1. Meine Visitenkarte: Ich bin ein evangelischer Katholik mit jüdischen Freunden
Von Geblüt und Gemüt bin ich Rheinländer: lebensfroh und unternehmungslustig, diskussionsfreudig und kritisch, mit spöttischer Ironie begabt. Das verdanke ich vor allem meiner Familie und meiner Schule, dem von Jesuiten geführten Aloisiuskolleg in Bad Godesberg. Zu Beginn des Krieges als erstes von fünf Kindern geboren, erlebte ich eine unbeschwerte Kindheit und Jugend. Glaube und kirchliche Praxis waren selbstverständlich, freche Kritik an manchen kirchlichen Zuständen und verrückten Glaubenslehren ebenfalls. Doch meine heile Welt war engstirnig, total provinziell. Nie hatte ich mit einem Ausländer oder einem Evangelischen gesprochen, für unsere heißen Diskussionen über den Mord an den Juden fanden wir keinen einzigen erwachsenen Gesprächspartner.
Das änderte sich schlagartig 1959 mit dem Beginn meines Theologiestudiums in Rom. Erstmals mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil tat sich mir die Welt auf. Als Theologiestudent im Germanicum konnte ich das Konzilsgeschehen aus unmittelbarer Nähe miterleben. Die ganze Welt war damals in Rom versammelt, auch Gott und der Teufel waren sichtlich und im Untergrund am Werk. Dort erlebte ich in Vorträgen berühmte evangelische Theologen oder die Brüder von Taizé, die ebenfalls Konzilsberater waren. Sie beeindruckten mich nicht weniger als die drei berühmten Gäste unseres Kollegs: Kardinal Julius Döpfner, einer der Moderatoren des Konzils, und als Konzilsberater die Professoren Karl Rahner und Hans Küng.
Schon bald hatte ich die „Lehre der Verachtung“ gegenüber den Evangelischen überwunden: Sie sind für mich „Kirche im eigentlichen Sinn“, wenngleich Kirche anderer Art als die katholische. Ich machte die überraschende Entdeckung: Das bleibende Ärgernis der westlichen Kirchenspaltung hat Gott in unserer Zeit auch zu einer Gnade werden lassen: Gottes Geist weckte ökumenische Leidenschaft und wechselseitige fruchtbare Ergänzung. Die evangelische Stimme Gottes ließ die katholische Kirche aufhorchen und hat wesentlich zu ihrer Erneuerung beigetragen, vor allem durch die Wertschätzung des Wortes Gottes, das in meinem Religionsunterricht und unserer Liturgie keine Rolle spielte. Das hat mich verändert: Solange ich heute für eine kirchliche Lehre oder Weisung nicht die biblische Grundlage entdecke, traue ich ihr nicht, bin ich nicht überzeugt. Darum verstehe ich mich als evangelischer Katholik.
Noch aufregender waren für mich die heftigen Debatten und die abenteuerlichen Manöver auf dem Weg zur „Judenerklärung“ des Konzils, meist als Nostra aetate 4 zitiert. Es ist das kürzeste (nur 15 lateinische Sätze) und mutigste Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils, stellt es doch eine radikale Kehrtwende der Haltung der Kirche zu den Juden dar. Sie war auch die am meisten umstrittene Erklärung, die – freilich um den Preis etlicher Kompromisse – mit 96 % Ja-Stimmen verabschiedet wurde. Gut kann ich mich an Kardinal Agustin Bea und andere Protagonisten der Judenerklärung erinnern, die wir zu Vorträgen und Gesprächen ins Kolleg eingeladen hatten. Doch an eine unmittelbare Begegnung mit Juden, die als Gäste zum Konzil eingeladen und dort eine wesentliche Rolle gespielt hatten, kann ich mich nicht erinnern.
