Hochverehrte Exzellenzen,
liebe Freunde,
liebe Brüder und Schwestern,
möge der Herr Ihnen allen Seinen Frieden schenken!
Man hat mich gebeten, eine kurze Beschreibung der aktuellen Lage im Heiligen Land zu geben. Es ist jedoch nicht einfach, das Erlebte in wenigen Worten zu erklären, ohne dass sie oberflächlich und unvollständig wirken. Deshalb werde ich keine Chronik der Ereignisse vorlegen. Ich denke, Sie kennen sie bereits aus den Medien, die jeden Tag Bilder und Geschichten von Gewalt und Schmerz zeigen. Ebenso wenig werde ich eine politische Sicht der Dinge präsentieren, denn das würde wahrscheinlich nur zu Missverständnissen führen. Ich werde nur kurz berichten, wie wir als Christen, wie die Kirche diese Zeit erlebt und was sie unternimmt.
Vom 7. Oktober bis heute sind wir in einen Strudel der Ereignisse geraten und haben Tod, Zerstörung, Gewalt, Ressentiments und Rachegelüste erlebt. Während wir mit Gottes Hilfe versuchen, eine Brücke zu schlagen, zu vermitteln und die letzte Hoffnung auf Verhandlungen an einem seidenen Faden festzuhalten, scheint sich die politische Situation vor Ort immer weiter zu verschlechtern. Die israelische und die palästinensische Bevölkerung sind zunehmend gespalten, die politische Führung ist in beiden Lagern umstritten und das Misstrauen zwischen ihnen wächst. Um es kurz zu machen: Leider sieht es nicht so aus, als gäbe es kurzfristig eine Aussicht auf Frieden. Nach Gaza wird die Eskalation des Konflikts an der Nordgrenze zum Libanon immer deutlicher. Das sind die Nachrichten dieser Tage, die wir alle kennen.
Unser Volk ist von Angst und Ungewissheit über die Zukunft geplagt. Viele sehen nur noch Ruinen vor sich. Darüber hinaus hat die derzeitige schwere Krise nicht nur die Aussicht auf Frieden und Vertrauen in kurzer Zeit zerstört, sondern auch den jahrelangen interreligiösen Dialog und den mühsamen Aufbau von Beziehungen zwischen verschiedenen religiösen und sozialen Gemeinschaften zunichte gemacht. Die politische Krise hat sich auch auf die Religionsgemeinschaften ausgewirkt, deren Führer sich seit elf Monaten nicht mehr treffen oder miteinander sprechen konnten. Jeder ist jetzt in seinem eigenen Lebenskontext gefangen, innerhalb seiner jeweiligen Gemeinschaft, gefangen in seinem eigenen Schmerz, oft wütend, enttäuscht und ohne Vertrauen. Heschel, ein Rabbiner aus den 1960er-Jahren, sagte, dass keine Religion eine Insel sei. Im Moment habe ich den Eindruck, dass wir wieder ein wenig zu einer Insel geworden sind, dass wir uns nur noch um uns selbst drehen.
Es ist daher allen klar, dass ein neuer Anfang gemacht werden muss, um das durch den Krieg zerstörte soziale Gefüge mit Geduld und in dem Wissen wiederaufzubauen, dass der Zeitrahmen für die Heilung dieser Wunden notwendigerweise lang sein wird, komplexe Wege erfordert, aber dennoch definitiv notwendig sein wird. Man muss erkennen, dass die Worte Gerechtigkeit, Wahrheit, Versöhnung und Vergebung keine bloßen Wünsche zum Ausdruck bringen, wie es vielleicht bisher der Fall war, sondern dass sie in realen, gelebten Kontexten eine gemeinsame Interpretation finden und wieder zu glaubwürdigen und erwünschten Begriffen werden müssen, ohne die es schwierig sein wird, an eine andere Zukunft zu denken. Wir werden daran glauben müssen, dass unsere Zukunft anders aussehen kann als die, die Krieg und Gewalt derzeit vorhersagen.
Man kann feststellen, dass es eine anhaltende Debatte und unterschiedliche Interpretationen der Ereignisse gibt. Für die einen liegt das Ungewöhnliche nur in der Intensität der Ereignisse seit dem 7. Oktober, nicht aber in ihrer Dynamik, die vielmehr seit 1948 dieselbe ist. Für andere hingegen sind die Ereignisse des 7. Oktober absolut neu. Das zeigt, wie groß die Unterschiede zwischen den Parteien sind. Auf jeden Fall zeigen die Bilder in den Medien und auf unseren Handys seit dem 7. Oktober Blut, Zerstörung und Tod, aber auch Hass, Rache und Ressentiments, bei denen sich jeder als Opfer fühlt, als einziges Opfer dieses Tsunami des Hasses, der über uns hinweggefegt ist. Dies ist vielleicht eine der Schwierigkeiten unserer Zeit, zumindest im Heiligen Land. Das eigene Herz ist so voll, so überflutet, so zerrissen vom Schmerz, dass für den Schmerz der anderen kein Platz mehr bleibt. Jeder sieht sich als Opfer, als einziges Opfer dieses abscheulichen Krieges. Wir wollen und fordern Empathie für unsere eigene Situation und fühlen uns oft verraten oder zumindest im Stich gelassen, wenn wir hören, dass andere Verständnis für diejenigen aufbringen, die anders sind als wir. Eine Situation, die in jeder Hinsicht verletzend ist. Vielleicht wäre es das Beste, angesichts all dessen zu schweigen. Aber auch wenn Schweigen angebracht wäre, so wird heute doch ein Wort von mir erwartet und ich will mich dem nicht entziehen.
1. Eine Frage der Sprache
In den letzten Monaten wurde viel über die Unmenschlichkeit dieses Krieges (wie eigentlich aller Kriege) gesprochen, über die Unmenschlichkeit der Taten, die die Bilder deutlich gezeigt haben. Tatsächlich gab und gibt es Bilder, die einen durch ihre Grausamkeit und den Schmerz, den sie verursachen, fassungslos machen. Und hinter diesen Bildern, die mehr sagen als Millionen von Worten, stehen reale, konkrete, greifbare Situationen. Es handelt sich also nicht um Nachstellungen oder Fälschungen. Was am 7. Oktober im Süden Israels geschah und was jetzt im Gazastreifen geschieht, bedeutet eine tiefe Wunde für die Menschlichkeit, für den Respekt vor der Person. Ich habe Menschen getroffen, Israelis und Palästinenser, die von diesen Situationen betroffen sowie tief verletzt und gedemütigt sind, die aber auch Worte der Nähe, des Mitgefühls und des Verständnisses benötigen.
Bei diesen Begegnungen hatte ich das Gefühl, dass es nicht ausreicht, ihnen zu versichern, dass alles Mögliche getan wird, um ihnen aus humanitärer Sicht zu helfen und sie zu unterstützen, was ja auch getan wurde. Ich denke an unsere Christen, die in unseren Kirchen in Gaza eingeschlossen sind und die ebenfalls verwundet und betroffen sind. Es reichte nicht aus, ihnen die notwendige humanitäre Hilfe zukommen zu lassen. Sie brauchten ein Wort, das Nähe zum Ausdruck bringt. Mir wurde klar, dass wir nicht nur dafür sorgen müssen, dass unsere diözesanen Dienststellen Hilfe leisten, sondern dass sie auch mit einem Wort der Ermutigung, der Führung und Orientierung in einem Kontext zur Stelle sein müssen, der von völliger Hoffnungslosigkeit geprägt zu sein scheint. Den Bildern und Worten des Schmerzes und des Hasses müssen Bilder und Worte der Hoffnung und des Lichts entgegengehalten werden.
