Ein weiterer großer Schritt vorwärts

Zu: Christen und Juden III. Schritte der Erneuerung im Verhältnis zum Judentum. Eine Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh (Gütersloher Verlagshaus), 2000, 112 S., 12,80 DM.

Rolf Rendtorff

Ein weiterer großer Schritt vorwärts

Christen und Juden III.

Schritte der Erneuerung im Verhältnis zum Judentum. Eine Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh (Gütersloher Verlagshaus), 2000, 112 S., 12,80 DM.

Als wir vor fast dreißig Jahren in der Studienkommission Kirche und Judentum mit der Arbeit an der Studie "Christen und Juden" begannen, betraten wir unbekanntes Gelände. Es gab so gut wie keine Vorarbeiten, ja es mußten überhaupt erst die theologischen Probleme formuliert und die Fragestellungen entwickelt werden, mit denen wir sie in Angriff nehmen konnten. Und schließlich mußten wir nicht nur die recht unterschiedlichen Auffassungen innerhalb der Kommission in Einklang bringen, sondern unsere Arbeit dann auch noch gegen erhebliche Widerstände im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) vertreten und dabei mancherlei Änderungen hinnehmen.1

Die Studie hat zunächst kaum Beachtung gefunden. Ihre Wirkung wurde aber sichtbar, als sich die Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland in ihrer grundlegenden Erklärung "Zur Erneuerung des Verhältnisses von Juden und Christen" vom Januar 1980 ausdrücklich auf die Studie berief. Damit begann eine Entwicklung innerhalb der Gliedkirchen der EKD, die sich immer mehr ausbreitete und bis heute anhält. So konnte die Studie "Christen und Juden II" im Jahr 19912 mit einem Kapitel "Der bisher erreichte Konsens" beginnen und darin die Aussagen aus den Erklärungen einer ganzen Reihe von Landeskirchen aufnehmen. In der jetzt erschienen Studie "Christen und Juden III" heißt es im Vorwort über die Jahre seither: "Sieben Gliedkirchen haben Aussagen zum Verhältnis von Christen und Juden nicht nur gemacht, sondern diese zugleich in ihre Grundordnungen aufgenommen. Neun weitere Gliedkirchen haben synodale Erklärungen zum Verhältnis von Christen und Juden teils neu, teils abermals veröffentlicht."

Das erste Kapitel der Studie III führt die Aussagen im einzelnen auf, voran die Formulierungen in den Änderungen der Kirchenverfassungen, angeordnet nach ihrer Häufigkeit. Am Anfang steht "Die bleibende Verbundenheit der Kirche mit dem jüdischen Volk". Dabei ist das theologisch tragende Element aller Neuformulierungen die Aussage über "Die bleibende Erwählung Israels". Hier wird besonders deutlich, welche tiefgreifenden Wandlungen sich seit der Studie I vollzogen haben. Dort hieß es noch im Vorwort: "Zwischen Christen und Juden bestehen tiefgreifende Unterschiede und Gegensätze." Eine solche Formulierung wäre heute undenkbar.

Über "Die Absage an den Antisemitismus" heißt es, daß sie "mehr als alle anderen Aussagen inzwischen kirchliches Gemeingut geworden" ist. "Von der Mitverantwortung und Schuld am Holocaust sprechen die geänderten Grundordnungstexte eher indirekt, aber doch deutlich". Dann folgt ein Stichwort, das nur in zwei Neuformulierungen von Kirchenverfassungen erscheint: "Die These von der Hineinnahme in den Bund Israels." Damit ist ein Thema angesprochen, dem sich die Studie selbst in ihrem zweiten Kapitel ausführlich widmet.

In den Erklärungen der Landeskirchen zum Verhältnis von Kirche und Israel, die naturgemäß ausführlicher formuliert sind als die Texte der Kirchenverfassungen, werden dann auch Unterschiede zwischen der Kirche und dem Judentum hervorgehoben und erörtert. Dies sind vor allem Fragen der Christologie, der Ekklesiologie und der Rechtfertigungslehre. Einige Landeskirchen greifen die Frage der Judenmission auf, der sich die Studie in ihrem dritten Kapitel zuwendet. Auch die Frage der Stellung zum Staat Israel wird erörtert, der dann ein Abschnitt im vierten Kapitel gewidmet ist. Für die jüngeren Texte ist kennzeichnend, daß sie sich auch auf praktische Fragen beziehen, wobei u.a. die Geschichte der eigenen Landeskirche eine Rolle spielt.

