Ein nie gekündigter Bund - Dogmatische Anmerkungen zum Weg vom Vatikanum II bis heute.

Nachfolgend wiedergegebener Vortrag wurde auf der Konferenz "Vom vierten Laterankonzil 1215 zu Nostra Aetate 1965" am 9. November 2015 an der Päpstlichen Lateranuniversität in Rom gehalten.

Nach der ausführlichen historisch-orientierten Darstellung des Weges der katholischen Kirche vom Vierten Laterankonzil bis zur Erklärung Nostra aetate und den Erkenntnissen aus dem biblischen Konzept der Völkerwallfahrt möchte ich einige dogmatische Bemerkungen dazu machen, wie der Weg weiterging und wie die katholische Kirche heute ihr Verhältnis zu Israel, zum Judentum sieht. Ich werde alles, der Kürze der Zeit wegen, nur in groben Strichen zeichnen können, aber versuchen, vier wesentliche Punkte sichtbar zu  machen: 1. Wie ging der Weg nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil weiter? 2. Welche Probleme sind für uns auf diesem Weg sichtbar? 3. verweise ich auf einen herausragenden Text der nachkonziliaren Lehre und 4. wenden wir die Beobachtungen auf eine aktuelle Frage der Kirche an.

1. Wie ging der Weg nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil weiter?

Nostra aetate ist viel gelobt, aber auch viel kritisiert worden. Aus der Perspektive von 2015 scheint besonders der Text über das Judentum allzu zurückhaltend, vorsichtig und relativierend, weil er das Judentum in eine Phänomonologie der Religionen einreiht, die entlang der Gotteslehre quasi Verwandtschaftsbeziehungen beschreibt. Sie reichen von den am weitesten entfernten Religionen des Hinduismus und Buddhismus zu den näheren Verwandten, den monotheistisch glaubenden Muslimen bis zum Judentum mit dem gemeinsamen geistlichen Erbe. Die Religionen selbst wie auch der Platz des Judentums sind sicher nicht befriedigend beschrieben, dennoch ist von allen Beobachtern, besonders während des Konzils und in der unmittelbaren Zeit danach die überragende Bedeutung von Nostra aetate als einer echten Zäsur und als ein wirklicher Fortschritt in der Lehre der Kirche gewürdigt worden.

Es ist ein Dokument, das gegen enorme Widerstände, und wie Papst Benedikt XVI. in seiner letzten großen Ansprache als Papst sagte, „ganz unerwartet“ und neben den großen Texten des Konzils herangewachsen ist.[1] Bei aller Kritik muß man sich in Erinnerung rufen, wie groß die Widerstände und wie eindeutig die Reaktionen besonders der jüdischen Beobachter waren. In einer Ausstellung über das Zweite Vatikanische Konzil, die zur Zeit auch hier in Rom im Campo Santo Teutonico gezeigt wird, kann man noch eine Kopie des Telegramms sehen, das Nahum Goldmann, der damalige Präsident des Jüdischen Weltkongresses an Kardinal Augustin Bea geschickt hatte, wo dieser von einem „bedeutsame(n) moralische(n) Sieg der überwältigenden Mehrheit der Konzilsväter“[2] sprach.

Besonders Johannes Oesterreicher, einer der wichtigsten Mitarbeiter von Kardinal Bea, betonte immer wieder, daß die Erklärung über das Judentum nicht in ein Dekret über die nichtchristlichen Religionen verwässert worden sei; vielmehr – so seine Argumentation – wurde der Diskussion um das Verhältnis der Kirche zum Judentum ein umfassenderer Charakter gegeben, sodaß der neue Geist der Begegnung sich über das Judentum hinaus auf alle Nichtchristen erstrecken konnte. Die Erklärung unterstreicht so – praktisch als ungewollten Nebeneffekt des großen Widerstandes gegen eine Erklärung zum Judentum – die Singularität Israels, die um der Universalität willen da ist. „Auf diese Weise“, so sagt Oesterreicher, „hat die ‚Judenerklärung’ eine Dimension angenommen, die weit über die ihr ursprünglich zugemessene Bedeutung hinausgeht. Sie bewies ihre Fruchtbarkeit, indem sie zum Kernpunkt wurde, um den sich alt-neue Einsichten und Aussagen sammeln konnten.“ Die Aussagen zum Judentum bilden nun, wie Oesterreicher etwas poetisch sagt, „die Sonne des Gesamtdokumentes“[3]; oder, mit den Worten Kardinal Beas: „Aus dem Samen – der kurzen Aussage über die rechte Haltung der Christen zum jüdischen Volk – war ein Baum geworden, auf dem viele Vögel nisten.“[4]

Fünfzig Jahre danach kann man feststellen, daß sowohl die theologische Forschung als auch das Lehramt der Kirche die Bedeutung dieses Textes erkannten. So wurde Nostra aetate in verschiedener Weise aufgenommen und fortgeführt. Das, was wir heute an Einsichten der katholischen Kirche in das Verhältnis zum Judentum kennen, steht zwar so nicht im Text von Nostra aetate, aber ohne diese Erklärung wären die Weiterentwicklungen nicht möglich gewesen.

Ich greife als Beispiele den Katechismus der Katholischen Kirche von 1992, das Dokument der Päpstliche Bibelkommission „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“ (1993) und den Text derselben Kommission „Das jüdische Volk und seine heilige Schrift in der christlichen Bibel“ (2001) heraus. Bedeutsam sind in diesen Texten die Fortschritte in Bezug auf die Sicht des Alten Testaments und des Judentums nach Jesus. Während man in der Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts vom Judentum zur Zeit Jesu noch als „Spätjudentum“ sprach, so als ob danach nichts mehr gekommen wäre, wird in diesen Dokumenten zum ersten Mal die rabbinische Exegese als solche und die Schriftauslegung des Mittelalters und der Neuzeit gewürdigt.

Zu nennen wären noch – neben etlichen anderen Äußerungen – die Ansprachen der Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. bei ihren Besuchen in den Synagogen von Rom und Köln sowie bei den Besuchen des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz. Begleitet wurde diese ständige theologische Vertiefung durch konkrete Hinweise und Hilfen, so zum Beispiel durch die „Richtlinien und Hinweise für die Durchführung der Konzilserklärung Nostra aetate, Nr. 4“[5] und das Dokument der Kommission für die religiösen Beziehungen mit den Juden „Darstellung von Juden und Judentum in der Predigt und in der Katechese der katholischen Kirche“ von 1985.

Darüberhinaus erscheinen mir zwei Beobachtungen wichtig:

a. Gerade diese beiden Texte zeigen, daß das Problem nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil nicht mehr in der Lehre der Katholischen Kirche liegt, sondern in der mangelnden Rezeption bzw. in einer mehr oder weniger offenen Resistenz gegen die Einsichten und die Lehre von Nostra aetate. Man darf sich selbst bei einem solchen Jubiläum nicht darüber hinweg täuschen, daß sich auch unter Theologen, Bischöfen und Priestern bis in unsere Tage antijüdische Klischees gehalten haben und verbreitet werden. Und:

b. Man darf auch nicht meinen, daß Nostra aetate der Kirche in den Schoß gefallen sei, so als sei sie quasi nach intensivem Nachdenken zu neuen Einsichten gekommen. Immer wieder wird deswegen – zurecht – darauf verwiesen, daß erst die Shoa der Kirche die Augen geöffnet hat. Ich würde fünf Personen nennen, die in besonderer Weise mit Nostra aetate und der Entwicklung danach verbunden sind (auch wenn noch weitere genannt werden könnten): Papst Johannes XXIII., Jules Isaac, Kardinal Augustin Bea, Johannes Oesterreicher und Kardinal Jean Marie Lustiger. Johannes XXIII. hatte persönliche Erfahrungen mit dem Schicksal der Juden gemacht, als er von 1935 bis 1944 Apostolischer Delegat in der Türkei war; „sein Herz war vorbereitet gewesen für eine neue Zuwendung zu den Juden“, wie Kardinal Koch in einem Vortrag im Juni sagte. Augustin Bea war durch seine wissenschaftliche Tätigkeit qualifiziert. Drei dieser fünf Personen kamen aus dem Judentum selbst: Isaac und die Konvertiten Oesterreicher und Lustiger. Jules Isaac gab Johannes XXIII. in einer Audienz 1960 den entscheidenden Anstoß zu einer Erklärung zum Judentum; Johannes Oesterreicher wurde wichtigster Mitarbeiter von Kardinal Bea; Jean Marie Lustiger wurde ein großer Promotor des jüdisch-christlichen Gesprächs. Wir sollten nicht vergessen, daß Jules Isaacs Frau und seine Tochter in der Shoa ermordet wurden; auch Lustigers Mutter wurde in Auschwitz umgebracht. Wenn wir heute an Nostra aetate dankbar erinnern, darf man diese unerwartbare und unverdiente Großmut nicht vergessen, die der Kirche entscheidend geholfen hat, ihren Weg zu finden.[6]