Kurz gesagt, man muss den Mut haben, sich zu äußern. Man sollte nicht nur sagen, was man denkt, sondern auch darüber nachdenken, was man sagt, und sich bewusst sein, dass Worte ein entscheidendes Gewicht haben, vor allem in solch heiklen Situationen. Insbesondere diejenigen mit öffentlicher Verantwortung haben die Pflicht, ihre jeweiligen Gemeinschaften mit einer angemessenen Sprache zu führen, die einerseits in der Lage ist, Gefühle und gemeinsame Wahrnehmungen auszudrücken, andererseits aber auch die Gedanken zu lenken und, wenn nötig, die Tendenz zu Hass und Misstrauen zu begrenzen, die in den Medien oft leichtfertig um sich greift, wenn Worte verwendet werden, die wie Pfeile ins Herz treffen. Wir müssen nicht mit dem Strom schwimmen, sondern wir müssen wissen, wie wir uns in ihm bewegen, während wir gleichzeitig Verantwortung für Missverständnisse und Einsamkeit übernehmen. Kurz gesagt müssen wir ein Gefühl von Menschlichkeit bewahren, und zwar vor allem in der Sprache, die wir privat und öffentlich verwenden und bei der Nutzung der sozialen Medien, denn sie kann brisante Auswirkungen auf die öffentliche Meinung haben und sie kann Tiefe und Perspektiven für die komplexen Situationen, in denen wir uns befinden, vermissen lassen. Sprache schafft Meinungen, Gedanken, kann Hoffnung, aber auch Hass wecken. Menschlichkeit, d. h. die Notwendigkeit, menschlich zu bleiben, der Respekt vor der Würde der Menschen, vor ihrem Recht auf Leben und Gerechtigkeit beginnt mit der Sprache. Eine mit Gewalt, Aggressionen, Hass und Verachtung, Ablehnung und Ausschließung beladene Sprache spielt in diesem Krieg keine Nebenrolle, sondern ist eines der Hauptwerkzeuge in diesem und allzu vielen anderen Kriegen. Die Verwendung von Begriffen, die die Menschlichkeit der Mitmenschen verneinen, egal woher sie kommen, ist auch eine Form der Gewalt, die Gewalt in vielen anderen Kontexten und Formen ermöglichen oder sogar rechtfertigen kann. Dabei handelt es sich um Formulierungen, die möglicherweise noch mehr verletzen als Massaker und Bomben.
Gott schuf die Welt mit den Worten („Es werde ...“). Auch wir erschaffen unsere Welt mit Worten. Das konnten wir in diesen Monaten auf sehr eindringliche und harte Weise erleben. Aber wenn wir genau überlegen, haben wir es vielleicht sogar schon früher erkannt. Wie oft mussten wir im Laufe der Jahre darauf achten, dass wir in einem Kontext bestimmte Wörter nicht verwendeten, die in einem anderen üblich waren, und umgekehrt. Jede Seite, die israelische und die palästinensische, hatte ihr eigenes Vokabular, ihr eigenes Narrativ, unterschiedlich und unabhängig voneinander. Sie trafen sich nie, außer in kleinen inneren Kreisen. Auf der israelischen Seite drehte sich das Vokabular z. B. um das Konzept der Sicherheit. Auf der anderen Seite drehte sich alles um Besatzung und Gerechtigkeit. Um es klar zu sagen: Diese Worte sind unantastbar, spiegeln eine echte Realität und Notwendigkeit wider und verdienen Respekt. Das Problem war, dass es sich um voneinander unabhängige Narrative handelte, die sich nie wirklich begegneten. Und das ist in den letzten Monaten überdeutlich geworden.
Was wir brauchen, ist der Mut, eine nicht ausgrenzende Sprache zu verwenden. Selbst in den schärfsten Konflikten und Widersprüchen soll sie einen tiefen und klaren Sinn für Menschlichkeit bewahren, denn so sehr wir sie auch durch unser eigenes schlechtes Verhalten entstellen mögen, wir alle bleiben immer Menschen, die nach dem Bild Gottes geschaffen sind. Deshalb sollten in der Öffentlichkeit und im Privaten, in den Medien, in Synagogen, Kirchen und Moscheen mutig Worte benutzt werden, die Horizonte öffnen und keinen Vorwand für Gewalt und Ablehnung bieten. Das Gleiche gilt für die Medien, für die sozialen Medien, die immer wichtiger werden, und für Bildungseinrichtungen wie die Universitäten. Ist dies nicht letztlich der größte Beitrag der Kirche in unserer Situation, nämlich eine Sprache zu liefern, die eine neue Welt schaffen kann, die noch nicht sichtbar ist, aber sich am Horizont andeutet?