Einen wichtigen Aspekt bildet die Entwicklung des jüdischen Lebens in Deutschland, vor allem innerhalb des letzten Jahrzehnts, die in einem kurzen, aber informativen Abschnitt dargestellt wird (1.2). Neben den Problemen, die sich für die jüdischen Gemeinden aus dem starken zahlenmäßigen Anwachsen durch die Zuwanderung aus der früheren Sowjetunion ergeben haben, wird dabei vor Augen geführt, daß sich anstelle der seit 1945 in Deutschland bestehenden "Einheitsgemeinden" jetzt wieder eine größere Vielfalt von Ausprägungen des jüdischen Lebens und Gottesdienstes herausbildet, wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland entwickelt hatte. Ein wichtiger Gesichtspunkt für Christen, die am christlich-jüdischen Gespräch interessiert sind, ist außerdem der Hinweis darauf, daß die jüdischen Gemeinden "durch ihre enormen internen Integrationsaufgaben... nur in deutlich eingeschränktem Maß zu einem Dialog in der Lage sind." Es ist für Christen wichtig, sich dessen bewußt zu sein und es zu respektieren.

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Die Überschrift des zweiten Kapitels lautet "Der Bund Gottes". Hier wird in einer sehr ausführlichen, oft ins exegetische Detail gehenden Studie der Fragenkomplex erörtert, den man mit den Stichworten "alter" und "neuer Bund" kennzeichnen kann. Dabei bringt schon der Einleitungssatz eine wichtige Weichenstellung zum Ausdruck. Hier wird aus der Studie II der Satz zitiert: "Eine Auffassung, nach der der Bund Gottes mit Israel gekündigt und die Juden von Gott verworfen seien, wird nirgends mehr vertreten." Dieses "Zwischenergebnis" bildet den Ausgangspunkt einer breit angelegten Erörterung der wichtigsten biblischen Aspekte dieser Frage.

In einem einleitenden Abschnitt (2.1) wird zunächst die "klassische" christliche Auffassung referiert, wonach der Bund Gottes mit Israel aufgehoben und die Kirche an Israels Stelle zum einzigen und wahren Volk des Bundes geworden ist. Ihr wird die Formulierung der Rheinischen Synode gegenübergestellt: "Wir glauben die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes als Gottes Volk und erkennen, daß die Kirche durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit seinem Volk hineingenommen ist." Diese Formel von der Hineinnahme der Kirche in den Bund Gottes mit Israel wird nun trotz ihrer "Faszination" in ihrer Tragfähigkeit in Frage gestellt. Dabei geht es zum einen um die biblischen Grundlagen dieser Vorstellung, zum andern um die Frage, ob diese Formel der bleibenden Sonderrolle Israels gerecht zu werden und ob sie das Nebeneinander von Judentum und einer inzwischen rein heidenchristlich geprägten Kirche angemessen zum Ausdruck zu bringen vermag.

Damit wird eine zentrale Frage der Bestimmung des Verhältnisses von Israel und Kirche aufgegriffen, die bisher nur in Ansätzen zur Sprache gekommen ist. Die Leser von "Kirche und Israel" konnten jedoch schon an einem früheren Stadium dieser Diskussion teilhaben, die sich deutlich in den Erörterungen der Studie III niedergeschlagen hat und weitergeführt worden ist.3

Zunächst wird das Bundesverständnis des Alten Testaments dargelegt (2.2). Die entsprechenden Aussagen sind vielfältig und vielschichtig. Sie sprechen von mehreren Bundsetzungen4 Gottes, die einander aber nicht aufheben, sondern jeweils in einer anderen geschichtlichen Situation und Konstellation die vorhergegangenen erneuern und bestätigen. Dies gilt besonders für den Bund mit den Vätern und den Sinaibund, wobei der letztere eine Sonderstellung einnimmt durch den Bezug auf das "Buch des Bundes" (2.Mose 24,7) und die "Tafeln des Bundes" (2.Mose 34,28; 5.Mose 9,9.11), d.h. auf die schriftliche Tora. Besonders bedeutsam ist, daß Gott sich nach der Gefährdung des Bundes durch Israels Abfall zum Goldenen Kalb als "barmherziger und gnädiger Gott" erweist (2.Mose 34,6) und den Bund erneuert. "Die aus der Barmherzigkeit Gottes entspringende Erneuerung des Bundes (2.Mose 34,10) macht deutlich, dass Israels Bund faktisch immer schon ein ‚neuer‘ ist, der menschliche Schuld und göttliche Vergebung mit umschließt."

