Die Zukunft des Jüdisch-Christlichen und interreligiösen Dialogs in Israel

Fraglos war es das Dokument Nostra Aetate, verbreitet vom Zweiten Vatikanischen Konzil, das insbesondere das jüdisch-christliche Gespräch veränderte, aber auch einen allgemein Wandel im interreligiösen Diskurs unserer Zeit herbeiführte.

Nostra Aetate öffnete nicht nur den Dialog zwischen der Katholischen Kirche mit anderen Kirchen und dem jüdischen Volk, es eröffnete gleichzeitig den Dialog zwischen der Katholischen Kirche und anderen Religionen, inklusive dem Islam. In der Tat machte dieses Dokument den Dialog zwischen führenden Persönlichkeiten der drei monotheistischen Religionen „koscher“ (i.e. erlaubt) und „salonfähig“.

Heute ist es fast überall auf der Welt allgemeine Praxis, dass Führungspersönlichkeiten der religiösen Gemeinschaften auf allen erdenklichen Ebenen miteinander im Gespräch sind und wo immer möglich zusammenarbeiten, um die Welt zu heilen und zu einem besseren Ort zu machen. Dies ist auch in Israel der Fall, wo ich seit über 37 Jahren lebe. Interreligiöser Dialog ist ein Teil unseres Umfeldes, ein wesentlicher Bestandteil unseres täglichen Lebens, obwohl ich nicht behaupten kann, dass er die „Massen“ schon erreicht hat (wie er die Massen nirgendwo erreicht hat). Dennoch ist dieser Dialog lebenswichtig für uns und für unsere gegenseitigen Beziehungen in der Zukunft.

Aber bevor ich mich der Zukunft zuwende, möchte ich noch etwas sagen zu dem, was meine jüdischen Kollegen und ich aus dem jüdischchristlichen Dialog in Israel gelernt haben.

Ich hatte die Gelegenheit viele führende christliche Persönlichkeit in Jerusalem persönlich kennenzulernen – Katholiken, Anglikaner, armenische und griechische Orthodoxe. Viele davon sind gute Freunde und vertrauensvolle Partner im Dialog geworden. Diese Kontakte führten dazu, dass ich oft der erste war, der auf die Zerstörung ihrer Kirchen oder Priesterse minare durch jüdische Extremisten öffentlich meine Stimme erhob.

Eines meiner Ziele im jüdisch-christlichen Dialog in Israel war, mit „einheimischen“ Christen (eher als mit zufällig in Jerusalem lebenden internationalen Christen, die nur vorrübergehend hier sind) ins Gespräch zu kommen. Dadurch konnte ich viel lernen über das, was Christen hier vor Ort theologisch, politisch und praktisch denken und fühlen.

Dementsprechend erfuhr ich, dass sie aufrichtig in Sorge sind wegen der immer kleiner werdenden christlichen Bevölkerung in Jerusalem, dass sie auch ganz persönlich beunruhigt sind wegen der anti-christlichen Haltung jüdischer Extremisten, und letztlich bereitet ihnen die noch immer andauernde israelische Besatzung Ost-Jerusalems und der Westbank großen Kummer, nicht zuletzt wegen ihrer schädlichen Auswirkungen auf ihre eigenen Gemeinden.

Für den Rest dieses kurzen Artikels möchte ich mich mehr auf die Zukunft als auf die Vergangenheit konzentrieren. Viel ist bereits geschrieben worden über die veröffentlichten und verbreiteten Dokumente, die dazu beitrugen, die positiven Entwicklungen im jüdisch-christlichen Verhältnis in den letzten fünfzig Jahren einen großen Schritt voranzubringen. Wir sind in der Tat weit vorangekommen im Jüdisch-Christlichen Dialog! Es ist ein erstaunlicher und beispielloser Erfolg. Nun ist es aber Zeit, in die Zukunft zu schauen, und auf die Herausforderungen, denen wir uns in den nächsten fünfzig Jahren werden stellen müssen.

Auf drei Hauptproblemfelder werde ich mich konzentrieren:

  • Welches sind die wesentlichen Themen und Herausforderungen, mit denen es Juden und Christen in Israel in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zu tun haben werden?
  • Warum ist der Dialog mit den Muslimen so wichtig – und wird dennoch so vernachlässigt – und was muss getan werden?
  • Wie können wir unseren Dialog mit der gesellschaftspolitischen Wirklichkeit verbinden, vor allem im Blick auf die entscheidenden Fragen des Friedensprozesses zwischen Israel und Palästina und im Rest der Welt?

Die großen Fragen und Herausforderungen für Juden und Christen Das Problem Nummer eins, mit dem wir es in Israel – und auf der ganzen Welt – zu tun haben, heißt Ignoranz. Nach all den Jahren wissen wir immer noch zu wenig von – und übereinander.

Daraus ergibt sich die dringende Notwendigkeit vielfältiger Bildungsprogramme in diversen Bezügen.

In den letzten 50 Jahren sind viele historische Erklärungen der Kirchen zu ihrem Verhältnis zum Judentum veröffentlicht und verbreitet worden. Die Wahrheit ist, dass Christen viel mehr getan haben, um ihre Gläubigen über Juden und das Judentum zu informieren, als Juden das über Christen und Christentum getan haben. Zwei Gründe sind dafür zu nennen. Erstens die asymmetrische Natur des jüdisch-christlichen Gesprächs, und zweitens die Tatsache, dass das Judentum eher ein integraler Bestandteil des Christentums ist und bleibt, was umgekehrt nicht so der Fall ist.

Es erscheint mir unannehmbar, dass Juden weiterhin über Katholiken – ja, das Christentum im Allgemeinen – so sprechen, als ob es das zweite Vatikanische Konzil nie gegeben hätte. Ebenso sollten Katholiken nicht mehr über das Judentum so reden und lehren können, als ob es den Zionismus nie gegeben hätte und der Staat Israel nicht existierte. Wir Juden in Israel und der Diaspora werden noch weitaus größere Anstrengungen unternehmen müssen, um unsere Gemeinden über den revolutionären Wandel im christlichen Verhältnis zum Judentum in den letzten Jahrzehnten zu informieren. Dies gilt insbesondere für Israel, wo wir noch einen langen Weg vor uns haben, um unsere gegenseitigen Traditionen, Religionsgeschichten und gegenwärtigen Sorgen wahrzunehmen. Zum Zweiten habe ich seit langem den Eindruck, dass der Dialog sich mehr auf das Verhältnis der Gemeinschaften untereinander als auf das Voneinander-Lernen konzentriert. Meiner Meinung nach muss auch dies sich ändern. Wir müssen einen echten interreligiösen Dialog entwickeln; ein Dialog, der auf Gegenseitigkeit sowie der existentiellen Notwendigkeit beruht, voneinander und miteinander zu lernen mit dem Ziel, bessere Wege des Zusammenlebens in unseren jeweiligen Gesellschaften, Ländern und schließlich auf der ganzen Welt zu entdecken.

In Israel muss unser Dialog künftig mehr auf Gegenseitigkeit beruhen, d.h. beide Seiten müssen mehr Verantwortung für die Verbesserung unserer Beziehungen zueinander und innerhalb der eigenen Gemeinschaft übernehmen. Diese neue Ära der Gegenseitigkeit wird uns unweigerlich auf theologisches Territorium führen. Davor müssen wir uns nicht fürchten. Im Gegenteil, wir müssen mehr über des Anderen Glaubensgrundlagen lernen – so wie es seit einigen Jahren immer stärker in neuen Dialoggruppen, Seminaren und Konferenzen geschieht – eine absolute Notwendigkeit, wenn wir ernsthaft einander verstehen wollen und friedliche Beziehungen zueinander pflegen wollen.

Wir müssen zentrale Glaubenssätze des je - weils Anderen studieren, wie etwa Schöpfung, Offenbarung, Gerechtigkeit und Frieden, Erlösung und Messianismus, heilige Orte (z.B. das Land Israel) und heilige Zeit (der Shabbat und die Feiertage), Universalismus und Partikularismus und vieles mehr. Ebenso müssen wir die Texte und Auslegungstraditionen des jeweils Anderen studieren, uns damit vertraut machen, auf welche Weise eine jede Tradition es gelernt hat, nach ihren heiligen Texten zu leben.

Indem wir dies tun, werden wir erfahren, was uns vereint und was uns trennt. Wir müssen nicht in allem übereinstimmen. Das wäre nicht nur oberflächlich, sondern auch ganz einfach falsch. Dies ist leider allzu oft eine der tückischen Fallen im interreligiösen Dialog. Vielmehr müssen wir in unseren gemeinsamen Gesprächen jene Bereiche entdecken, in denen wir uns unterscheiden und unverwechselbar sind und jene, in denen uns viele Gemeinsamkeiten miteinander verbinden und was manchmal mit „jüdisch-christlicher Tradition“ gemeint ist.

Warum ist der Dialog mit dem Islam so wichtig – und wird dennoch so vernachlässigt – und was muss getan werden?

In Israel leben wir als eine jüdische Mehrheit mit einer starken arabischen Minderheit von 20% der israelischen Bürger – von denen die Meisten Muslime sind, jedoch hat unser Dialog sie noch nicht genug mit eingeschlossen. Warum eigentlich nicht?

  • Weil wir alle Angst haben. Wir leiden unter Islamophobie. Auf der einen Seite ist unsere Angst berechtigt. Auf der anderen ist sie jedoch auch eine “Phobie“, genährt von Gerüchten und der Stereotypisierung einer ganzen Gesellschaft, einer ganzen Religion und ihren Gläubigen.
  • Weil wir und unsere Gesellschaft von den Medien weitreichend beeinflusst worden sind – die allein fundamentalistische, radikale, mör derische Muslime, sowie den ISIS und Al- Quaida darstellen. Die Medien indoktrinieren uns täglich mit der Botschaft: So sind sie, die Muslime! Das ist ihre Religion. So denken und handeln sie eben. Und die meisten unserer Politiker und unsere Gesellschaft stimmen dem zu.
  • Weil wir im Grunde kein wirkliches Interesse daran haben, den Islam richtig kennen zu lernen. Wir beschäftigen uns nicht mit den heiligen Texten, den heiligen Lehren der Muslime, im Gegenteil, wir verlassen uns auf das Internet oder die Boulevardpresse, um etwas über den „wahren“ Islam zu erfahren. Dies muss ein Ende haben! Den Hass auf die Religion eines Anderen zu pflegen – nur weil extremistische Gruppen, die behaupten von der Religion geleitet zu werden, sie aber bis zur Unkenntlichkeit verzerren – ist kein gutes Rezept, um eine bessere Welt für alle Kinder Gottes zu schaffen.

Entsprechend würde ich behaupten, dass der Aufbau eines echten Dialoges mit den israelischen Muslimen wie auch jenen in anderen Ländern der Erde, jedoch angefangen in unserem eigenen Umfeld, eine der höchsten ethischen und notwendigen Aufgaben für Juden und Christen heute ist und zukünftig sein wird. Wir können uns nicht länger weder Apathie noch eine Vogel-Strauß Haltung leisten.

Seit den letzten 25 Jahren bin ich aktiv in diesem Dialog und habe einen ganz anderen Islam kennen gelernt als den, den uns die Nachrichten alltäglich und das Internet im Minutentakt präsentieren. Vielen islamischen Rechtsgelehrten, Imanen, Scheichs und ganz gewöhnlichen Muslimen bin ich begegnet — sowohl in Israel als auch im internationalen Kontext – sie alle predigen und lehren einen moderaten Islam, der auf ethischen und gerechten Idealen beruht, die den grundlegenden humanistischen Werten sehr ähnlich sind und von den Hauptströmungen des Judentums und Christentums ebenfalls vertreten werden. Meiner Meinung nach müssen wir diesem Dialog einen hohen Stellenwert auf unserer interreligiösen Agenda geben, denn er ist für unsere Zukunft unerlässlich! Außerdem haben wir erkannt, dass dies nicht nur möglich ist, sondern dass moderate Muslime vielmehr bereit und willens sind, uns als verlässliche Partner für einen fruchtbaren Dialog und gemeinsame Arbeiten zur Seite zu stehen.