2. Ein Konflikt, der auch spiritueller Natur ist
Dieser Krieg wirkt sich eindeutig auf das spirituelle Leben der Bewohner des Heiligen Landes aus. Was geschieht, kann diejenigen, denen das geistliche Leben am Herzen liegt, nicht gleichgültig lassen. Im Heiligen Land sind Glaube und Religion für das Leben der verschiedenen Gemeinschaften – Christen, Muslime und Juden - von entscheidender Bedeutung. Welche Rolle spielen die Religionen und der Glaube in diesem Konflikt, der sich verheerend auf das Leben aller auswirkt? Es scheint, dass die Worte des Heiligen Geistes keinen Einfluss auf die Entscheidungen haben, die derzeit getroffen werden. Das wirft Fragen auf. In Dtn. 30,15–16 sagt Gott: „Siehe, hiermit lege ich dir heute das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück vor ... du aber lebst und wirst zahlreich“. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es immer noch möglich ist, sich nicht für das Leben und das Gute zu entscheiden, und dass wir uns die Frage stellen und beantworten müssen, wo wir angesichts dieser Entscheidungen für das Böse und den Tod stehen. Diese Frage ist nicht abstrakt, sondern sie beschäftigt viele Gläubige. Wo stehen wir als Gläubige angesichts der Entscheidungen für Tod und Gewalt?
Zugegebenermaßen fehlt in diesem Krieg ein wichtiger Faktor: das Wort der religiösen Führer vor Ort. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, haben wir in den letzten Monaten keine Reden, Überlegungen oder Gebete von religiösen Führern gehört, die sich von denen anderer politischer oder gesellschaftlicher Führer unterscheiden. Man hat den Eindruck, dass jeder von ihnen ausschließlich aus der Perspektive seiner eigenen Gemeinschaft spricht. Juden mit Juden, Muslime mit Muslimen, Christen mit Christen und so weiter. Jeder bewahrt und stärkt das Narrativ seiner eigenen Gemeinschaft, das oft gegen die andere Seite gerichtet ist.
In den letzten Monaten war und ist es zum Beispiel fast unmöglich, interreligiöse Treffen abzuhalten, zumindest auf öffentlicher Ebene. Gläubige Juden, Christen und Muslime sind nicht in der Lage, sich zu treffen, nicht einmal, um ihre Meinungsverschiedenheiten auszudrücken. Interreligiöse Beziehungen, die gefestigt schienen, scheinen nun von einem gefährlichen Misstrauen überschattet zu werden. Jeder fühlt sich vom anderen verraten, nicht verstanden, nicht verteidigt, nicht unterstützt.
Ich habe mich in den letzten Monaten mehrmals gefragt, ob der Glaube an Gott wirklich die Quelle des persönlichen Denkens und der Gewissensbildung ist und unter uns Gläubigen ein gemeinsames Verständnis zumindest für einige Schlüsselfragen des gesellschaftlichen Lebens schafft, oder ob unser Denken von etwas anderem geprägt ist und auf etwas anderem beruht. Anders ausgedrückt: Ich frage mich, ob ich in meinen Handlungen und Worten eher Gott fürchte oder die Reaktion der Menschen, der Politiker, der Medien ... Wenn ich mich an meine Gemeinschaft wende, habe ich dann den Mut zur Parrhesie? Eröffne ich Horizonte? Oder wäge ich meine Worte nur ab, um niemanden zu verärgern? Dies ist keine simple Frage. Ich würde sogar sagen, sie ist von zentraler Bedeutung. Gerade in diesen Kontexten des Schmerzes und der Orientierungslosigkeit, in einem Kontext, in dem die Religion eine so herausragende öffentliche Rolle spielt, darf man nie aufhören, sich zu fragen, ob und wie der Glaube die eigene Gemeinschaft orientieren kann, um sie einzuladen, sich selbst zu hinterfragen, ohne sich in ihren eigenen Komfortzonen zu verschließen. Der Glaube muss eine Stütze sein, aber er muss auch stören und aufrütteln. Wenn der Glaube auf einer Erfahrung der Transzendenz beruht, muss er unseren Geist dazu bringen, den gegenwärtigen Augenblick zu überschreiten und die Grenzen des Verstandes und des Herzens zu öffnen, um darüber hinauszugehen. In der Tat können Gläubige ihre Wut und ihren Kummer im Gebet bündeln. Sie sollten den Blick nach oben richten und erkennen, dass Gott sie letztlich aufruft, auf die anderen zu schauen, die nach Seinem Bild geschaffen sind. Dieser Krieg bedeutet auch einen Wendepunkt in Bezug auf den interreligiösen Dialog, der, zumindest zwischen Christen, Muslimen und Juden, nicht mehr der gleiche sein kann.