Der wohl bekanntesten und in ihrer Wirkungsgeschichte folgenreichsten Bundesaussage des Alten Testaments in Jeremia 31,31-34 ist ein eigener Abschnitt gewidmet (2.3). In diesem Prophetentext ist zwar von einem Bruch des Bundes von Seiten der Israeliten die Rede, jedoch nicht von seiner Aufkündigung durch Gott. "‘Neu‘ wird der vom Propheten angesagte Bund vielmehr darin sein, dass er den bisherigen Bund eschatologisch überbietet: Er wird der abschließende, vollkommene Bund sein, Gottes letztes und unüberbietbares Wort in dieser Sache." Gott selbst wird den Israeliten die Fähigkeit schenken, die Tora zu halten, indem er sie ihnen ins Herz schreibt. Auch dieser "neue Bund" bezieht sich also auf die Tora. Er ist der bisherige Bund in endzeitlich gesteigerter Form.

In einem zusammenfassenden Abschnitt (2.4) wird dann ausgeführt, daß der Bund das "unüberbietbare Idenitätszeichen Israels" ist. "Darin, dass ihm der Bund geschenkt ist, unterscheidet sich Israel von den ‚Völkern‘." Deshalb würde durch eine ausdrückliche Einbeziehung der Weltvölker in den Bund Israels diese für Israels Selbstverständnis grundlegende Unterscheidung in Frage gestellt bzw. aufgehoben. Dabei ist auch zu bedenken, daß sich im Anschluß an 1.Mose 17 die individuelle Aneignung des Bundes durch die männlichen Mitglieder mit der Beschneidung vollzieht, die deshalb berit milla "Beschneidungsbund" heißt. Deshalb ist eine unmittelbare Einbeziehung der heidenchristlichen Kirche in diesen Bund kaum denkbar.

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Die nun folgenden Abschnitte sind den Aussagen des Neuen Testaments zum Thema "Bund" gewidmet. Der erste Abschnitt (2.5) ist überschrieben "Jesus Christus – Ziel und Bekräftigung der Bundsetzungen Gottes". Darin wird schon deutlich, daß im Folgenden nicht von einem anderen, in diesem Sinne "neuen" Bund gesprochen wird. Noch wichtiger ist aber die gleich am Anfang stehende Feststellung: "Es fehlen alle Anzeichen dafür, dass es eine einheitliche frühchristliche Theologie des Bundes gegeben hätte, in deren Rahmen dem Begriff ‚Bund‘ eine zentrale Bedeutung für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Gemeinschaft der Jesusgläubigen und dem Volk Israel zugefallen wäre." Die sich nahelegende Frage, wie es denn zur der einleitend dargestellten christlichen Auffassung von der Ersetzung des "alten" Bundes durch den "neuen" gekommen ist, wird in einem späteren, knappen Abschnitt "Die Bedeutung des Bundesbegriffs für das frühchristliche Kirchenverständnis" (2.8) beantwortet. Dort wird in klaren Worten ausgesprochen, "dass sich – paulinisch gesprochen – die eingepfropften Zweige über die tragende Wurzel erheben (Röm 11)." Denn "wo überhaupt vom Bund die Rede ist, wird er Israel abgesprochen." "Diese polarisierende Sicht hat seit der Zeit der alten Kirche eine verhängnisvolle Wirkungsgeschichte gehabt."