Prof. Michael Signer, ein liberaler Rabbiner aus den USA, wurde mein engster jüdischer Freund und bester Gesprächspartner. Viele Jahre haben wir tage- und nächtelang auf Spaziergängen, bei unseren internationalen jüdisch-christlichen Seminaren und anderen Gelegenheiten theologische, politische und existenzielle Fragen erörtert. Bis zu seinem frühen Tod im Jahr 2009 war er auch aktives Mitglied unseres Gesprächskreises. Nicht nur einmal beglückwünschte er mich: „Du hast jüdische Freunde, das unterscheidet dich von den meisten deiner Kollegen.“ Mit solchen Freunden bin ich seit 1971 in unserem Gesprächskreis und darüber hinaus im intensiven Gespräch und lerne aus ihren ungeschützten Worten und Gesten, was mir in den meist sorgsam abgesicherten Formulierungen der Literatur nicht auffällt. Auch gegenüber den Juden habe ich die „Lehre der Verachtung“ überwunden und verdanke ihnen eine Tiefendimension meiner christlichen Identität, die ohne die jüdischen Wurzeln ein Torso wäre.
Ökumenischer Dialog und noch radikaler christlich-jüdischer Dialog gehören laut Zweitem Vatikanischen Konzil unverzichtbar zu einem Katholiken ohne Scheuklappen, sie gehören zu seiner Identität.
Ich bin stolz auf unseren Gesprächskreis, der einzigartig auf der Welt ist, und ich bin dem Deutschen Koordinierungsrat besonders dankbar dafür, dass mir zusammen mit dem Gesprächskreis die hohe Auszeichnung der Buber- Rosenzweig-Medaille verliehen wird. So habe ich diese Ansprache zwar selbst, aber nicht allein konzipiert: Meine Ideen haben wir im Gesprächskreis diskutiert. Übrigens haben aus unserem Kreis bereits vier Preisträger diese Ehre erhalten: Prof. Dr. Ernst-Ludwig Ehrlich, Dr. Gertrud Luckner, Dr. Edna Brocke und Prof. Dr. Erich Zenger.
2. Meine These: Aus Treue zum Willen Gottes sagen die Juden Nein zu Jesus Christus
Vor der theologischen Gretchenfrage scheuen die katholische und evangelische Kirche immer noch zurück: Wie haltet ihr Christen es mit dem Nein Israels zu Jesus Christus? Solange wir zu dieser uns schmerzenden Weigerung nicht ein positives, theologisch fundiertes Verhältnis gewinnen, klafft in unserer Beziehung eine tiefe, offene Wunde.
Einen entscheidenden Vorstoß wagte unser Gesprächskreis vor 10 Jahren mit der These: „Das verweigerte Ja Israels zu Jesus von Nazareth kann auch von Christen als Treue zur jüdischen Tradition gewertet werden“ (Erklärung „Juden und Christen in Deutschland. Verantwortete Zeitgenossenschaft in einer pluralen Gesellschaft). Ich spitze diese Aussage zu, indem ich das „kann gewertet werden“ verwandle in die Behauptung: Genau so sehe ich das!
Meine bzw. unsere Motivation ist nicht die political correctness oder die deutsche Befangenheit seit der Schoa, da man in unserer Gesellschaft zentrale Positionen der jüdischen Religion nicht angreifen darf. Es ist auch nicht die generelle Verpflichtung zur Toleranz, die gebietet, andere Überzeugungen zu respektieren, solange sie nicht zerstörerische Kräfte entfesseln. Vielmehr treibt uns einzig und allein die theologische Leidenschaft, zu einem kontroversen Diskussionsprozess einzuladen, der einen entscheidender Schritt über den bisher erreichten Diskussionsstand hinaus wagt, indem er sich auf die die Gretchenfrage einlässt.