Die jüdische Welt fühlte sich von den Christen nicht unterstützt und hat dies auch klar zum Ausdruck gebracht. Die Christen hingegen, die wie immer über alles geteilter Meinung und nicht in der Lage sind, ein gemeinsames Wort zu finden, standen abseits, waren sich nicht einig, ob sie die eine oder die andere Seite unterstützen sollten, oder sie waren unsicher und verwirrt. Die Muslime fühlen sich angegriffen und glauben, dass sie mit den Massakern vom 7. Oktober in Verbindung gebracht werden... Kurz gesagt, nach Jahren des interreligiösen Dialogs verstehen wir einander nicht. Für mich persönlich ist das ein großer Schmerz, aber auch eine wichtige Lektion.
Auf der Grundlage dieser Erfahrung werden wir in dem Bewusstsein, dass auch die Religionen eine zentrale Rolle bei der Orientierung spielen, neu beginnen müssen. Der Dialog zwischen uns muss voranschreiten und von unserem derzeitigen Unverständnis, unseren Unterschieden und unseren Wunden ausgehen. Er kann nicht mehr nur ein Dialog zwischen Angehörigen der westlichen Kultur sein, wie es bisher der Fall war, sondern er muss die unterschiedlichen Befindlichkeiten, die unterschiedlichen kulturellen Ansätze berücksichtigen, nicht nur die europäischen, sondern vor allem die lokalen. Das ist viel schwieriger, aber wir müssen dort ansetzen. Und wir müssen so handeln, nicht aus der Not heraus, sondern aus Liebe. Denn trotz unserer Unterschiede lieben wir einander, und wir wollen, dass sich diese Liebe nicht nur in unserem eigenen Leben, sondern auch in unseren jeweiligen Gemeinschaften konkretisiert. Einander zu lieben bedeutet nicht unbedingt, die gleiche Meinung zu haben, sondern zu wissen, wie man sie zum Ausdruck bringt und wertschätzt und sich gegenseitig zu respektieren und willkommen zu heißen.
3. Überlegungen und Maßnahmen der Kirche
In diesem komplexen Kontext haben wir in unserer Kirche seit einiger Zeit darüber nachgedacht, wie wir als gläubige Christen in diesem Konflikt leben können; eine Reflexion, die konstruktiv und gleichzeitig wahrhaftig und real ist, die nicht in abgedroschene Slogans oder offensichtliche Plattitüden verfällt. Der Konflikt und seine Folgen betreffen das Leben aller Menschen in unserer Diözese und sind daher ein integraler Bestandteil des kirchlichen Lebens und der Seelsorge. Alles, was wir sind und tun, hat direkt und indirekt mit dem Konflikt und seinen Folgen zu tun, von den ganz praktischen Aspekten bis hin zum Nachdenken über komplexere Fragen. Was ich damit sagen will, ist, dass der Konflikt kein vorübergehendes und zweitrangiges Thema im Leben unserer Kirche ist, sondern heute ein integraler und konstitutiver Bestandteil unserer Identität als Kirche: Konflikt und Spaltung mit den Folgen von Hass und Ressentiments sind eine alltägliche Realität, mit der wir seit mehreren Generationen fertigwerden müssen und die von der christlichen Gemeinschaft einen kontinuierlichen Weg der Reflexion und der geistlichen, pastoralen und sozialen Ausarbeitung erfordert. Wenn wir von Frieden sprechen, denken wir nicht an ein abstraktes Thema, sondern wir reden von einer tiefen Wunde im Leben der christlichen Gemeinschaft, die Leid und Erschöpfung verursacht und unser aller menschliches und spirituelles Leben betrifft.
Ich weiß nicht, ob wir bei der Interpretation dieses Themas schon eine Synthese erzielt haben, wahrscheinlich noch nicht. Meines Erachtens wird das Nachdenken über das Zeugnis des Friedens für uns immer eine fortwährende Aufgabe sein. Wir werden nie einen vollständigen und abschließenden Diskurs führen, sondern wir müssen mit den kontinuierlichen Entwicklungen der verschiedenen politischen Rahmenbedingungen rechnen, die sich allmählich bilden und auflösen, und mit ihren Auswirkungen auf das Leben der Menschen im Heiligen Land. Situationen, die unseren Glauben ständig infrage stellen. Und vielleicht ist jetzt nicht einmal die Zeit für eine Synthese, sondern für das Zuhören. Den verschiedenen Stimmen, Gefühlen und Visionen zuzuhören und zu versuchen, sie im Licht des Evangeliums zu deuten. Die christliche Botschaft basiert auf dem Evangelium und auf Jesus. Wir kommen um Jesus nicht herum.