Die Abschnitte über die neutestamentlichen Aussagen dienen also vor allem der Aufarbeitung dieser verhängnisvollen Entwicklung durch eine sorgfältige Untersuchung dessen, was das Neue Testament tatsächlich zum Thema "Bund" zu sagen hat. Dabei werden drei ganz unterschiedliche Weisen des Umgangs mit dem Gedanken und Begriff des Bundes herausgearbeitet: in der Theologie des Paulus, im Hebräerbrief und in der Abendmahlstradition. Davor wird (in 2.5) als eine frühe Stimme der Lobgesang des Zacharias, das Benediktus, zitiert, das – neben der Abendmahlsüberlieferung – "als die älteste uns bekannte christliche Stellungnahme zum Thema ‚Bund‘ gelten" kann. Angesichts der Geburt des Johannes und im Blick auf Jesus, dem dieser als Prophet vorangehen wird, wird hier Gott gepriesen: "Er hat das Erbarmen mit den Vätern an uns vollendet und an seinen heiligen Bund gedacht, an den Eid, den er unserm Vater Abraham geschworen hat" (Lk 1,72). Lukas hat damit den Bundesbegriff nicht für die Deutung des Neuen verwendet, das in und mit der Kirche entsteht, sondern ihn als Proprium Israels und seiner Verheißungen belassen. Dies hat er mit Bedacht an den Eingang seines Doppelwerkes aus Evangelium und Apostelgeschichte gerückt.

"Auch Paulus hält an der bleibenden Gültigkeit der Bundessetzungen Israels fest." In dem großen Israel-Traktat Röm 9-11 kommt ein Gegensatz zwischen "altem" und "neuem" Bund nicht in Blick. Überhaupt "drängt sich der Eindruck auf, dass eine solche Bundessystematik nicht im theologischen Blickfeld des Apostels gelegen hat." Auch in Gal 3,6-29 hebt Paulus "den Gottesbund mit Abraham als wichtigen positiven Bezugspunkt für die Deutung des Christusgeschehens hervor." In dem schwierigen Text Gal 4,21-31 sind die beiden "Bünde", die mit Hagar und Sara in Verbindung gebracht werden, nicht im Sinne eines Gegeneinander von "altem" Sinaibund und "neuem" Christusbund zu verstehen, sondern sind letztlich "zwei Aspekte jenes Bundes, den Gott mit Israel... geschlossen hat."

Der Abschnitt 2.Kor 3,4-18 war wirkungsgeschichtlich für die christliche Rede vom Bund von großer Bedeutung, weil er auf Grund der sprachlichen Doppeldeutigkeit des griechischen Wortes diatheke, das sowohl mit "Bund" als auch mit "Testament" übersetzt werden kann, indirekt den Anstoß gab für die Bezeichnung der beiden Teile der christlichen Bibel als "Altes" und "Neues Testament": Die Israeliten lesen das "alte Testament" (V.14), während Paulus sich zum "Diener des neuen Bundes" beauftragt weiß (V.6). So wurde dieser Text weithin zum Anlaß für die Vorstellung eines Gegensatzes der beiden Bibelteile zueinander. Der "neue" Bund trägt hier aber deutlich eschatologische Züge, und es kommt auch nicht zu einer unmittelbaren Reflexion auf die Kirche als Volk des Bundes. So bleibt dieser Text "ohne direkten Ertrag für die Ekklesiologie und speziell für die Frage nach dem Modus der Zuordnung der Gemeinschaft der Christusgläubigen zum Bundeshandeln Gottes."

Schließlich bleibt auch der deuteropaulinische Epheserbrief auf der von Paulus vorgezeichneten Grundlinie, "indem er zwar ein positives, sich in heilsgeschichtlicher Kontinuität auf die Kirche hin öffnendes Bundesverständnis vertritt, aber auf eine unmittelbare Wesensbestimmung der Kirche vom Bundesgedanken her verzichtet" (Eph 2,11-18).

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Der Hebräerbrief nimmt eine Sonderstellung ein (2.6). Er enthält eine "schroffe Entgegensetzung zwischen ‚altem‘ (bzw. ‚ersten‘) und ‚neuem‘ Bund". Da man in der Alten Kirche diesen Brief irrtümlich den Briefen des Paulus zugerechnet hat, wurden seine Aussagen "als zentrale Deutungsschlüssel für die Gesamtheit der paulinischen und neutestamentlichen Bundesaussagen herangezogen". Seine Aussagen sind ganz an dem Text vom "Neuen Bund" in Jer 31 orientiert (Hebr 8,1-10,18); die Interpretation ist aber "ausschließlich auf die Ankündigung von Gottes Vergebung (Jer 31,14b) ausgerichtet und damit auf den Bereich des Kultischen konzentriert." "Nirgends bringt der Hebräerbrief das Bundesmotiv in einen Zusammenhang mit dem Kirchenverständnis", und das Miteinander von Juden und Heiden in der Kirche spielt für ihn keine erkennbare Rolle.

Eine neue Sicht ergibt sich, wenn man die Briefüberschrift "An die Hebräer" als Hinweis darauf versteht, daß der Brief an eine mehrheitlich judenchristliche Gemeinde gerichtet ist. Er könnte dann "als Teil einer innerjüdischen Diskussion gelten, in der es um die Einordnung Jesu Christi in die gesamte Glaubensgeschichte des Gottesvolkes geht". Die Überholung des alten Bundes durch den neuen ist dann nicht als Entgegensetzung, sondern als eschatologische Weiterführung zu verstehen. Christus ist der Mittler des seit langem erwarteten neuen Bundes mit seinem Volk.5 "Das Verständnis und die Funktion aller dieser Aussagen mussten sich naturgemäß fundamental ändern, als Heidenchristen den Text lasen und ihn auf sich selbst bzw. auf die Kirche aus Juden und Heiden bezogen – eine Ausweitung, die der Text selbst gar nicht im Blick hatte."

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Schließlich bilden die Stiftungsworte des Abendmahls (oder Herrenmahls) einen weiteren entscheidenden Aspekt der Bundesaussagen des Neuen Testaments (2.7). Nach der Überlieferung hat Jesus sein Blut im Blick auf die bevorstehende Lebenshingabe als "mein Bundesblut" (Mak 14,24; Mt 26,28) oder als "der neue Bund in meinem Blut" (Lk 22,20; 1Kor 11,25) bezeichnet. Darin wird die Aussage vom "Blut des Bundes" beim Bundesschluß am Sinai (2.Mose 24,8) aufgenommen und durch die Wendung vom "neuen Bund" in Jer 31,34 verstärkt. Der Tod Jesu wird damit als ein "dem Sinaibund analoges" endzeitliches Handeln Gottes bezeichnet, dessen sühnende Wirkung über Israel hinausgreift, was in der Aussage von der "Sühne für die Vielen" zum Ausdruck kommt (Mt 26,28; Mk 14,24), mit der auf die Worte vom "Gottesknecht" in Jes 53,11 angespielt wird.

Diese eschatologische Erneuerung des Sinaibundes wird aber nirgends als dessen Ablösung bezeichnet. Vor allem ist dabei auch nicht an eine Aufhebung oder Veränderung des Bundes Gottes mit Israel gedacht; denn der im Abendmahl gestiftete Bund hat keinen menschlichen Partner, mit dem dieser Bund geschlossen würde. "Weder ist ein Bundesschluß mit einer kollektiven Größe ‚Kirche‘ irgendwo erzählerisch dargestellt, noch wird die individuelle Zueignung des Heils und der Eintritt in die neue Gemeinschaft je mit dem Bundesbegriff in Verbindung gebracht. Dies erfährt dadurch seine Bestätigung, dass das Neue Testament die Taufe, in der sich von Anfang an die Aufnahme in die christliche Gemeinde gültig vollzieht, nirgends mit der Bundesthematik in Verbindung bringt....Offenkundig ist nach übergreifendem neutestamentlichen Verständnis der Bundesgedanke an der Christologie und an der Eschatologie orientiert – nicht jedoch an der Ekklesiologie."

"Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten: Kein neutestamentlicher Text verwendet "Bund" direkt als ekklesiologischen Begriff....Eher wird man von einer christologischen und soteriologischen Neuakzentuierung des Bundesgedankens sprechen können." (2.8; zur Fehlentwicklung seit der Zeit der Alten Kirche s.o. bei 2.5.)

Aus der Zusammenfassung (2.9) seien noch einige Sätze zitiert:

"Christen kommen durch Jesus Christus zu dem Gott, der sich unverbrüchlich mit Israel verbündet hat."

"Ein eigener Bund Gottes mit der Völkerwelt bzw. der christlichen Kirche (ist) weder im Alten noch im Neuen Testament belegt."

