Die tiefreichenden Wurzeln des (europäischen) Antisemitismus

Vor dem Hintergrund der viel beachteten österreichischen "Antisemitismus-Studie 2018", die vom Präsidenten des österreichischen Nationalrates Wolfgang Sobotka (ÖVP) veranlasst wurde, ist der nachfolgende, längere Text "Die tiefreichenden Wurzeln des (europäischen) Antisemitismus" aus der Feder des österreichischen Politik- und Kommunikationswissenschaftlers Maximilian Gottschlich entstanden. Angefertigt wurde Gottschlichs Analyse ebenfalls im Auftrag des Präsidenten des österreichischen Nationalrats und dient als Teil einer theoretischen Aufarbeitung des Problems, um zugleich auch die präsentierten empirischen Ergebnisse der "Antisemitismus-Studie 2018" besser einordnen zu können. Gottschlichs Studie, die auf religionspsychologische, psychopathologische und psychosoziale Ursachen des Antisemitismus eingeht, erscheint hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.
JCR

Judeophobie, also die irrationale Abneigung gegen alles Jüdische, gibt es, seit es Juden gibt. Der Begriff „Antisemitismus“ wurde Ende des 19. Jahrhunderts geprägt, um der vorwiegend religiös motivierten Judenfeindlichkeit in Deutschland ein quasi-wissenschaftliches Mäntelchen umzuhängen und damit die Emanzipation der Juden zu bekämpfen. Seit den 1940er-Jahren verknüpft sich mit dem Begriff des Antisemitismus ein sozio-pathologisches Geschehen, das sich aus komplexen kollektiv-psychischen und sozial-psychischen Ursachen speist. Ernst Simmel, der noch mit Sigmund Freud befreundet war und als „Psychoanalytiker des Antisemitismus“ gilt, plädierte gemeinsam mit Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und anderen Pionieren der frühen Antisemitismusforschung dafür, Antisemitismus als „soziale Krankheit“ zu begreifen, als „ein bösartiges Geschwür am Körper der Zivilisation“. Oder wie es der deutsche Publizist Ralph Giordano ausdrückte: Antisemitismus ist ein „geistesgeschichtlicher Irrweg, eine Fehlhaltung in der Geistesgeschichte“.

Dieser Irrweg mündete nach zwei Jahrtausenden der Verfolgung der Juden durch die Geschichte hindurch in die Shoah, im Genozid an den europäischen Juden, und er ist – müssen wir ratlos feststellen – noch lange nicht zu Ende. Und so gilt heute, wie damals, was Hannah Arendt so auf den Punkt brachte: „Antisemitismus ist genau das, was er vorgibt: eine tödliche Gefahr für Juden und sonst nichts.“

Der „Zivilisationsbruch“ der Shoah hat den global agierenden und sich zunehmend radikalisierenden Antisemitismus nicht gebrochen, die Aufklärungsbemühungen der vergangenen Jahrzehnte vermochten dem „Antisemitismus nach Auschwitz“ nichts von seiner Virulenz zu nehmen. Antisemitismus ist kein Thema wie jedes andere auch. Er entzieht sich seiner stringenten wissenschaftlichen Erklärbarkeit, weil er keiner rational einsehbaren Gründe bedarf – Antisemitismus ist das grundlos Böse. Wir müssen uns also – auch wenn es im Zeichen eines wissenschaftlich-technischen und rationalen Weltbildes schwerfällt – von dem Gedanken verabschieden, dass es sich beim Antisemitismus um eine bestimmte Denkweise oder Meinung handelte, zu der man sich in ein rationales Verhältnis setzen könnte. Vielmehr handelt es sich beim Antisemitismus um ein persistentes Leiden der Gesellschaft, dessen pathologische Symptomatik in den verschiedenen Formen und Varianten des destruktiven Vorurteils gegen Juden zum Ausdruck kommt. Jean-Paul Sartre hat darauf hingewiesen, dass der Antisemitismus eine Obsession sei, eine Leidenschaft, die sich rationaler Argumentation und damit auch der Aufklärung weitgehend entzieht. Antisemitismus ist aufklärungsresistent. Ernst Simmel schreibt: „Der Antisemitismus ist irrational, und weil er die Vernunft als Regulativ in den zwischenmenschlichen Beziehungen außer Kraft setzt, wird er zwangsläufig desintegrierend auf das Zusammenleben wirken (…). Die Erfahrung lehrt, daß ein Appell an die Vernunft zur Verteidigung der Juden keinerlei Nutzen bringt. Die antisemitische Haltung folgt einem irrationalen Trend, der im Lauf der Geschichte vielen Millionen Juden das Leben gekostet hat. (…) Die antisemitische Vorstellung vom Juden ist offensichtlich von einem Verfolgungskomplex überschattet. (…) Der Antisemit haßt den Juden, weil er glaubt, daß der Jude an seinem Unglück schuld ist. Er verfolgt den Juden, weil er sich von ihm verfolgt fühlt.“