2. Welche Probleme sind für uns auf diesem Weg sichtbar?

In wenigen Worten möchte ich in einem zweiten Punkt auf eine Gefahr hinweisen, die sich nach Nostra aetate in der Kirche zeigte. Nicht allen war die Genese von Nostra aetate bewußt, das heißt: nicht allen war klar, daß im Zentrum der Erklärung zu den nichtchristlichen Religionen die Aussagen zum Judentum stehen, und daß dieser Teil auch inhaltlich die Mitte bildet und sich die Sicht auf die anderen Religionen von diesem Punkt aus ergibt. Das Verhältnis zum Judentum ist einzigartig, und der Dialog mit den Juden kann mit keinem anderen Gespräch mit Religionen verglichen werden. Die Freude über die Wiederentdeckung der jüdischen Wurzel darf nicht zu dem oberflächlichen Konzept eines Religionsdialogs unter anderen verfälscht werden.

Wie leicht das passiert, sieht man an der Rede von den drei „abrahamitischen Religionen“ Judentum, Christentum und Islam. Die Deutung der Gestalt Abrahams im Koran und die Folgerungen, die der Islam daraus zieht, sind so verschieden von der Darstellung im Alten Testament, die auch für die Christen gilt, daß man wirklich nur contra factum eine Übereinstimmung behaupten kann. Nicht weniger problematisch ist eine romantisierende Annäherung an jüdische Gebräuche wie z.B. der Imitierung von Sederfeiern in christlichen Gemeinden. Das Judentum ist für uns keine fremdländische Religion, kein aussterbendes Volkstum, das man schützen müßte, „kein Indianerreservat, das man unterhält, um sagen zu können: ‚Schaut hin, so lebten sie früher…‘“

3. Ein herausragender Text der nachkonziliaren Lehre

Ich möchte in einem dritten Teil den vielleicht bemerkenswertesten Text vorstellen, den wir als Folge von Nostra aetate in der Lehre der Kirche finden. Auffällig ist, daß dieser Text – ein Kapitel aus dem Katechismus der Katholischen Kirche von 1992 – nie erwähnt wird, wenn über das Verhältnis von Judentum und Christentum, von Israel und Kirche, nachgedacht wird. Der Grund ist einfach: Dieser Artikel des Katechismus gebraucht nicht das übliche Vokabular, um etwas über das Verhältnis Judentum-Christentum zu sagen. Er redet eine andere Sprache. Er steht im Abschnitt über die Kindheit Jesu und spricht über die Epiphanie. Ich zitiere:

„Die Epiphanie [Erscheinung des Herrn] ist die Offenbarung Jesu als Messias Israels, als Sohn Gottes und Erlöser der Welt bei seiner Taufe im Jordan, bei der Hochzeit von Kana und bei der Anbetung Jesu durch die ,,Sterndeuter aus dem Osten" (Mt 2, 1) [Vgl. LH, Antiphonen vom Benedictus der Laudes und vom Magnificat der 2. Vesper von Epiphanie.]. In diesen ,,Weisen", den Vertretern der heidnischen Religionen der Umwelt, sieht das Evangelium die Erstlinge der Nationen, welche die frohe Botschaft vom Heilsereignis der Menschwerdung empfangen. Daß die Weisen nach Jerusalem kommen, ,,um [dem König der Juden] zu huldigen" (Mt 2,2), zeigt, daß sie im messianischen Licht des Davidsterns [Vgl. Num 24,17; Offb 22,16.] in Israel nach dem suchen, der König der Völker sein wird [Vgl. Num 24, 17-19.]. Ihr Kommen bedeutet, daß die Heiden nur dann Jesus entdecken und ihn als Sohn Gottes und Heiland der Welt anbeten können, wenn sie sich an die Juden wenden [Vgl. Joh 4,22.]und von ihnen die messianische Verheißung empfangen, wie sie im Alten Testament enthalten ist [Vgl. Mt 2,4-6.]. Die Epiphanie bekundet, daß ,,alle Heiden in die Familie der Patriarchen eintreten" (Leo d. Gr., serm. 23) und die ,,Würde Israels" erhalten sollen (MR, Osternacht 26: Gebet nach der 3. Lesung).“