"Die am biblischen Befund gemachten Beobachtungen sollten zu der Einsicht führen, dass der Begriff ‚Bund‘ keineswegs eine kritische Grenze zwischen Christen und Juden markiert. Die Kirche wird gerade nicht als Gegenbund zu Israel konstituiert."

"Dagegen liegt das Neue im Begriff des ‚neuen Bundes’ sowohl in der Abendmahlstradition wie im Hebräerbrief in der eschatologisch erneuerten Beziehung von vergebendem Gott, Tora und menschlichem Herzen, wie es sich in der Christuserfahrung realisiert."

"Ohne Zweifel dürfen wir uns als Christusgläubige aus den Heiden durch Jesus Christus mit Gott verbunden wissen, und zwar uneingeschränkt und in jeder Hinsicht....Solange Begriffe wie ‚Bund‘ und ‚Neues Testament‘ verwendet werden, um dies auszusagen, sind sie – trotz der damit gegebenen leichten Verschiebung gegenüber dem biblischen Sprachgebrauch – theologisch legitim. Sobald derartige Begriffe aber als theologische Instrumente christlicher Überhebung über Israel missbraucht werden, ist ihnen mit der gesamten biblischen Tradition entgegenzutreten."

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Im Rückblick auf diesen zweiten Teil muß der Berichterstatter mit großer Hochachtung feststellen, daß hier ein ganz wesentliches Stück exegetischer und theologischer Arbeit geleistet worden ist, wodurch viele von den Fragen, die uns in Kirche und Theologie in den vergangenen Jahrzehnten beschäftigt haben, in neues Licht gerückt und einer Klärung nähergebracht werden. Man kann nur hoffen, daß diese wichtige Arbeit an vielen Stellen aufgegriffen wird, damit diese für unser Verständnis des Verhältnisses der Kirche zu Israel und damit für unser eigenes Selbstverständnis so grundlegenden Fragen die ihnen zukommende Beachtung gewinnen und weitere Klärung erfahren.

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Das Thema das dritten Kapitels "Die bleibende Erwählung Israels und der Streit um die Judenmission" ist durch einen eigenartigen Widerspruch gekennzeichnet. Auf der einen Seite kann zu Beginn die bemerkenswerte Feststellung getroffen werden: "Judenmission...gehört heute nicht mehr zu den von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und ihren Gliedkirchen betriebenen oder gar geförderten Arbeitsfeldern." Darin wird in der Tat eine grundlegende Veränderung sichtbar. In der ersten Studie war der letzte Abschnitt "Begegnung und Zeugnis" bis zuletzt umstritten, weil es einigen Mitgliedern des Rates der EKD "undenkbar" erschien, "daß in einem vom Rat gebilligten Text ein Verzicht auf Judenmission auch nur als Möglichkeit genannt werden könnte."6 Deshalb mußte der sorgfältig ausgearbeitete und abgewogene Text umgeschrieben und "entschärft" werden. In der Studie II wird das Thema nur sehr vorsichtig mehr umgangen als behandelt (3.5.2 "Formen der Begegnung von Christen und Juden"). Inzwischen hat sich hier nun tatsächlich ein grundlegender Wandel vollzogen.

Auf der anderen Seite gibt es in den letzten Jahren verstärkte judenmissionarische Aktivitäten "in evangelikalen Kreisen innerhalb und außerhalb der Landeskirchen" sowie in freien Organisationen. Dies hat in den jüdischen Gemeinden "erhebliche Irritationen ausgelöst", weil sie sich "dadurch bei ihrem Bemühen, die neu aus Osteuropa ankommenden Menschen zu integrieren und in den Bereich jüdischer Tradition hineinzuführen, in eine unerträgliche Konkurrenzsituation gedrängt" sehen. "Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat mehrfach in offiziellen Äußerungen zum Ausdruck gebracht, dass er in missionarischen Aktivitäten eine Bedrohung jüdischer Identität und Existenz in Deutschland sieht."

Bei dem Bemühen, sich mit diesem Problem theologisch auseinanderzusetzen, ist nun aber "insgesamt festzustellen, daß dieses Thema bisher nicht ausreichend bearbeitet worden ist" (3.1.4). Darin liegt das eigentlich Widersprüchliche der gegenwärtigen Situation: Judenmission wird von Seiten der Kirche als überholt und abgetan betrachtet, aber es gibt keine ausreichende Klarheit über die Gründe für eine solche Entscheidung. Hier stand also die Studie III vor einem grundsätzlich anderen Problem als bei dem Thema "Bund", bei dem sie an vielfältige Diskussionen und grundlegende Vorstudien anknüpfen konnte. Zudem ist deutlich erkennbar, daß innerhalb der Studienkommission in dieser Frage unterschiedliche Auffassungen bestanden.

