenz waren für Juden die Besuche von Papst Johannes Paul II. und später seines Nachfolgers, Papst Benedikt XVI. im Staat Israel. Warum ist das so bemerkenswert?

Überall in der Welt begegnen sich Vertreter der beiden Gemeinschaften regelmäßig in Kollegialität und echter Freundschaft. Juden und Christen haben gemeinsam an einer Reihe von sozialen Fragen gearbeitet sowie in formellen Gesprächen sich mit einer bemerkenswerten Bandbreite von Themen beschäftigt - und dies in gegenseitiger Hochachtung und Offenheit. Zu solchen Themen gehörten zum Beispiel Mel Gibsons Film "Die Passion Christi", die Karfreitagsfürbitte im wiederbelebten tridentinischen Ritus und die Bermerkungen der US-Bischöfe zu Evangelisation und Mission vom Jahr 2009. Wir haben unsere Anschauungen über die Kulturgeschichte des Martyriums und über das Heilige Land ausgetauscht, und gemeinsam haben wir eine Filmreihe für lokale Gemeinden entwickelt, "Auf Gottes Wegen gehen", die Erwachsenen unserer beiden Traditionen Einblick in die Praktiken und Überzeugungen der jeweils anderen Gemeinschaft geben sollen.

Doch trotz der gewachsenen Gemeinschaft reiben sich Beide weiterhin wund an dem einen Thema: dem Staat Israel. Allzu oft wird Israel zu einem schmerzhaften Keil, der einer Vertiefung des Verständnisses zwischen Juden und Christen im Wege steht. Es scheint, dass wir über dieses Thema aneinander vorbei reden, oder noch schlimmer, ganz verschiedene Sprachen sprechen. Das Scheitern der Kommunikation darüber führt zu Schmerzen auf beiden Seiten.

Sicher, es gibt Fälle, in denen eine klare Verständigung zwischen Juden und Christen möglich ist, sofern über Israel konstruktiv diskutiert wird. Aber oft reflektiert das Gespräch nicht die Realität, in der Israel und die damit verbundenen Aspekte für Juden und Christen eine völlig unterschiedliche Bedeutung einnehmen.

Mir als Jude erscheint es, dass die Diskussion über Israel christlicherseits dem Bereich sozialer Fragen und der Außenpolitik zugeordnet wird und dabei ihrer spirituellen Bedeutung beraubt wird. Für Juden, auch für solche, die mit der Politik der israelischen Regierung nicht einverstanden sind, hat Israel eine wesentlich andere Bedeutung. Wenn gläubige Juden hören, wie gläubige Christen über Israel sprechen, hören sie in den Worten der Christen keinerlei Wertschätzung für das Ausmaß, in dem Israel eine grundlegende spirituelle Rolle im Leben der Juden spielt.

Liebe, Schmerz und Missverstehen

Worum geht es bei diesem Missverstehen geht, ist für das Verhältnis von Juden und Christen von großer Bedeutung. Eine Geschichte, die Martin-Buber dem chassidischen Meister Mosche Lob von Sasow zuschreibt, fängt die konkurrierenden Gefühle dieses Verhältnisses gut ein. Mosche Lob erzählte, wie er in einem Gasthaus zufällig das Gespräch einiger Bauern belauschte. Nach vielem Trinken fragte ein Bauer den anderen: "Liebst du mich?" Sein Begleiter sagte: "Natürlich habe ich dich lieb, ich liebe dich sehr." Darauf der erste: "Du sagst, du liebst mich, aber wenn du mich wirklich lieben würdest, wüsstest du, was mich schmerzt."

Mir hat das Tun religiöser Gemeinschaften, die Gesprächspartner der jüdischen Gemeinschaft waren, oft Schmerzen verursacht. Einer davon ist die Tatsache, dass viele protestantische Denominationen, wenn auch nur wenige amerikanische Katholiken, das "Kairos Palästina Dokument" von 2009 so bereitwillig angenommen haben. Diese Erklärung leitender palästinensischer Christen verurteilt die israelische Besatzung der palästinensischen Gebiete "als eine Sünde gegen Gott und die Menschheit" und behauptet, dass gewaltfreier Widerstand gegen dieses Unrecht das Recht und die Pflicht aller Palästinenser einschließlich der Christen sei. Damit aber nimmt die Erklärung eine geradezu beleidigende Trennung zwischen Juden und dem Land Israel, der Wiege unserer Zivilisation, vor.