Als Kirche im Heiligen Land können wir bei unseren Überlegungen Jesu Lehre nicht ignorieren, denn er hat uns gelehrt, dass Vergebung, Gerechtigkeit und Wahrheit die Grundlage für den Frieden sind. Es ist daher die Aufgabe der Kirche im Heiligen Land, ihre Seelsorge auf diese Lehre zu stützen und die Worte – Vergebung, Gerechtigkeit, Wahrheit, Frieden – in einen ständigen, schwierigen, schmerzhaften, komplexen, zermürbenden und ermüdenden Dialog miteinander zu bringen. Aber es ist ein Prozess, der fruchtbar ist und die Rechte Gottes und der Menschen respektiert, und der nach und nach eine echte Perspektive des Friedens, die wir gerade nicht haben, aufbaut. Denn was das Handeln der Kirche stützt, ist nicht Ideologie, sondern Liebe. „Denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist“ (Röm 5,5). Es ist diese Liebe, die der Kern unseres Verlangens nach Frieden ist. Nichts anderes.
Nur zu reden reicht jedoch nicht, wir müssen auch handeln und dort sein, wo Menschen Not leiden. Wenn unseren Worten keine konkreten Handlungen folgen, um Menschen zu helfen, dann riskieren wir, nur gute Wünsche zu bringen und sonst nichts. Aus diesem Grund ist die Kirche im Heiligen Land in ihren verschiedenen Institutionen, wie etwa der Kustodie des Heiligen Landes, präsent und arbeitet konkret, um den Menschen zu helfen. Unsere christliche Gemeinde ist zahlenmäßig klein, aber über das ganze Heilige Land verteilt: im Gazastreifen, im Westjordanland und in Israel. Am schwierigsten ist die Lage in Gaza. Im Norden des Gazastreifens, in Gaza-Stadt, leben nur noch knapp über sechshundert Christen. Sie alle sind in den beiden Kirchenkomplexen versammelt, der katholischen Heiligen Familie und der orthodoxen St. Porphyrius. Alle ihre Häuser sind zerstört. In Gaza sind mehr als 80 Prozent der Häuser und die gesamte Infrastruktur zerstört: kein Wasser, kein Strom und keine anderen Versorgungsdienste. Im Norden des Gazastreifens, wo wir arbeiten und wo sich die christliche Gemeinde befindet, gibt es nur ein kleines, teilweise funktionierendes Krankenhaus für eine verbleibende Bevölkerung von rund 600.000 Menschen. Die Bevölkerung ist in jeder Hinsicht auf Hilfe von außen angewiesen, angefangen bei der Nahrungsmittelversorgung.
Mehrmals in der Woche kochen unsere Christen in einer Gemeinschaftsküche für alle. Und was gekocht wird, muss für die ganze Woche reichen. Letzte Woche gab es zum ersten Mal seit Ostern Fleisch. Es mangelt an vollwertiger Nahrung; besonders Obst und Gemüse sind sehr schwer zu bekommen. Und das trifft besonders die schwächsten Bevölkerungsgruppen, wie z. B. die Kinder. Auch die Schulen befinden sich in einer Notlage. Das letzte Schuljahr konnte nicht stattfinden. Und das wird dieses Jahr wahrscheinlich genauso sein. Alle Schulen sind entweder zerstört oder werden als Notunterkünfte für vertriebene Familien genutzt. Vor dem Krieg hatte die Gemeinde vier funktionierende Schulen, die nun zerstört sind. Wir wollen zumindest eine der Schulen wieder öffnen, damit unsere Kinder wieder lernen können. Für viele Familien ist dies eine dramatische Situation.
Mithilfe verschiedener Organisationen versuchen wir, einige Tausend Familien mit Nahrungsmitteln zu versorgen und medizinische Hilfe zu leisten. Alle zwei Wochen versuchen wir, 20 Tonnen Nahrungsmittel und lebensnotwendige Güter zu verteilen, und das trotz der schwierigen Umstände, die mit dem anhaltenden militärischen Konflikt verbunden sind. Diese Hilfe können und müssen wir leisten. In den kommenden Wochen werden wir auch kleine Ambulanzen eröffnen, um medizinische Versorgung anzubieten. All das ist nicht viel, aber es ist das, was wir derzeit tun können. Wir können diesem Drama, das kein Ende zu nehmen scheint, nicht tatenlos zusehen.
Im Westjordanland, insbesondere in der Gegend von Bethlehem, wo viele Christen leben, ist die Lage nicht so dramatisch wie in Gaza, aber wirtschaftlich ist sie sehr problematisch. Pilgerfahrten und religiöser Tourismus, eine der wichtigsten Einnahmequellen der Bevölkerung, sind völlig zum Erliegen gekommen, wodurch Hunderte von Familien elf Monate lang ohne Arbeit waren. Vor dem Krieg arbeiteten über hunderttausend Palästinenser täglich in Israel. Abgesehen von einigen wenigen Arbeitnehmern mit Genehmigungen sind sie jetzt fast alle zu Hause, ohne klare Aussicht auf eine künftige Klärung der Situation. Tatsächlich wird das tiefe Misstrauen zwischen der palästinensischen und der israelischen Bevölkerung eine einfache Rückkehr zum vorherigen Zustand nicht zulassen.
Auch im nördlichen Westjordanland kommt es immer häufiger zu Zusammenstößen zwischen israelischen Siedlern und palästinensischen Gruppen. Sie haben wahrscheinlich von den Zusammenstößen in Dschenin und den umliegenden Dörfern gelesen. Auch unsere kleine Gemeinde in Dschenin ist teilweise betroffen. Dort sind praktisch alle zu Hause und niemand hat Aussicht auf Arbeit. Es wird befürchtet, dass sich diese Art neuer Intifada auf das gesamte Westjordanland ausweitet, und das wäre dramatisch. Im nördlichen Westjordanland konnte das Schuljahr aufgrund der anhaltenden Zusammenstöße und Gewalt erst letzte Woche beginnen, also mit einer Verzögerung von einem Monat.
Aber ich möchte hier nicht die israelischen Opfer vergessen, die Opfer des 7. Oktober, eines schrecklichen und unvorstellbaren Massakers, und auch nicht die Zahl der israelischen Opfer, die in den letzten Monaten und Wochen gestorben sind. Die Auswirkungen auf die Bevölkerung sind sehr tiefgreifend und schmerzhaft. Es gibt auch in Israel, vor allem im Norden des Landes, Vertriebene wegen der Raketen, die die Hisbollah täglich abfeuert. Wie ich zu Beginn sagte, ist dies ein Bericht über die letzten Tage. Um es kurz zu sagen: Gewalt hört nicht auf und muss verurteilt werden, woher sie auch kommt. Gewalt provoziert nur weitere Gewalt, ein Teufelskreis, dessen Ende nicht in Sicht ist. Und der Schmerz eines jeden muss respektiert werden, ohne Hierarchien zu bilden. Es ist nicht leicht, aus der Spirale der Gewalt auszubrechen. Die Situation vor Ort bleibt sehr angespannt und problematisch. Wie wir erfahren haben, finden Verhandlungen statt, um die Geiseln zu befreien und einen Waffenstillstand zu erzielen. Die Anzeichen für eine erfolgreiche Beendigung der Verhandlungen sind jedoch sehr schwach. Deshalb glauben wir – und wir hoffen, dass wir uns irren –, dass das Ende des Konflikts noch nicht bevorsteht und dass wir mit dieser schrecklichen Situation noch lange umgehen müssen. In jedem Fall sind die Aussichten auf Frieden auf kurze oder mittlere Sicht nicht gut, unabhängig vom Ausgang der Verhandlungen. Damit es überhaupt Frieden geben kann, müssen klare und solide Bedingungen vorhanden sein: eine politische Führung mit Vision, die in der Lage ist, die jeweiligen Bevölkerungsgruppen zu vereinen, die von der religiösen Führung und den gesellschaftlichen Institutionen unterstützt wird, und ein regionaler Kontext, der diesen Prozess unterstützt. Keine dieser Bedingungen ist momentan gegeben und deshalb wird diese schwierige Situation noch lange andauern.
Aber wir dürfen nicht aufgeben. Niemals aufgeben. Die Kirche wird die großen politischen Probleme des Nahen Ostens und des Heiligen Landes nicht lösen können. Aber wie ich eben sagte, wird sie weiterhin im Heiligen Land bleiben, ein Wort der Wahrheit und der Versöhnung sprechen und allen Menschen Hilfe und Nähe zukommen lassen.
4. Barrieren überwinden, selbst jenseits aller Hoffnung
Ich bin überzeugt, dass wir unsere Schritte auf einen solchen Weg lenken müssen. Damit die Prophezeiung des Friedens Wirklichkeit wird, ist es unerlässlich, uns selbst zu Respekt, Begegnung, Dialog und Vergebung zu erziehen. Alle, Juden, Muslime und Christen, müssen in erster Linie glaubwürdige Zeugen der Hoffnung sein, weil sie von Gottes Güte gegenüber allen Menschen überzeugt sind. Ohne Hoffnung kann man nicht leben. Heute spüren wir mehr Angst als Hoffnung. Der Angst wird mit den Waffen des Glaubens und des Gebets begegnet. Jetzt ist die Zeit der Hoffnung. Ich glaube, dass das Gegenmittel gegen Gewalt und Verzweiflung, woher sie auch kommen, darin besteht, Hoffnung zu schaffen und zu Hoffnung und Frieden zu erziehen.
Schulen und Universitäten kommt hier eine Schlüsselrolle zu: Hier müssen wir beginnen, die Menschen zum Frieden und zur Gewaltlosigkeit zu erziehen, das heißt, einander zu glauben, zu kennen und zu schätzen und vor allem einander zu begegnen, was im Moment leider nicht geschieht. Die Richtung ist eher umgekehrt: wir distanzieren uns voneinander. Propheten des Friedens zu sein bedeutet, unsere Aufmerksamkeit auf das Drama beider Völker zu richten, des israelischen und des palästinensischen. Wir müssen lernen, beide zu lieben, sie als Nachbarn und Freunde zu sehen. Nur so werden Mauern fallen und neue Brücken gebaut, die fähig sind zu „einer Liebe, die alle politischen und räumlichen Grenzen übersteigt“ (Papst Franziskus, Fratelli tutti, Nr. 1).
Auch in Kriegszeiten sind wir aufgerufen, Gesten der Brüderlichkeit, des Friedens, des Willkommens, der Vergebung und der Versöhnung zu vervielfachen. Ich möchte noch weiter gehen: Wir alle und damit meine ich auch mich selbst und alle, die soziale, politische und religiöse Verantwortung tragen, müssen uns engagieren, um eine „Mentalität des Ja“ gegenüber der „Strategie des Nein“ zu schaffen. Ja zum Guten, Ja zum Frieden, Ja zum Dialog, Ja zum Anderen zu sagen darf keine bloße Rhetorik sein, sondern muss für ein verantwortungsvolles Engagement stehen, das bereit ist, Raum zu schaffen, anstatt ihn einzunehmen, einen Platz für den Anderen zu finden und ihn nicht abzuweisen.
Es gibt einen Weg, als Christ im Nahen Osten zu leben und eine christliche Art und Weise, den Krieg zu erleben. Jesus ist kein Guerillakämpfer, wie ihn manche darstellen wollen. Er ist kein Eiferer oder Theologe der Revolution, wie Barabbas, sondern er hat die wirkliche Revolution gebracht: Nicht um das Reich Gottes in der Welt zu „verwässern“, sondern um ihm aus göttlichen und himmlischen Wirklichkeiten heraus Würze und Sinn zu verleihen. Jesus ist nicht in die Welt gekommen, um sie zu verdammen, sondern um sie zu retten.
Als Kirche haben wir nicht oft die Möglichkeit, an internationalen Verhandlungen teilzunehmen, aber wir haben die Pflicht, einen Beitrag zum Leben in dieser Welt zu leisten, Gemeinschaften aufzubauen, die vom Geist der Versöhnung und des Willkommens durchdrungen sind, die offen und bereit für Begegnungen sind und echte Räume für Geschwisterlichkeit und ernsthaften Dialog bereitstellen. Das Evangelium fordert uns dazu auf.