Ein Haus gegen den Tod

Vortrag zur Woche der Brüderlichkeit 2002 des Deutschen KoordinierungsRates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Prof. Dr. Metz ist einer der Preisträger der Buber-Rosenzweig Medaille dieses Jahres.

Johann Baptist Metz

Ein Haus gegen den Tod

Schon in den siebziger Jahren wurde ich gelegentlich gefragt, wie ich denn bei meinen Versuchen, den Schrecken von Auschwitz im Zentrum der christlichen Theologie zu verankern, zu Staat und Politik Israels stehe. Ich sprach (und schrieb) davon, dass für mich Israel – jenseits von Zionismus und Antizionismus – der Staat sei, der aus einer Katastrophe, der aus der Shoah geboren ist, sozusagen als „Haus gegen den Tod“, gegen jenen Tod, den Nazideutschland für alle, ja, für alle Juden in Europa vorgesehen und verordnet hatte, von Rhodos bis Narvik, von den Pyrenäen bis zum Ural, um das jüdische Volk auszulöschen und Europa zum Friedhof der Juden zu machen.

Israel – ein Staat als Haus gegen den Tod. Der Schrecken des 11. September hat diese „Definition“ Israels in mir wieder wachgerufen. Dieser Terrorismus des 11. September zielt nicht nur auf die USA, er zielt, wie wir betonen, auf unsere gesamte westliche Zivilisation, er zielt, wie von seinen islamistischen Wortführern ungeniert eingestanden, auch auf Israel – und zwar nicht, um endlich eine friedliche Nahostlösung zu erzwingen, eine friedliche Koexistenz zwischen Israel und den Palästinensern, nicht, um neben Israel einen Staat als Haus für die Palästinenser zu errichten, sondern um Israel zu zerstören. So ähnlich sieht und sagt es auch der deutsche Außenminister.

Im Interesse am Lebensrecht des jüdischen Volkes, im Eintreten für das Existenzrecht des Staates Israel dürfen gerade wir Deutsche uns von niemandem übertreffen lassen. Diese Forderung bedeutet nicht kritiklose Affirmation der Politik Israels; pauschale Suspension von Kritik wäre hier eher eine Art Solidaritätsentzug und enthielte (wie so manch anderer vager Philosemitismus) schon wieder den Keim zu neuem antisemitischen Denken. Diese „besondere“ Treue zu Israel verlangt nicht, dass wir das Leid der Palästinenser vergessen und dass wir uns ihrem Streben nach einem eigenen Staat verschließen. Aber sie verlangt von uns Verständnis und Unterstützung für das „besondere“ Sicherheitsbedürfnis Israels in diesen Zeiten des Terrors, verlangt Verständnis und Unterstützung dafür, dass der Staat Israel, gebaut als Haus gegen den Tod aus Deutschland, nicht von einem zweiten Tod heimgesucht und zerstört werde. Und sie verlangt unsere Aufmerksamkeit für die Angst, die inzwischen unter den Juden in Israel umgeht. Während ich diesen kleinen Text skizziere, lese ich in einem „Israelitischen Tagebuch“ des Jerusalemer Schriftstellers David Grossman unter dem 15. Oktober dieses Jahres: „Ich habe große Kritik an Israels Verhalten, aber in den letzten Wochen spüre ich, dass sich die Feindseligkeit in den Medien nicht nur aus dem Verhalten der Scharon-Regierung speist. Der Mensch spürt so was tief drinnen, subkutan. Ich empfinde es als leises Vibrieren, das bis in meine archaischsten Gedächtniszellen einsickert, bis in die Zeiten, in denen der Jude nicht als Mensch von Fleisch und Blut galt, sondern immer als Sinnbild für etwas anderes herhalten musste, als Exempel oder haarsträubende Metapher. >Sie stellen also fest<, sagte gestern der Moderator am Schluss eines BBC-Programms zu einem arabischen Interviewgast, >dass Israel der Grund für das Unheil ist, das die Welt heute vergiftet. Ich wünsche allen Zuschauern einen guten Abend.“<

Gedankenlosigkeit oder Zynismus des BBC-Moderators? Womöglich ein Beispiel dafür, wie todbringende alte Klischees sich wieder häufen? Wie sich Israelfeindlichkeit als Judenfeindlichkeit enttarnt? Wie auch immer, Angst erzeugen solche Erfahrungen unter den Juden in Israel allemal. Doch da ist auch eine befreiende Alternative zu dieser Angst: das Wagnis neuer Schritte zum Frieden. Nie waren sie wichtiger als heute. Ein neu in Gang gesetzter Friedensprozess im Nahen Osten könnte zudem zur überzeugendsten Offensive gegenüber dem globalen Terror werden. Er verdient deshalb alle Aufmerksamkeit und Unterstützung, alle internationale Bereitschaft, die beiden Konfliktpartner nicht allein zu lassen, wenn sie in der Verzweiflung über die Möglichkeit des Friedens endgültig zu verhärten drohen.

Ich weiß für diese exemplarischen Schritte zum Frieden immer noch keinen anderen Weg als den, den Rabin und Arafat einschlagen wollten, als sie 1993 in Washington erstmals einander die Hand reichten und sich gegenseitig versicherten, dass sie künftig nicht nur auf die eigenen Leiden schauen wollten, auf die Leiden des eigenen Volkes, sondern dass sie bereit seien, auch die Leiden der anderen, die Leiden der bisherigen Feinde nicht zu vergessen und bei ihrem eigenen politischen Handeln in Betracht zu ziehen. Das spiegelt den Geist einer neuen Friedenspolitik in der globalisierten Welt. Dieser Geist rührt schließlich an ein urbiblisches Motiv, er verpflichtet auf jene Compassion, die allein alle elementaren Verfeindungszwänge bricht.

Dieser Geist der Compassion ist meines Erachtens von entscheidender Bedeutung in der neuen Situation seit dem 11. September, in der sich Kultur- und Sozialkämpfe weltweit überlagern. Er würde den Westen über die militärische Abwehr des Terrorismus hinaus dazu nötigen, sich nicht nur mit den eigenen Augen, sondern auch mit den Augen der anderen, mit den Augen der „übrigen“ Welt zu sehen und zu schätzen; und er würde unser strikt säkulares Freiheitsdenken und unsere säkularisierte Art zu leben schließlich dazu zwingen, dass wir uns – wie vordem der so genannten „Dialektik der Aufklärung“ – nun auch der kaum entdeckten Dialektik der Säkularisierung stellen.

 

Editorische Anmerkungen

Quelle: Deutscher KoordinierungsRat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit.