Eine Erinnerung an Otto Michel (1903 – 1993)

Auf seinem Grabstein ist ein Pauluszitat zu lesen: „Denn ich hielt nicht dafür, dass ich etwas wüsste unter euch als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten“ (1.Kor. 2,2). Im Jahr des Reformationsjubiläums klingt damit zugleich der Name Martin Luthers an. Der Spruch trägt vielmehr die Handschrift von Otto Michel, dem Begründer des Institutum Judaicum an der Universität Tübingen im Jahr 1957.

Wer die Berichte seiner Arbeit am Institut nachliest, findet viele bedeutende Namen nicht nur aus Deutschland, sondern vor allem auch aus Israel. Er arbeitete eng mit den Gelehrten der Hebräischen Universität in Jerusalem zusammen. Im Jahr 1959 war Martin Buber als Gastdozent zu einem Vortrag gekommen. Er legte den Studenten das Gleichnis vom Zinsgroschen (Luk.20) aus. Das war ein historisches Ereignis.

Otto Michel war ein außergewöhnlicher Initiator der christlich-jüdischen Begegnung, denn er führte die neutestamentliche Wissenschaft auf neue Wege. Sosehr er bei Luther anknüpfte, – sein Römerbrief-Kommentar kam 1955 heraus, nachdem 1936 sein Hebräerbrief-Kommentar erschienen war – sosehr ist er über ihn hinausgewachsen. „Paulus und seine Bibel“ lautete der Titel seiner Habilitationsschrift (1929). Mit Albert Schweitzer verband ihn das Interesse an der Apokalyptik, denn Jesus war Apokalyptiker. „Wer Jesus verstehen will, der muss hebräisch denken lernen.“ Das war Michels bahnbrechende Erkenntnis. Sein bleibendes Verdienst ist, dass er die Forschung an den apokalyptischen Texten zu einer wissenschaftlichen Disziplin erhoben hat.

 

Im Denken von der Bibel geprägt, war auch seine Sprache vielschichtig, nie einlinig – aber immer zielgerichtet. Auf dem Hintergrund der düsteren deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts und der Aufgabe, die antijüdischen Tendenzen in Kirche und Theologie zu überwinden, war „Aufsehen auf Jesus“  –  für Otto Michel das Gebot der Stunde. Dankbar würdigte er das bedeutende Jesus-Buch von David Flusser, der damit den Christen Jesus wiedergegeben hat. Schalom Ben-Chorins überragender Beitrag zum jüdisch-christlichen Dialog im In- und Ausland ist zur Quelle neuer Erkenntnisse geworden.

Als Liebhaber des Nahen Ostens hatte er das Land – damals noch Palästina – zum ersten Mal 1930 mit dem Deutschen-Palästina-Verein bereist und in der Nähe von Hebron gegraben. Seitdem besuchte er es mehrmals – auch mit Studentengruppen. Denn das Land gehört zur Schrift, sie hat „Erdgeruch“.

Als Ergebnis seiner langjährigen Studien an der jüdischen Geschichte ist das bedeutende historische Übersetzungswerk „De bello judaico“ von Flavius Josephus zu nennen, das er mit Otto Bauernfeind zusammen kommentiert in drei Bänden (1962-69) herausgegeben hat. Die Judaistik stellte Michel ganz und gar in den Dienst der Erkenntnis an der Bibel, vornehmlich am Neuen Testament. Jesus und Paulus waren Juden – und keine Hellenisten. Und – was ist Theologie?  Mit seinen prägnanten Worten ausgedrückt: Theologie ist Exegese.

Das Institutum Judaicum besteht heute in der ursprünglichen Form nicht mehr, es hat sich gewandelt. Otto Michel war sich durchaus dessen bewusst, dass die Zeit und ihre Veränderungen ihre Berechtigung haben. Dennoch – sein Werk bleibt lebendig. Es ist zum Segen geworden für ganze Generationen.

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Weitere Werke  –  in Auswahl:


* Prophet und Märtyrer, Gütersloh 1932  

* Zeugnis des Neuen Testaments von der Gemeinde, 1941, Gießen 1983 2. Aufl.

* Gestaltwandel des Bösen, Wuppertal 1975 – in Kooperation mit A. Fischer

* Aufsehen auf Jesus, Metzingen 1980 8.Aufl.

* Dienst am Wort, hrsg. von Klaus Haacker, Neukirchen 1986

* Anpassung oder Widerstand, Wuppertal 1989

 

 

 

 

Editorische Anmerkungen

Beate Barwich ist Theologin, Religionspädagogin und Judaistin. Sie war in Esslingen/N. an der Stadtkirche tätig, danach im Schuldienst als Religionslehrerin an Grund- und Realschule, zuletzt am Gymnasium in Parchim. 2014 erschien ihr Buch „Veni Creator Spiritus, Heinrich Grüber – Gerechter unter den Völkern“ in der Ev. Verlagsanstalt, Leipzig.
Quelle: COMPASS Infodienst.