Dann gab es im Oktober 2010 den lauwarmen Tadel des Vatikans an den Aussagen des Exarch Cyril Salim Butros, des griechisch- melkitischen Erzbischofs von Boston, der beim Abschluss der Bischofssynode des Nahen Ostens im Vatikan erklärte: "Die Heilige Schrift kann nicht gebraucht werden, um die Rückkehr der Juden nach Israel und die Verdrängung der Palästinenser und die Besatzung der palästinensischen Gebiete durch Israel zu rechtfertigen ....Wir Christen können vom "gelobten Land" nicht als ausschließliches Recht für ein privilegiertes jüdisches Volk sprechen. Diese Verheißung wurde von Christus aufgehoben .... Es gibt fortan kein auserwähltes Volk mehr – alle Männer und Frauen aller Länder sind das auserwählte Volk geworden .... " Das kam 45 Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil und der "Erklärung über die nichtchristlichen Religionen", die ein neues Zeitalter im jüdisch-katholischen Verhältnis eröffnete, das in unserem gemeinsamen biblischen Erbe verwurzelt ist.

Nicht minder peinlich war der theologische Prolog zum Entwurf des Nah-Ost Study Teams der presbyterianischen Kirche. Der Prolog schien zu versuchen, Juden von ihrer eigenen historischen Vergangenheit zu trennen und ihnen ihr Selbstverständnis abzusprechen. Indem behauptet wurde, dass Juden keine wesenhafte innere Verbindung zum Land ihrer historischen Erfahrung hätten und ihre Verbindung mit ihm relativiert wurde, schuf das Dokument ein Bild jüdischer Identität, in dem sich Juden schwerlich wiedererkennen können.

Alle diese Glaubensgemeinschaften haben eine Geschichte der Begegnung und des Gesprächs mit der jüdischen Gemeinschaft, doch alle scheinen ahnungslos zu sein (ich unterstelle, dass es sich eher um Unwissenheit handelt und nicht um Gleichgültigkeit) im Blick auf die tiefgreifende Rolle, die Israel im spirituellen Leben der Juden spielt. Dass Juden an diesen Vorfällen Anstoß nehmen, sollte insbesondere Katholiken zu denken geben, weil sie Juden ihre eigenen Erfahrungen mit Israel zu verweigern scheinen. Die 1974 vom Vatikan veröffentlichten "Richlinien für die religiösen Beziehungen mit den Juden" schlagen vor, dass Christen lernen, was die wesentlichen Merkmale sind, durch die sich Juden im Blick auf ihre eigene religiöse Erfahrung definieren. Für Katholiken sollte demzufolge die den Juden eigene Wahrnehmung der religiösen Bedeutung des modernen Staates Israel einen gewissen Einfluss darauf haben, wie Katholiken auf die Entwicklungen dort reagieren.

Zunächst ein Vorbehalt: Es ist wichtig zu betonen, dass für Juden die emotionale Anziehungskraft Israels nichts mit den Aktionen oder Strategien israelischer Regierungen zu tun hat. Diese Anziehungskraft wird gleichermaßen von denjenigen empfunden, die eine bestimmte Regierung oder eine Reihe von Maßnahmen begrüßen, wie von denen, die an dieser Regierung oder Politik verzweifeln. Hier geht es um etwas sehr viel Tiefgreifenderes.

Zweitens kann eine Anerkennung dessen, was Israel für Juden bedeutet, nicht heißen, dass Israel über jede Kritik erhaben sei. Es gibt genug Anlass, die Maßnahmen der Regierung Israels zu kritisieren. Juden, die das tun, werden oft des "Selbsthasses" bezichtigt, Christen, die das tun, werden oft als Antisemiten abgetan. Diese Vorwürfe sind in beiden Fällen oft grundsätzlich falsch. Die Herausforderung für Christen, die über Israels Fehler sprechen wollen, besteht darin, zunächst ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, welche Rolle Israel im emotionalen Leben ihrer jüdischen Freunde und Gesprächspartner spielt - und die Realitäten des politischen Israel vor diesem Hintergrund anzusprechen.