Antisemitismus – wie eine Schlange, die sich häutet

Die Juden Europas haben es heute mit einer dreifachen antisemitischen Bedrohung zu tun: Sie sind zum einen mit einem immer noch nicht überwundenen christlich geprägten, europäischen Antisemitismus konfrontiert. In katholischen Ländern mit national-konservativen Regierungen, wie in Polen oder Ungarn, ist dieser zum Teil religiös geprägte Antisemitismus offenkundiger als anderswo; zum anderen spüren die Juden in der Diaspora immer deutlicher den sich radikalisierenden Antizionismus von rechts bis links; und sie haben schließlich drittens unter einem nach Europa importierten, gewaltbereiten, sich globalisierenden, kulturell und religiös tief verwurzelten islamischen Judenhass zu leiden.

Nimmt man diese unterschiedlichen Antisemitismen zusammen, dann ergibt das eine giftige Mixtur antisemitischer Stereotype, Klischees und Weltverschwörungsfantasien. Die steigende Zahl an Attentaten gegen Leib und Leben westeuropäischer Juden ist nur die Spitze des Eisbergs einer tiefgehenden Ideologie des Hasses, die sich – mehr als siebzig Jahre nach der Shoah – heute wieder in Europa ausbreitet. Und diese antijüdische Obsession speist sich nicht nur aus dem Schuldumkehrantisemitismus der Rechten, der den Juden selbst die Schuld an ihrer Verfolgung andichtet, sondern aus einer explosiven Mischung aus linkem Antizionismus und islamischem Antijudaismus. Der gemeinsame Feind ist der jüdische Staat – Israel ist der gehasste kollektive Jude, der für alles Übel in der Welt verantwortlich gemacht wird. Der Vorwand, dessen sich diese Melange antijüdischer Obsessionen bedient, ist der Nahostkonflikt. Aber die Anlässe sind austauschbar: Denn der Antisemitismus bedarf keiner Gründe; er ist selbst der Grund, der sich die – vermeintlichen – Tatsachen sucht, an denen er sich entzünden kann. Diese Obsession gegen alles Jüdische entspringt nicht nur den Köpfen von Migranten aus der Türkei und arabisch-islamischen Herkunftsländern, sondern gedeiht auch auf dem fruchtbaren Boden europäischer Mehrheitsgesellschaften. Das macht die besondere Brisanz der Situation aus. Eine Brisanz, die darin besteht, dass sich islamischer Judenhass mit antisemitischen Ressentiments, die im christlich geprägten kollektiven Unbewussten europäischer Gesellschaften fest verankert sind, zu einer explosiven Mischung amalgamiert.

Der Antisemitismus ist wie eine Schlange, die sich häutet – sie ändert zwar ihr Aussehen, aber es bleibt immer dieselbe gefährliche Schlange. Der nationalsozialistische Antisemitismus fiel auf den fruchtbaren Boden eines durch Jahrhunderte hindurch aufbereiteten, theologisch-religiös motivierten und legitimierten christlichen Antijudaismus. Der „neue“ Antisemitismus, der „Antisemitismus nach Auschwitz“ resultiert zum einen Teil aus der Verdrängung dieser, in den Tiefenschichten des kollektiven Unbewussten europäischer Gesellschaften fest verankerten Antijudaismus; zum anderen speist sich der moderne Antisemitismus, der Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz aus dem psychologischen Mechanismus der Schuldabwehr, die sich als Schuldumkehr und Schuldprojektion manifestiert. Davon sind insbesondere die Tätergesellschaften Deutschland und Österreich betroffen, aber auch weite Teile der von den Nazis okkupierten europäischen Länder, die sich der nationalsozialistischen Rassenpolitik und ihrem eliminatorischen Antisemitismus unterworfen haben.

Im Wesentlichen sind es drei komplexe, in verborgene Tiefenstrukturen der modernen Gesellschaft reichende und sich demoskopischen Methoden weitgehend entziehende Wurzelstränge, die den vielfältigen Manifestationen des Antijudaismus und Antisemitismus zugrunde liegen. Sie dienen zwar nicht unbedingt der Erklärung – als irrationales Phänomen entzieht sich der Judenhass rationaler Erklärung –, aber doch der besseren Erkennbarkeit der Komplexität des Antisemitismus. Zu diesen in kollektiven Tiefenschichten sedimentierten judenfeindlichen Gemengelagen zählen Motivkomplexe sowohl religionspsychologischer als auch sozialpsychologischer und psychopathologischer Art. Aus diesem dreifachen, sich überlagernden und wechselseitig stimulierenden Potenzial destruktiver Dispositionen resultiert ein Zustand, den ich als antisemitische Immunschwäche europäischer Gesellschaften bezeichne. Diese antisemitische Immunschwäche Europas ist dafür verantwortlich, dass auf den immer gewaltbereiter werdenden islamischen Antisemitismus zwar mit gesetzlichen Maßnahmen, kaum aber mit glaubwürdig und nachhaltig vertretenen anti-antisemitischen Grundeinstellungen in der Öffentlichkeit reagiert wird. Europa ist in seiner offiziellen Haltung, dem importierten muslimischen Antisemitismus den Kampf anzusagen, unglaubwürdig, weil es am eigenen, wachsenden Antisemitismus kränkelt.