3. Überbrückte Gräben
Der französisch-jüdische Historiker Jules Isaac, dessen Familie in der Schoa ermordet wurde, hatte als Schlüssel der fast 2000-jährigen Judenfeindschaft der Christen die unchristliche „Lehre der Verachtung“ herausgefunden. Dieses Ergebnis seiner jahrzehntelangen Forschungen hatte er dem Papst in der Vorbereitungsphase des Konzils persönlich in Rom mitgeteilt. Johannes XXIII. war beeindruckt.
Diese Erkenntnis war in der Anfangszeit im Gesprächskreis des Zentralkomitees noch nicht angekommen. In weiten Kreisen der Kirche, bis in die höchsten Ränge, ist sie bis heute noch nicht angekommen. Zwar stand für uns außer Frage, dass Gott Israel, seine erste Liebe, nie verraten hat, die Juden nicht verworfen und nicht an ihrer Stelle die Kirche als sein Volk erwählt hat. Und selbstverständlich wollten wir uns nach Kräften einsetzen für ein „Nie wieder Auschwitz!“ Doch über die Konsequenzen der Konzilserklärung für unser Glaubensverständnis waren wir uns keineswegs im Klaren. Schritt um Schritt überführten die jüdischen Partner uns Christen, dass wir zu Unrecht für uns eine höhere Ethik, ein entwickeltere Humanität, eine bessere Glaubensweise beanspruchten verglichen mit der ihrigen. Diese Desillusion löste auch in mir manche Identitätskrise aus. Wir konnten nicht länger auf die Juden herabsehen, unsere Identität auf ihre Kosten definieren. Sie waren uns ebenbürtig geworden. Die Konsequenz: „Nie wieder Auschwitz!“ setzt viel zu spät an. Es gilt den Anfängen zu wehren: „Nie wieder die Lehre der Verachtung!“ Denn sie war ein Nährboden für die rassistische Naziideologie und hatte das Immunsystem der Christen, die Abwehrkräfte gegen die Verfolgung und Ermordung der jüdischen Brüder und Schwestern schwerstens geschädigt.
Seit sich Juden und Christen endlich auf Augenhöhe begegnen, haben sich viele Vorurteile und Verurteilungen erledigt. Gravierende Unterschiede standen seit Jahrhunderten zwischen Juden und Christen: Gesetz und Evangelium, Erbsündenlehre, Partikularität und Universalität, Spiritualität statt Ethik. Doch solche Gegensätze sind in den letzten Jahrzehnten zu fruchtbaren polaren Spannungen mutiert. Ernst-Ludwig Ehrlich, der seit der Gründung unseres Kreises bis zu seinem Tod im Jahr 2007 an jeder Sitzung teilgenommen hat, pflegte seine Warnung zu wiederholen: „Mehr als die Theologie trennt uns die Geschichte.“ Die schmerzliche Bearbeitung der kirchlichen Schuldgeschichte ist seit Jahrzehnten in allen (westlichen) Kirchen im Gange, aber bis zur Überwindung von Angst und Misstrauen durch ein solides Fundament der Versöhnung bedarf es noch großer Anstrengungen durch glaubwürdige Taten. Unüberwindlich ist der Graben der geschichtlichen Vergegnung (Martin Buber) freilich nicht – im Unterschied zum theologischen Dissens über Jesus Christus.
4. Unüberwindbarer Stolperstein: das Christusbekenntnis
Seit Jahrzehnten würdigen namhafte jüdische Wissenschaftler Jesus von Nazareth als herausragenden Lehrer des Judentums, als bedeutenden Sohn ihres Volkes. Einer der ersten war 1922 Joseph Klausner, ein Zionist in Jerusalem. In seinem Werk „Jesus von Nazareth“ würdigt er Jesus als einen Lehrer hoher Sittlichkeit und einen Gleichnisredner ersten Ranges, spricht ihm aber prophetische und messianische Titel ab. Dieses Werk war damals eine kleine Sensation und wurde von jüdischer Seite mit einiger Skepsis und teilweise mit Ablehnung begleitet. Ganz anders 1967 die unter Juden und Christen positive Rezeption von Schalom Ben-Chorins Buch „Bruder Jesus, der Nazarener in jüdischer Sicht“ mit dem klassisch gewordenen Zitat: „Der Glaube Jesu eint uns, der Glaube an Jesus trennt uns.“ Hier und nur hier tut sich ein zwischen Juden und Christen unüberwindlicher Graben auf.