Dieser außergewöhnliche Text geht auf den Dominikanerpater Jean-Miguel Garrigues zurück, der eng mit Kardinal Schönborn, dem Redakteur der Kommission für den Katechismus, zusammenarbeitete. Père Garrigues, der heute in Toulouse lebt, gehörte der Glaubenskongregation an. Er kann wohl zu Recht als der Vater dieses Textes gelten, da es sein Gedanke war, am Text über die Epiphanie etwas zum Verhältnis der Heiden zu Israel zu sagen.[7] Nachdem der Text vorlag, gab es keine wichtigen Einwände oder Änderungsvorschläge, weder in der Kardinalskommission für den Katechismus noch von Kardinal Ratzinger, noch von Papst Johannes Paul II.

Im Text selber fallen die starken Bezüge zum Alten Testament und zur Liturgie der Osternacht auf. Kernsatz des ganzen Abschnitts ist sicher die Deutung:

„Ihr [d.h. der Magier] Kommen bedeutet, daß die Heiden nur dann Jesus entdecken und ihn als Sohn Gottes und Heiland der Welt anbeten können, wenn sie sich an die Juden wenden und von ihnen die messianische Verheißung empfangen, wie sie im Alten Testament enthalten ist.“

Joseph Ratzinger hat 1994 die Bedeutung dieser Aussage während einer Konferenz in Jerusalem unterstrichen, wenn er sagt: „Die Sendung Jesu besteht demnach darin, die Geschichten der Völker zusammenzuführen in die Gemeinschaft der Geschichte Abrahams, der Geschichte Israels.“[8] Auch hier wird deutlich: Es geht nicht um den Dialog von Religionen, sondern um die Frage, was das Christentum sei. Der Katechismus spricht hier von dem, was der Auftrag Jesu war und die Aufgabe der Christen ist. Es ist weder von einem Religionsgespräch, noch von zwei Völkern die Rede, die zusammen das Volk Gottes bilden würden. Es ist vielmehr davon die Rede, daß die Völker sich quasi in die Geschichte Israels „einklinken“ müssen. Das „Zuerst“ oder – wie Ratzinger sagt – die „besondere Stellung Israels“ bleiben immer bestehen. Der ganze Text, so der damalige Kardinal, sei „ein Lehrstück über das Verhältnis von Weltreligionen, Glauben Israels und Sendung Jesu“.[9] 

Gerade an diesem Punkt sieht man auch die theologische Bedeutung der Liturgie, die nirgends von zwei Völkern spricht, sondern von dem einen Volk, nicht von Verbundenheit, sondern von Identität: In der Osternacht, deren Texte in Nr. 528 zitiert werden, spricht die Liturgie davon, dass in dieser Nacht Gott „unsere Väter, die Kinder Israels“, trockenen Fußes durch das Rote Meer geführt hat.[10] „Volk Gottes werden“ bedeutet von dieser Stelle des Katechismus der Kirche her nicht: zwei Völker werden eines, oder viele Heidenvölker tun sich mit dem Volk Israel zusammen, sondern: in die Familie Abrahams, Isaaks und Jakobs eintreten. In christologischer Perspektive bedeutet es sogar zugespitzt: Daß die Nichtjuden Jesus als Sohn Gottes nur dann erkennen können, wenn sie sich an die Juden wenden.

Für jüdische Ohren mag das nicht weniger paradox klingen als es für christliche ist: Christologie kann man nur entfalten, wenn man vom Jüdischen her denkt. Dieses Ergebnis ist in gewissem Sinn auch nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, daß die wichtigsten christologischen Aussagen der Kirche, also die Ausformulierung des Bekenntnisses zu Jesus von Nazareth als dem Christus und Sohn Gottes in den ersten Jahrzehnten nach seinem Tod ausschließlich von gläubigen Juden formuliert wurden, die zudem behaupteten, damit das Judentum und seinen Monotheismus nicht zu verlassen.[11]

4. Ein Blick auf eine aktuelle Frage der Kirche

Anschließend möchte ich wenigstens kurz ein Problemfeld nennen, auf dem unser kleiner Text eine entscheidende Rolle spielen kann: die Frage nach der Einzigartigkeit der biblischen Offenbarung und der Einzigartigkeit des Gottesvolkes, Israels und der Kirche. Diese Frage ist heute im Zusammenhang des sogenannten Pluralismus der Religionen virulent.

Der Religionspluralismus behauptet letztlich, daß der Mensch die Frage nach der Wahrheit der Religionen gar nicht beantworten könne, daß der Mensch immer nur Bruchstücke der Wahrheit sehen können, jene Stücke, die sich über alle Religionen und Weltanschauungen verteilt haben. Diese Auffassung hat sich auch in der Kirche und ihrer Theologie breit gemacht. Für die Person Jesu bedeutet sie, daß die Größe Jesu zwar anerkannt wird, aber er doch als einer unter vielen neben andere Religionsstifter und Lehrer der Menschheit eingereiht ist. Meine These, die ich hier mehr behaupten muß, als daß ich sie wirklich ausführen und begründen kann, lautet: Ohne diese Sicht des Judentums, die vorher entfaltet wurde, kann der christliche Glaube keine wirklich inhaltliche Antwort auf diese Herausforderung finden. An der Frage, ob wir das Alte Testament als Quelle unseres Glaubens und Israel im Zentrum der Heilsgeschichte sehen, entscheidet sich, ob wir dieser modernen Häresie verfallen oder ob wir unseren Glauben bewahren.[12] Jean Marie Lustiger, bis 2005 Erzbischof von Paris, sah in der Magiergeschichte in Mt 2 zugleich Verheißung und Warnung für die Christen. Er schreibt dazu:

„Die Heiden – selbst wenn sie Christen geworden sind – sind ständig versucht, die Sonderheit der Heilsgeschichte und der Auserwählung zu leugnen. Sie neigen dazu, Jesus zur bloßen Projektion des idealen Menschen zu machen, den jede Kultur und jede Zivilisation trägt. Das ist die unverblümte Methode, Gott auf die Gestalt des Menschen zu reduzieren, anders gesagt, sich selbst anzubeten und einem Götzendienst zu huldigen. Jede christlich gewordene Kultur läuft womöglich Gefahr, aus Jesus ihren Apollo zu machen und ihr eigenes Menschenbild auf ihn zu projizieren, um sich darin zu gefallen.

Christus selbst, die Gestalt Christi in ihrer Wirklichkeit, kann jedes Gesicht der Menschheit annehmen, aber er kann dies nur, weil er vor allem anderen der in Bethlehem in Judäa Geborene ist. Ein Satz aus dem Matthäusevangelium verschafft uns Klarheit: Die Sterndeuter, selbst Heiden, kommen und fragen: ‚Wo ist der König der Juden?‘ Sie suchen und sie finden die Antwort in der Schrift der Juden: ‚In Bethlehem in Judäa.‘ Nirgends sonst. Er ist es, nicht ‚ein‘ Kind, sondern ‚dieses‘ Kind.“[13]

Was Jean Marie Lustiger hier beschrieben hat, kann man in vielen Variationen in der Theologie beobachten. Wenn man die Konkretheit der Geschichte Gottes mit Israel vergißt oder leugnet, gelangt man mit innerer Konsequenz zum Credo der pluralistischen Religionstheologie gehört: Gott begegnet uns nicht definitiv in der Geschichte Israels und in der Kirche, sondern überall, auf den Bergen, in den Quellen, in Ekstase und privater Versenkung; die Geschichte seiner Offenbarung ist dann nicht mit dem Jordan verbunden, so ebenso und in gleicher Gültigkeit mit dem Indus, dem Nil oder dem Amazonas; das Zeugnis seiner Mitteilung finden wir dann nicht nur in der Bibel, sondern ebenso und in gleicher Gültigkeit im Koran, in den Upanishaden und dem heiligen Wissen der Indianer.

Die Loslösung von der jüdischen Wurzel führt nicht nur zu einer Einebnung des spezifisch Christlichen, sondern auch zu einer Auflösung der Offenbarung in eine Wellnessreligion, die den Maßstab nicht mehr in dem sucht, was wahr, was gut und böse, sondern was plausibel, angenehm und akzeptabel ist. Sie macht, wie Jean Marie Lustiger richtig sah, „Jesus [zu] ihrem Apollo“.

Der Katechismus und mit ihm die ganze authentische Überlieferung weisen in eine andere Richtung. Freilich reicht es nicht mehr, nur formal die Einzigartigkeit der biblischen Offenbarung zu behaupten. Angesichts der vielen möglichen Wege der Religionen und Kulturen müssen Christen und Juden zeigen können, worin diese Einmaligkeit besteht:

Ich will es mit vier Stichworten andeuten:

1. Israel, seinem geschichtlichen Weg und seiner Reflexion verdanken wir die Unterscheidung zwischen Gott und Welt, welche, wie man sagt, die Welt „entzauberte“ und erst so die moderne Welt ermöglichte.

2. Das biblische Volk Israel verstand immer deutlicher, daß dem Menschen die ganze Verantwortung für die Welt in die Hände gelegt ist, daß er den Garten in den er gestellt ist, bebauen muß (vgl. Gen 2,15), daß er die Verantwortung auf keine Götter, keinen Gott und kein Schicksal abwälzen kann,

3. Dieser religionskritische Prozeß, der die Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf voraussetzt, bedeutet in der Konsequenz, daß es für alle Menschen, eine gleiche Würde gibt und keiner Gott und Herr über die anderen spielen darf.

4. Die Einsicht in die Natur des Menschen als Geschöpf lehrte Israel, daß vernünftigste Weg, in der Welt zu sein, ein freiwilliger gemeinschaftlicher Weg ist, der Weg eines Volkes, des Volkes Gottes.

Das sind vielleicht die essentials, mit denen Juden und Christen in der Welt operieren können, Elemente des Propriums biblischer Offenbarung, das man nicht nur formal behaupten kann, sondern inhaltlich zeigen und als real erweisen muß. Dies ist alles in Kürze angedeutet; aber man sieht dennoch, was die Christen verloren hatten und was noch wiederzufinden ist. Nostra aetate ist einer der Basistexte, ein großes Ausrufezeichen, das die Kirche im authentischen Glauben des Anfangs hält. Daß man dies heute so sehen kann, steht am Ende eines langen Weges, dessen Stationen wir mit dem IV. Laterankonzil und der Erklärung Nostra aetate des Vatikanum II umschrieben haben. Genau genommen ist es nicht der Schlußpunkt einer Erkenntnis, sondern erst ein Anfang.

 

[1] Vgl. Benedikt XVI., Ansprache bei der Begegnung mit der Klerus der Diözese Rom am 14. Februar 2013; in: AAS 105 (2013), 283-294; 292.

[2] Zit. in: Erneuerung in Christus. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) in Dokumenten, Fotos und Texten. Begleitheft zur Ausstellung in der Kirche Santa Maria della Pietà Vatikanstadt, Regensburg 2015, 40.

[3] Zit. in: Erneuerung in Christus 40.

[4] Ebd.

[5] Veröffentlicht u.a. in Freiburger Rundbrief 26 (1974) 3–5.

[6] J. M. Lustiger, Gotteswahl. Gespräche mit Jean-Louis Missika und Dominique Wolton, aus dem Frz. übers. v. Thorsten Schmidt, München 1992, 101.

[7] So jedenfalls äußerte sich P. Garrigues am 14. Juli 2015 in einer Mail an den Verf.: « Le n°528 sur l’Épiphanie m'a semblé un lieu significatif pour exprimer la référence des païens à Israël dans le peuple de Dieu et j'ai repris la rédaction épiscopale dans ce sens. »

[8] J. Ratzinger, Israel, die Kirche und die Welt, in: JRGS 8/2, 1081-1098; 1085.

[9] Ebd.

[10] Vgl. R. Spaemann, Gott ist kein Bigamist, in: FAZ Nr. 91, 20. Aprilc2009, S. 29.

[11] Vgl. M. Hengel, Der Sohn Gottes. Die Entstehung der Christologie und die jüdisch-hellenistische Religionsgeschichte, Tübingen 21977, 9-11.

[12] Vgl. J. M. Lustiger, Die Verheißung. Vom Alten zum Neuen Bund, Augsburg 2003, 207.

[13] J. M. Lustiger, Gotteswahl 77 f.

Editorische Anmerkungen

* Prof. Dr. Achim Buckenmaier, Studium der katholischen Theologie in Freiburg i.Br. und Paris; 1985 Priesterweihe; 1994 Promotion in Dogmatik; 2009 Habilitation; seitdem Direktor der Akademie für die Theologie des Volkes Gottes an der Päpstlichen Lateranuniversität in Rom.