Im Angesicht von Jerusalem

Die Macht, die Israel über das emotionale Leben der Juden ausübt, findet für mich seinen Ausdruck in einem Kompass, den ich einmal sah, dessen Nadel nicht immer nach Norden, sondern stets in Richtung Jerusalem ausschlug. Einer der leitenden Persönlichkeiten des Reform-Judentums (dessen Berufslaufbahn zu einer Zeit begann, als die Reformbewegung noch virulent antizionistisch war) hatte in seinem Testament festgelegt, dass sein Grabstein mit einem Zitat des spanisch-jüdischen Dichters Jehuda Halevi aus dem Mittelalter beschriftet werden solle: "Mein Herz ist im Osten und ich bin im Westen." Was ist das Wesen dieser magnetischen Anziehungskraft, die Israel auf jüdische Herzen ausübt?

Auf der einfachsten Ebene findet die Kraft, die Israel über Juden ausübt, eine Parallele in einer ergreifenden Erinnerung Barack Obamas in seinem Buch Dreams From My Father. Er schreibt von seinem ersten Besuch in Kenia: "... all dies während eine stetige Prozession von schwarzen Gesichtern an uns vorbeizog ... man konnte für einen Zeitraum von Wochen oder Monaten die Freiheit genießen, die aus dem Gefühl kommt, nicht beobachtet zu werden ... . Hier war die Welt schwarz, und so warst du einfach nur du."

Ersetzt man das Wort 'schwarz' mit dem Wort 'Jude', hat man eine lebhafte Beschreibung dessen, was ein Jude oder eine Jüdin fühlt, wenn sie oder er in Israel ist. Es ist wie ein Ausatmen, auch wenn man seinen Atem nicht bewusst angehalten hat. Selbst die assimiliertesten Juden kennen dieses Gefühl, von Menschen umgeben zu sein, die das gleiche 'Etikett' tragen, wie man es selbst trägt, die etwas tiefgründiges und grundlegendes gemeinsam haben. Selbst Juden, die ihrer Identität entfremdet sind, sprechen – oft staunend – über die Intensität des Gefühls, in Israel zu Hause zu sein.

Auf einer tieferen Ebene schwingen Juden mit Israel in Bezug auf das kollektive Leben des Volkes. Es gibt keinen jüdischen Menschen, welchen Alters auch immer, der sich nicht der Tatsache bewusst wäre, dass unser Leben vom Feuer des Holocaust gebrandmarkt ist. Bewusst oder nicht, für alle Juden verkörpert Israel die Vorstellung von der Auferstehung. Die Vermittler jüdisch-religiöser Praxis haben bewusst gehandelt, wenn sie Jom HaSchoa, den Tag des Gedenkens an den Holocaust, genau eine Woche vor Jom HaAtzma'ut, den Tag des Gedenkens an Israels Unabhängigkeit, setzten -- beide in der Jahreszeit der Wiedergeburt und Erneuerung. Kann irgend ein Organismus den Verlust eines Drittels seines Körpers überleben? Auch wenn es schmerzhaft ist, dies so kurz nach diesen Ereignissen zu sagen: ich vermute, dass spätere Generationen den Gedanken aufnehmen werden, dass das Volk Israel durch das Trauma der Schoa zugrunde gegangen wäre, hätte es nicht durch das Projekt der Rückgewinnung seiner historischen Heimat einen neuen Halt im Leben gefunden.

Jüdische Identität nach der Staatsgründung

Durch die Existenz Israels hat sich die Bedeutung dessen, was es heißt, ein Jude zu sein, verändert, ob man nun dort lebt oder nicht. Der Dichter Karl Shapiro hat dies 1948 intuitiv so empfunden:

Wenn ich den Namen Israel hoch angeschrieben sehe

zerbrechen die Zäune in meinem Fleisch; ich sinke

tief in einen westlichen Stuhl und lasse meine Seele ruhn. ...

Dieses sehr neu definierte Selbstwertgefühl mag es Juden ermöglicht haben, sich unbefangener am interreligiösen Dialog zu beteiligen und sogar aktiv am kulturellen und politischen Leben teilzunehmen. Heute fühlen sie sich als Teil der Gesellschaft und nicht mehr ausgegrenzt.

Israel verfügt über eine inkarnatorische Dimension. Es verkörpert die Gesamtheit der Erfahrung und der Botschaft des jüdischen Volkes. Wenn Juden Spanien besuchen, finden sie es schön und charmant, aber Spaniens Geschichte ist nicht die ihre. Selbst wenn die Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahr 1492 immer eine traumatische Erinnerung für alle bleiben wird, Spanien ist für die jüdische Identität nicht in dem Maß notwendig, wie es Israel ist. Spanien sagt ihnen nicht, wie ihre Identität geworden ist, die sie jetzt haben.