Der Glaube an Jesus Christus ist dem nachbiblischen Judentum fremd oder erscheint ihm sogar abwegig. Dies trifft allerdings noch nicht zu für die biblische Zeit. Doch nach der Trennung der Wege gilt: Im Bekenntnis zu Jesus Christus stehen sich christliches Ja und jüdisches Nein unüberbrückbar gegenüber. Denn im christlichen Glauben gehört Jesus in das Zentrum des Glaubens an Gott, während sich für Juden die Frage nach seiner Bedeutung nicht von ihrem Gottesverständnis herstellt. Der, der für Christen die Mitte ihrer religiösen Existenz ist, kommt in der geistigen Welt des Juden gar nicht vor, oder wenn er erscheint, wird er in die Kette der Propheten, Apokalyptiker und Lehrer integriert.
Das darf jedoch nicht bedeuten, dass an dieser Grenze unser Dialog verstummt. Denn auch das Trennende gehört in das jüdisch-christliche Gespräch. Dabei muss die christliche Seite daran interessiert sein, Missverständnissen ihrer Christologie vorzubeugen.
5. Plädoyer für eine nicht-antijüdische Christologie
Die kirchliche Lehre über Jesus Christus ruht auf zwei Pfeilern, die gemeinsam den Glauben tragen.
Jesus steht ganz auf unserer Seite, er ist wahrhaft Mensch, und dazu gehört unabdingbar: er war Jude. Das ist eine grundlegende theologische Aussage, nicht bloß ein zufälliges historisches Faktum. Wer die Person Jesu von seiner Zugehörigkeit zum jüdischen Volk trennt, greift die Wahrheit der Menschwerdung selbst an, macht Jesus seine Identität streitig. So Papst Johannes Paul II. in einer Grundsatzrede am 31.10.1997.
Jesus steht ganz auf Gottes Seite, er gehört zentral in unser Gottesverständnis und Gottesverhältnis hinein. Ohne ihn oder an ihm vorbei gibt es für Christen keinen Zugang zum Gott Israels, der auch der Gott Jesu ist.
Antijüdisch wird diese Lehre jedoch, wenn sie dem biblischen Bekenntnis der Einzigkeit Gottes widerstreitet. Der bedeutendste jüdische Denker des Mittelalters, Maimonides, hat es auf den Punkt gebracht: Mit ihren Worten bekennen die Christen zwar, dass Gott Einer ist, aber ihrem Denken sind es drei Götter. Deshalb stünden die Muslime mit ihrem klaren Monotheismus den Juden näher als die Christen. Dieser Einspruch, der bis heute nicht verklungen ist, hat in unserer Zeit endlich zu denken gegeben. Uns Theologen hat der christlich-jüdische Dialog dafür sensibilisiert, dass wir über Jahrhunderte die strenge Theozentrik des Alten wie des Neuen Testaments verwässert oder gar sträflich verfälscht haben. So zum Beispiel die christozentrische [Christus-lastige] Theologie Martin Luthers mit der These, Mitte der Schrift und entscheidend sei, „was Christum treibet“. Oder eine Form katholischer Volksfrömmigkeit, als ob Maria die mütterliche Anwältin der Barmherzigkeit gegenüber der Strenge des göttlichen Richters sei. Oder die unreflektierte Rede von der „Menschwerdung Gottes“, als würde Jesus den Schöpfergott des Alten Testaments ersetzen.
Nur auf dem Boden einer geläuterten, dem Neuen Testament entsprechenden theozentrischen Christologie kann die Zurückholung Jesu durch namhafte jüdische Theologen als bedeutenden Sohn ihrer Geschichte, Juden und Christen den Menschen Jesus näher bringen und bislang verstellte Seiten seiner Person und seiner Verkündigung entdecken lassen.
Doch genau besehen ist der eigentliche Stein des Ärgernisses für Juden nicht der Glaube an Jesus Christus. Christologie ist Sache der Christen, sie geht Juden nicht direkt an, betrifft sie nicht existenziell. Anders die Lehre von der „universalen Heilsbedeutung“ Jesu Christi, zumal in der Verbindung mit der „Judenmission“, wie freundlich und friedlich sie sich auch geben mag. Deshalb hat unser Gesprächskreis in aller Deutlichkeit und Schärfe öffentlich Protest eingelegt gegen die im Jahr 2008 von Papst Benedikt XVI. neu formulierte Karfreitagsfürbitte für den sogenannten Tridentinischen Ritus. Schon die Einleitung „Für die Bekehrung der Juden“ ist eine Provokation. Besser hätte ihm angestanden, für die Bekehrung der Kirche zu beten. Wenige Monate später verglich Rabbiner Henry Brandt auf dem Katholikentag in Osnabrück diese Fürbitte mit dem Holocaust: Missionierung sei zwar kein Angriff auf die physische Existenz der Juden, wohl aber auf ihre religiöse Identität.
6. Mein christliches Ja zum jüdischen Nein
Meine Schlussthese will ich in drei Schritten entfalten: Ja zum Glauben der Juden – Ja zum ungekündigten Bund – Ja zum Geheimnis Gottes.
A. Ja zum Glauben der Juden
1981 stellte Edna Brocke die Gretchenfrage im Gesprächskreis: Was hofft ihr Christen für uns Juden, worum betet ihr zu Gott – dass wir Juden letztlich durch den Messias Jesus zum Vater kommen, und sei es erst am Ende der Geschichte? In einer Klausurtagung kamen wir zu dem Ergebnis: Hier steht nicht Unwissen gegen Wissen, nicht Unglauben gegen Glauben, sondern Glauben neben Glauben. Vom selben Gott Israels bekommen Juden offenkundig anderes zu hören als Christen. Gott mutet uns zu, dieses Paradox im Vertrauen auf seine Treue sowohl zu Israel als auch zur Kirche auszuhalten. 25 Jahre später bekräftigten wir diese Einsicht: „Das verweigerte Ja Israels zu Jesus von Nazareth kann auch von Christen als Treue zur jüdischen Tradition gewertet werden.“
Diese provozierende These ist unsere Interpretation der offiziellen Erklärung der Päpstlichen Bibelkommission „Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“ (2001), in der es sinngemäß heißt: Juden und Christen lesen dieselbe Bibel, aber beide lesen sie anders. Das schulden beide der Treue zu ihrer eigenen Glaubenstradition. Eine Vereinigung beider Ströme ist nicht möglich. [„Wir Christen können und müssen zugeben, dass die jüdische Lesung der Bibel eine mögliche Leseweise darstellt, die sich organisch aus der jüdischen Heiligen Schrift der Zeit des Zweiten Tempels ergibt, in Analogie zur christlichen Leseweise, die sich parallel entwickelte. Jede dieser beiden Leseweisen bleibt der jeweiligen Glaubenssicht treu, deren Frucht und Ausdruck sie ist. So ist die eine nicht auf die andere rückführbar.“]
Zwar hat der damalige Vorsitzende der Päpstlichen Bibelkommission, der Präfekt der Glaubenskongregation Kardinal Joseph Ratzinger, in seinem Vorwort den Text gemäß seiner Christologie der Überbietung des Alten durch das Neue Testament abgeschwächt. Aber der Text zählt mehr als das Vorwort, auch seine Argumente sind stärker.
B. Ja zum ungekündigten Bund
Unsere Erklärung im Jahr 2009 „Nein zur Judenmission – Ja zum Dialog zwischen Juden und Christen“ löste erstmals einen Sturm des Widerspruchs von namhaften Bischöfen und Kardinälen und eine breite Diskussion in den Medien aus, obwohl wir nichts anderes sagten als früher: dass der Bund Gottes mit dem jüdischen Volk einen Heilsweg zu Gott darstellt – auch ohne Anerkennung Jesu Christi und ohne das Sakrament der Taufe.
Unser entscheidendes theologisches Argument ist die von Papst Johannes Paul II. geprägte Formel vom „niemals gekündigten Alten Bund“. Denn Gott bleibt seinem Jawort treu! Natürlich haben es Juden nicht nötig, dass wir ihnen den Fortbestand des Sinai-Bundes bescheinigen. Wohl aber haben wir Christen diese theologisch begründete Vergewisserung nötig, wie die heftige Debatte ans Licht brachte.
Entscheidend war der schwere Vorwurf, die christlichen Autoren der Erklärung leugneten das Bekenntnis, dass Gott seinen Sohn als „Retter der Welt“ gesandt hat, nicht nur zur Erlösung der Nichtjuden. Das aber geht in der Tat an die Substanz des Christentums! Wir stellen jedoch keineswegs nicht infrage, dass das Neue Testament den Tod Jesu gemäß dem Willen Gottes als Gottes Tat der universalen Sündenvergebung deutet. Doch ob und gegebenenfalls was der Tod Jesu zur Geltung bzw. Wirksamkeit des Sinai-Bundes beiträgt, überlassen wir dem Ratschluss Gottes. Und wann, wie und ob sich Juden und Christen auf ihrem Weg zum Reich Gottes begegnen, müssen wir ebenfalls Gott anheimstellen.
C. Ja zum Geheimnis Gottes
Uns leitet mithin der Respekt vor dem Geheimnis Gottes, das einer vorlauten Theologie Grenzen setzt. Dieser verbietet jeden Absolutheitsanspruch des Glaubens. Denn die absolute Wahrheit ist allein Gottes Sache und wird erst bei der Vollendung der Weltgeschichte offenbar werden. Spekulationen an der eschatologischen Börse sind strengstens untersagt.
Doch deshalb ist Glaube keineswegs unverbindliche Meinung. Das Postulat der „Unbedingtheit“ (Paul Tillich: was einen unbedingt angeht) oder des „Bekenntnisses“ (Peter von der Osten-Sacken) drückt weit besser die Verbindlichkeit einer Existenz aus dem Glauben aus. Denn der Ruf Gottes fordert einen jeden persönlich radikal heraus und verlangt ein Bekenntnis, das alles riskiert, selbst das eigene Leben.
Das Urschisma der Trennung zwischen Juden und Christen ist eine Urtragödie und mit viel Schuld beladen, besonders seitens der Christen durch ihre antijüdische Schriftauslegung von frühen Zeiten an. Der ganze Ernst dieser fatalen Situation wird jedoch erst offenbar, wenn Gott selbst im Spiel ist. Offenbar ist er selbst es, der Juden gegen die Christusbotschaft des Paulus verschlossen, „verstockt“ hat (vgl. Röm 9-11). Ohne Gott ins Spiel zu bringen bleiben Ethik, Sinnfrage sowie persönliche und geschichtliche Schuldgeschichte harmlos, fehlt ihnen die radikale, göttliche Leidenschaft. Immer mehr wird mir bewusst, dass unser Wissen von Gott grenzenlos beschränkt ist, was unsere theologische Redseligkeit verdächtig macht. Und doch ist Glaube ein Stichwort, das tiefer sticht, weil er Wahrheit aufdeckt, die Schwindel erregt. „Denn vor dem Gedanken, dass es keinen Gott gibt, zittert niemand, wohl aber davor, dass ein Gott existiert“ (Elazar Benyoëz).
7. Was Gott uns Christen durch die Juden zu sagen hat
Ein Austausch mit Fremden, Ausländern oder Angehörigen einer anderen Weltanschauung führt oft zu dem überraschenden Ergebnis: Wie groß ist doch die Schnittmenge unserer Übereinstimmung! Etwas ganz anderes und viel Größeres als ein Dialog auf Augenhöhe ist eine Begegnung, in der einer zum anderen aufschaut, ihn höher achtet als sich selbst. Genau diese Erfahrung habe ich oft mit jüdischen Freunden und Freundinnen gemacht. Durch sie hat Gott mich Neues hören lassen, was ich in meiner eigenen Kirche und aus ihrer Geschichte bisher nicht gehört habe, was mir fehlte und mich jetzt bereichert. Das ist Fremdprophetie, durch die Gott anderes ausrichtet als durch die heimischen Propheten. Komplementarität nennt Papst Franziskus I. diesen Austausch mit Juden in seiner Enzyklika „Die Freude des Evangeliums“. Hierzu drei Beispiele:
- Während der USA-Reise des Präsidiums des Zentralkomitees mit dem Gesprächskreis im Jahr 1986 führte uns der jüdische Theologe Michael Wyschogrod durch den jüdischen Stadtteil von New York „Lower East Side“. Mit uns betrat er einen Buchbinderladen. Noch bevor er uns vorstellen konnte, schrie der alte Inhaber hinter der Theke auf: „Raus, Nazis, Mörder!“ Jeder Versuch einer Annäherung war vergebens. Eine halbe Stunde später standen wir schmunzelnd ob der jiddischen Sprachform um einen alten Rabbi, der uns durch ein Sakralbad führte. Als wir uns hernach bei unserem Freund Wyschogrod bewegt über die Weisheit und Menschlichkeit des alten Rabbiners äußerten, meinte er: „Ich wollte euch einmal einen Versöhnten, einen Heiligen zeigen“. Wieder eine halbe Stunde später beim Mittagstisch fragten wir ihn angesichts dieses Kontrasterlebnisses: „Wie stellen Sie sich Versöhnung vor?“ Wyschogrod darauf: „Ich will persönlich auf diese persönliche Frage antworten. Als ich in Ihre Runde um den Rabbi blickte, standen mir, als wäre es gestern gewesen, wieder die grinsenden Gesichter der deutschen Soldaten vor Augen, die damals in Warschau einen kleinen, wehrlosen Rabbiner umringten und ihren Mutwillen mit ihm trieben. Ich weiß, ich tue Ihnen bitteres Unrecht mit diesem Vergleich. Aber solange ich diese Assoziation nicht loswerden kann, bin ich noch nicht versöhnt.“ Unsere Frage: „Was sollen wir denn tun?“ Seine Antwort: „Machen Sie weiter so! Und lassen Sie mir bitte Zeit!“ Übrigens suchte Wyschogrod kurz darauf eine Gelegenheit, mit dem Buchbinder ein klärendes Gespräch zu führen. Unser Fazit damals in New York: Dürfen wir uns angesichts dieser Ungleichzeitigkeit von „unversöhnt - auf dem Weg der Versöhnung - versöhnt“ ein Urteil über die moralische Qualität der Beteiligten anmaßen oder gar christliches Verzeihen gegen jüdische Unversöhnlichkeit ausspielen? Gilt es nicht vielmehr, die Ungleichzeitigkeit der Zeitgenossen auszuhalten und jedem die Zeit einzuräumen, die er zum gemeinsamen Ziel der Aussöhnung braucht? Können wir nicht schon jetzt, während wir noch auf dem Weg zueinander sind, miteinander Zeugen und Anwälte für die Versöhnung in unserer zerstrittenen Welt sein?
- 1983 veranstaltete unser Gesprächskreis ein internationales Expertengespräch in Simpelveld in den Niederlanden zum Thema „Begründung des Ethischen im Judentum und Christentum“. Emil Falkenheim analysierte die Tragödie von Auschwitz. Es war eine schonungslose Diagnose von unheimlicher Stringenz. Es sei das radikal Böse, wie es noch nie in der Welt geschehen ist – formulierte er. Hier waren Menschen am Werk, die wohl um die Schöpfung wussten, sie aber bewusst zu zerstören suchten. Auf der Suche nach einer Antwort vertrat er den Grundsatz: „Wo immer ein Problem herkommt, dort muss auch die Lösung herkommen.“ Dem stimmten alle zu. Doch gerade angesichts ihrer Zustimmung zu Fackenheims Grundsatz war für die christlichen Dialogpartner die gegenseitige Herausforderung der jüdischen Partner über die Konsequenzen aus eben diesem Grundsatz so bewegend. Michael Wyschogrod könnte zwar nicht nach Deutschland übersiedeln, weiß sich aber seit Jahren dem christlich-jüdischen Dialog verpflichtet; seine eigene Theologie ist nicht von ungefähr durch den Dialog mit Karl Barth geprägt. Emanuel Levinas hält sich an sein Gelübde, deutschen Boden nicht wieder zu betreten, geht aber nichtsdestoweniger immer aufs Neue „bis an die Grenze“: im engagierten Austausch mit deutschen christlichen Philosophen und Theologen. Werner Marx hat sich in den USA durchgerungen, die Berufung auf den Heidegger-Lehrstuhl in Freiburg anzunehmen, und hat in jahrelangem Bemühen einen israelisch-deutschen Studentenaustausch in die Wege geleitet. Fackenheim schließlich war im Begriff, seine Position in Kanada aufzugeben und mit seiner Familie nach Israel zu übersiedeln, weil er dort nötiger gebraucht werde, wenngleich sich seine berufliche Zukunft völlig ungesichert ausnahm. Wir Christen waren bei diesem Gespräch in die Rolle des nachdenklich schweigenden Hörers gewesen. Derart teuer bezahlte jüdische Existenz verschärft mehr als Argumente die kritische jüdische Anfrage, ob für Christen Glaube ebenso radikal wie für Juden ethisches Handeln impliziere.
- Vor 10 Jahren veranstaltete ich mit meinem Freund Michael Signer wieder ein internationales christlich-jüdisches Seminar in Nürnberg. Auf einer Exkursion in die Landgemeinde Tüchesfeld besuchten wir eine ehemalige Synagoge, die heute ein Museum ist. Darin war auch eine Thora-Rolle ausgestellt, die aber beschädigt war. Bei diesem Anblick entzündete sich sofort eine heftige, leidenschaftliche Diskussion unter den jüdischen Studierenden und Professoren: Wie kann es sein, dass diese Rolle nicht repariert ist! Man muss sie doch entweder reparieren oder sie begraben! Und wie kann es sein, dass jeder Besucher sie einfach betatschen kann! Unwürdig! Auf der Heimfahrt im Bus sprach ich Michael auf diese Szene an: Es kam mir vor, als läge ein Schwerverletzter auf der Straße, und keiner hilft ihm. Und die Aufregung war für mich genauso, als wollten neugierige Besucher einer katholischen Kirche probeweise einmal eine Hostie anfassen und essen. Michael bestätigte meinen Eindruck. Diese Ehrfurcht vor dem Wort Gottes kannte ich nur als Formel in Vorlesung oder Predigt, aber nie als gelebte Realität. Ich war erschrocken über mich selbst.
Es würde mich freuen, wenn die provozierende These unseres Gesprächskreisen Sie zum Nachdenken, vielleicht gar zur Zustimmung bewegte: Das verweigerte Ja Israels zu Jesus von Nazareth kann auch von Christen als Treue zur jüdischen Tradition gewertet werden. Denn Gott bleibt dem Sinai-Bund treu.