Zunächst werden "Biblische Gesichtspunkte" erörtert (3.2). Darin wird ausgeführt, daß Mission "zunächst ein ausschließlich innerjüdischer Vorgang" war (Mt 10,6). Erst im so genannten Apostelkonzil (ca. 48) gelang es Paulus und Barnabas, die Leiter der judenchristlichen Jerusalemer Urgemeinde, Petrus und Jakobus, "davon zu überzeugen, daß auch Menschen aus den Weltvölkern durch die Begegnung mit Jesus...zur Gliedschaft in der Kirche berufen seien" (Gal 2,1-10). Dabei spielte für Paulus "die Erfahrung des weit gehenden Scheiterns der Sammlung Israels im Zeichen des Glaubens an Jesus eine entscheidende Rolle." Aber es bleibt für Paulus unbestritten, daß Israel "aufgrund der ihm von Gott verliehenen Heilsgaben (Röm 9,4f) bleibend erwählt und damit Gottes Volk" ist (11,2).

Nachdem auf dem Apostelkonzil "Heidenchristentum und Judenchristentum grundsätzlich als zwei gleichberechtigte...Ausprägungen christlichen Glaubens anerkannt worden" waren, kam es "bereits in der zweiten und dritten Generation zu einer folgenschweren Verschiebung der Proportionen...Mehr und mehr galt das Heidenchristentum als der Normalfall des Christentums, mit der Folge, dass das Judentum in christlicher Sicht schon bald für die Heidenchristen zu einer fremden und befremdlichen Größe wurde." Bereits "in einigen – um 100 n.Chr. entstandenen – neutestamentlichen Spätschriften (begegnet) eine erstaunliche Israel-Vergessenheit."

Unter "Historischen Gesichtspunkten" (3.3) wird hervorgehoben: "Nachdem...das Christentum Staatsreligion geworden war, bildete sich ein Verhalten heraus, das als christlicher Vormundschaftsanspruch gegenüber dem Judentum bezeichnet werden kann." In der christlichen theologischen Tradition wurde das Verhältnis zwischen Christentum und Judentum "vorwiegend im Sinne einander ausschließender Gegensätzlichkeit verstanden." "Erst nach der Schoa begannen die Kirchen, ihr Verhältnis zu den Juden neu zu bedenken." "Es konnte nicht ausbleiben, dass dabei die Problematik der Judenmission in einem neuen Licht erschien." Im Folgenden werden dann die unterschiedlichen Positionen vorgeführt. Es endet mit der Einsicht, daß wir mit dem Apostel Paulus darauf vertrauen können, "Gott werde sein Volk die Vollendung seines Heils schauen lassen. Es bedarf dazu unseres missionarischen Wirkens nicht."

Es ist sehr enttäuschend, daß die Studie selbst nicht zu einer klar formulierten Absage an die Judenmission durchstößt, wie sie bereits von der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg (1990) und von der Evangelischen Kirche von Westfalen (1999) ausgesprochen worden ist.7

Abschließend werden noch die Begriffe "Zeugnis, Begegnung, Dialog" behandelt (3.4) sowie als Anhang "Judenchristen und ‚Messianische Juden‘" (3.5).

Das vierte Kapitel "Handlungsfelder und Aufgaben von Christen und Juden" greift – allerdings nicht ausdrücklich – den Abschnitt "Gemeinsame Aufgaben" der Studie I (3.5) auf. Er beginnt wiederum mit den Menschenrechten (4.1), führt dann über die durch die ökologische Diskussion gestellte Frage nach der "Bewahrung der Schöpfung" (4.2) zu "Arbeit und Ruhe, Sonntagsheiligung und Sabbatruhe" (4.3). Es folgen "Den Antisemitismus bekämpfen – Minderheiten schützen" (4.4), "Formen des Gedenkens" (4.5) und "Israel – Land und Staat" (4.6). Das Kapitel wird abgeschlossen mit einem Abschnitt "Der christliche Gottesdienst in seinem Verhältnis zum jüdischen Gottesdienst" (4.7), der informatives neueres Material bietet.