Wie können wir unseren Dialog mit der gesellschaftspolitischen Wirklichkeit verbinden, vor allem im Blick auf den Friedensprozess zwischen Israel und Palästina und im Rest der Welt?

Was wir brauchen ist das, was ich „den anderen Friedensprozess“ nenne – den pädagogischen, religiösen und spirituellen, der den politischen ergänzen muss.

Der jüdisch-christliche wie auch der interreligiöse Dialog wird bald unbedeutend und überholt sein, wenn wir es nicht schaffen, die entscheidenden Fragen von Frieden und Gerechtigkeit in dieser Welt anzusprechen. Ebenso wie dieser Dialog nicht länger auf Juden und Christen begrenzt bleiben darf, sollte er auch nicht länger eine Randerscheinung und abstrakt bleiben, er muss sich der Zukunft statt der Vergangenheit zuwenden. Er muss sich verbinden mit denen, die Friedensarbeit leisten und sich für eine ge rechtere Welt einsetzen, besonders hier in Israel.

In meinen Begegnungen mit vielen leitenden Vertretern der Kirchen – katholischen wie protestantischen – ist mir aufgefallen, dass diejenigen, die sich „im Dialog“ engagieren eine homogene Gruppe darstellen und jene, die sich für „für Frieden und Gerechtigkeit“ einsetzen, eine andere homogene Gruppe bilden. Ihre Wege sind parallel und kreuzen sich kaum. Es ist an der Zeit, beide Wege zusammen zu führen mit dem Ziel, einen interreligiösen Dialog für Gerechtigkeit und Frieden zu schaffen!

In Zukunft wird daher interreligiöser Dialog, Bildung und gemeinsames Handeln mehr als je zuvor gebraucht werden. Es gilt, neue Programme zu entwickeln, die die nächste Generation befähigen, die grundlegenden Fertigkeiten zu erlernen, in einer gemeinsamen Welt friedlich zusammen zu leben. In meinem Teil der Welt – Israel, Palästina und dem Nahen Osten — herrscht viel Verzweiflung. Viele Menschen, auf beiden Seiten des Konflikts, haben jede Hoffnung aufgegeben. Sie haben das Gefühl, der Frieden werde nie kommen, er sei eine Illusion, ein Ding der Unmöglichkeit.

Es ist meine feste Überzeugung, dass wir weiterhin unseren Teil dazu beitragen müssen, damit Wunder geschehen! Unsere Aufgabe in diesem Mensch-zu-Mensch Friedensprozess ist noch lange nicht erfüllt. Darüber hinaus sind wir auf die Hilfe von Juden, Christen und Muslimen aus dem Ausland angewiesen. Wir leben in einer Zeit, in der es nicht um ein „sich-abkoppeln“ von den Möglichkeiten des Friedensprozesses sondern um ein „sich-ankoppeln“ geht. Über Grenzen hinweg und innerhalb der Gesellschaft um der Kinder Gottes willen in dieser Region. Wir müssen eine Führungsrolle dabei einnehmen, Hoffnung zu wecken und der Verzweiflung und Trauer zu widerstehen.

Ich bin mir sicher, dass die Modelle, die wir hier über die Jahre hinweg entwickelt haben, auf die Situation in anderen Ländern übertragen werden können, wo im Dialog engagierte Menschen darauf abzielen, mehr Einfluss auf die sozialen und politischen Probleme zu gewinnen, mit denen sie und ihre Mitmenschen gemeinsam konfrontiert sind. Über kurz oder lang wird Religion ein Teil der Lösung und nicht länger ein Teil des Problems sein; und zwar in dem Maße, in dem Menschen aus unterschiedlichen religiösen Traditionen und von kultureller Herkunft sich zusammenschließen, um sich gemeinsam den Herausforderungen und Krisen der Gegenwart und Zukunft zu stellen.

Editorische Anmerkungen

Quelle: "Nun gehe hin und lerne", Themenheft 2017, hrsg. v. Deutschen Koordinierungsrat, Bad Nauheim 2017.
Aus dem Englischen übersetzt von Eva Schulz-Jander und Christoph Münz.