Wenn Juden Israel besuchen, dann sprechen seine Landschaft und seine historischen Stätten in intimer Weise zu ihnen. Es ist die Verkörperung der kollektiven Vergangenheit aller Juden, die uns in unserer Geschichte verortet und ihre Bedeutung wachruft. Man könnte fast sagen, dass Israel eine ähnliche Funktion für Juden hat, wie die Kommunion für Katholiken. Gegen Mitte des 20. Jahrhunderts haben führende Männer der Sowjetunion bekanntlich Juden als wurzellose Kosmopoliten verunglimpft. Die Existenz des Staates Israel erklärt jede Möglichkeit, Juden auf diese Weise zu beschreiben, für null und nichtig.

Israel bietet Juden etwas, das sie seit dem Jahre 70, der letzten Vertreibung aus dem Land und den Anfängen ihrer Existenz als Diaspora-Volk, nicht mehr gekannt haben und was der Philosoph Emil Fackenheim "die jüdische Rückkehr zur Geschichte" nennt. Fackenheim meint damit, dass die Existenz eines jüdischen Staates Juden erlaubt, die Lehren ihrer Tradition auf einer breiteren Grundlage zu verwirklichen, als ihnen das als ein von anderen geduldetes Pariah-Volk möglich war, fremdbestimmt und der Möglichkeit entledigt, selbst als Handelnde auf der Weltbühne zu agieren. Ein jüdischer Staat bietet Juden die Chance, nicht mehr länger die kläglichen Erben einer schwindenden, an Bedeutung verlierenden Tradition zu sein. Es bietet ihnen die Möglichkeit, Teil eines Volkes zu sein, das beauftragt ist, seiner Kultur in immer neuen Formen Ausdruck zu geben, ein lebendiger, dynamischer Organismus, statt eines statischen, versteinerten Museumsstücks.

Der Schmerz historischer Existenz

Dieser Aufruf zum Wiedereintritt in die Geschichte bewirkt und erklärt den Schmerz, den viele Juden empfinden, wenn der Staat nicht die Ideale der ererbten Lehre verkörpert, wenn seine Jüdischkeit eher eine Frage der Dempgraphie als die eines Charakters ist. Theodor Herzl, der "Vater des modernen Zionismus", sprach den berühmt gewordenen Satz: "Wenn ihr es wollt, ist es kein Märchen." Aber die Vision von Israel, von der seine Erbauer inspiriert wurden und die jüdisches Streben noch immer animiert, ist nicht die eines "normalen" Staates, der wie alle anderen ist, eines Staates, dessen Mängel als "Preis" der Realpolitik in einer "gefährlichen Umgebung" zu akzeptieren sind.

Asher Ginzberg, der unter dem Pseudonym Achad Ha'Am schrieb, träumte von einem jüdischen Staat, der die jahrtausende alten Werte des jüdischen Volkes verkörpern würde. Dieser Staat sollte ein Licht für die Nationen sein in der Art und Weise, wie es sein kollektives Leben führt, ein Staat, der anderen eine Vision davon vermittelt, wie jeder Staat sein könnte. Diese Vision gestattet uns, an dem Abstand zwischen dem, was Israel sein könnte und was es in diesem Augenblick ist, zu leiden. DieseVision fordert uns auf, in Ordnung zu bringen, was falsch ist. Und diese Vision führt unsere Verbundenheit mit Israel über bloße "Unterstützung" hinaus, hin zu einem tiefgreifenden, das ganze Leben umfassenden Engagement.

Daher ist für Juden das Engagement mit Israel auf engste mit unserer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbunden und reicht über das Politische hinaus. Es ist eine Beziehung, von der wir nicht erwarten können, dass sie Nicht-Juden teilen. Aber wir hoffen, dass unsere christlichen Freunde und Gesprächspartner sich in ihrem Sprechen und Handlen bewusst sind, was uns Juden dieses Engagement bedeutet.

 

Editorische Anmerkungen

* Rabbiner Daniel F. Polish leitet die Kongregation Shir Chadash im New Yorker Hudson Valley. Website der Synagoge: Shir Chadash. Sein neuestes Buch trägt den Titel: Talking About God [Über Gott reden], (Skylight Paths Publishing). Amerika Press Inc. 2011.

Der vorliegende Beitrag erschien im englischen Original in "America. The National Catholic Weekly", 11. April 2011.

Aus dem Englischen übersetzt von Fritz Voll; Redaktion Christoph Münz.