Schließlich folgt noch ein fünftes Kapitel "Orientierungen im christlich-jüdischen Gespräch", das wohl als eine erste, recht allgemein gehaltene Einführung in die entsprechenden Themenfelder gedacht ist: Im Schatten von Auschwitz (5.1), Das Alte Testament als Schrift der Christen (5.2), Die Einheit der Bibel (5.3), Sachkritik am Neuen Testament? (5.4), Die Wiederentdeckung der Kapitel 9-11 des Römerbriefs (5.5), Konturen des christlich-jüdischen Gesprächs in der Gegenwart (5.6).

Der letzte Abschnitt "Vor neuen Aufgaben" (5.7) verweist auf das vierte Kapitel zurück und hebt dann die besondere Bedeutung des oben ausführlich behandelten Kapitel 2 zum Thema "Bund" hervor. Allerdings schränkt er die Bedeutung der dort gewonnenen Erkenntnisse wieder ein: "Als Ergebnis von Studie II und dieser Studie kann aber auch festgestellt werden, dass die Suche nach einer biblisch fundierten Formel, mit der sich das Verhältnis zwischen Kirche und Israel treffend beschreiben ließe, bisher zu keiner befriedigenden Lösung geführt hat."

Schade! Man hätte gewünscht, daß die fundierten bibeltheologischen Untersuchungen des zweiten Kapitels von den für die endgültige Gestalt der Studie Verantwortlichen in ihrer Bedeutung stärker gewürdigt und nicht im Nachhinein als "unbefriedigend" hingestellt worden wären! Der Berichterstatter kann die Leser nur erneut auf die wirklich klärenden und weiterführenden Erörterungen dieses Kapitels hinweisen, die in seinen Augen den Wert dieser Studie entscheidend bestimmen.

 

  1. Vgl. dazu R. Rendtorff, Hat denn Gott sein Volk verstoßen? Die evangelische Kirche und das Judentum seit 1945. Ein Kommentar (München 1989), 54ff.
  2. Vgl. R. Rendtorff, Ein Schritt vorwärts, KuI 1.92, 92-98. Die Überschrift des vorliegenden Beitrags knüpft an die damalige an.
  3. E.Zenger, Israel und Kirche im einen Gottesbund? Auf der Suche nach einer für beide akzeptablen Verhältnisbestimmung, KuI 6, 1991, 99-114; R.Rendtorff, Ein gemeinsamer "Bund" für Juden und Christen? Auf der Suche nach einer neuen Bestimmung der christlichen Identität, KuI 9, 1994, 3-8; F.Crüsemann, "Ihnen gehören... die Bundesschlüsse" (Röm 9,4). Die alttestamentliche Bundestheologie und der christlich-jüdische Dialog, ebd., 21-38; E.Zenger, Juden und Christen doch nicht im gemeinsamen Gottesbund? Antwort auf Frank Crüsemann, ebd., 39-52; R.Rendtorff, Israel, die Völker und die Kirche, ebd., 126-137.
  4. Anmerkung R. R.: Es ist aber bemerkenswert, daß das hebräische Wort berit "Bund" niemals im Plural begegnet.
  5. Vgl. dazu jetzt F.Crüsemann, Der neue Bund im Neuen Testament. Erwägungen zum Verständnis des Christusbundes in der Abendmahlstradition und im Hebräerbrief, in: E.Blum (Hrsg.), Mincha. Festgabe für Rolf Rendtorff zum 75.Geburtstag (Neukirchen 2000), 47-59, besd. 53ff. Ich habe hier die Aussagen der Studie III geringfügig um Formulierungen von Crüsemann erweitert, der selbst zu den Verfassern der Studie gehört.
  6. Vgl. Rendtorff, a.a.O. (Anm. 1), 64f.
  7. Vgl. dazu auch: "Judenmission" – Kirche auf dem Prüfstand, KuI 2.98, 180f.

Editorische Anmerkungen

Quelle: Kirche und Israel, Heft 2, 2000, 171-180
© Copyright 2000 Prof. Dr. Rolf Rendtorff