1. Religionspsychologische Wurzeln – religiös motivierte antisemitische Nachwehen im (ehemals) christlichen Europa

In der modernen, säkularen Gesellschaft hat sich die christliche Religion als prägende Kraft der Lebensgestaltung weithin verflüchtigt und immanent-weltlichen Heilsangeboten oder Sinnorientierungen fernöstlicher Religionen und Weisheitslehren Platz gemacht, so dass man meinen könnte, einem christlichen Antisemitismus würde es an spezifisch religiösen Motiven fehlen. Das aber trifft nur bedingt zu. Auch wenn sich der religiöse Glaube in vielen europäischen Gesellschaften verflüchtig hat und neuen Glaubensformen und Glaubenspraktiken gewichen ist, so bedeutet dies keineswegs, dass sich mit dem tradierten religiösen Glauben auch der durch zwei Jahrtausende hindurch religiös begründete Antijudaismus verflüchtigt hätte. Dieser antijüdische Bodensatz negativer Mythen über Juden hat sich im säkularen Zeitalter nicht einfach aufgelöst, sondern er hat lediglich sein äußeres Erscheinungsbild gewandelt. Zu diesem Bodensatz negativer Mythen gehört vor allem die seit dem frühen Christentum und seit der Spaltung des Christentums vom Judentum im 4. nachchristlichen Jahrhundert betriebene und praktizierte christliche Theologie der Verachtung des Judentums.

Theologie und religiöse Praxis der Verachtung der Juden

Die Juden, so die theologische Doktrin der katholischen Kirche bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil 1965, seien des Christusmordes schuldig und von Gott auf ewig verworfen, an ihre Stelle sei nun das „neue Israel“ in Gestalt der Kirche getreten. Auch wenn diese und andere theologischen Doktrinen heute weithin obsolet sind, so wirkt die durch die gesamte Geschichte der Christenheit hindurch betriebene Indoktrinierung heute noch nach. Sie bleibt als eine Art religiöse Hintergrundstrahlung erhalten, auch wenn sich religiöse Überzeugungen, Einstellungen und Praktiken längst gewandelt und neue Formen angenommen haben. Der christliche Glaube ging – der christlich geprägte und in den kollektiven psychischen Tiefenschichten verankerte Antijudaismus aber blieb. Zwar hat sich das religiöse Motiv dieses Antijudaismus erledigt – aber nicht deswegen, weil die Kirche in seiner Bekämpfung so erfolgreich gewesen wäre, sondern weil es sich von selbst erledigt hat. Die gottlose Gesellschaft bedarf für ihren Antijudaismus keiner religiösen Gründe mehr. Die nüchterne Bilanz der Veränderung des antisemitischen Klimas im zumindest immer noch christlich sozialisierten Europa zeigt: Weder die Weichenstellungen durch das Zweite Vatikanische Konzil und das maßgebliche Konzilsdokument Nostra aetate vor 50 Jahren noch die zahlreichen Stellungnahmen beider großen Kirchen in den vergangenen Jahrzehnten zum Thema Judentum führten zu einer Form christlicher Religiosität, die gegen Judenfeindlichkeit immunisieren würde. Heute muss sich die katholische Kirche, müssen sich die christlichen Kirchen insgesamt eingestehen, dass sie in der Antisemitismusfrage, dass sie in der Frage wahrhafter Versöhnung mit dem Judentum völlig versagt haben. Die kirchlichen Kurskorrekturen gegenüber dem Judentum sind über die Organisation interreligiöser Dialogforen weit abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit nicht wesentlich hinausgekommen. Angesichts eines sich seit Jahren und Jahrzehnten rasant ausbreitenden Antisemitismus kommt man an der bitteren Diagnose nicht vorbei: Das Christentum im heutigen Europa ist in seinem Verhältnis zum Judentum weit hinter Nostra aetate – also in vorkonziliare Zeiten – zurückgefallen.

Die Botschaft des Zweiten Vatikanischen Konzils vor 50 Jahren war: Christentum kann es nur gemeinsam und in familiärer Solidarität mit dem Judentum geben. Es gibt kein Christentum ohne Judentum, weder religionsgeschichtlich noch heilsgeschichtlich. Beide Religionen stehen zueinander in einem besonderen Verhältnis der Nähe und einer gemeinsamen heilsgeschichtlichen Verantwortung. Es war Papst Johannes Paul II., der bei seinem denkwürdigen Besuch in der römischen Synagoge am 13. April 1986 dieses denkwürdige, wenn auch späte Bekenntnis zum Judentum ablegte: „Die jüdische Religion ist für uns nicht etwas ,Äußerliches‘, sondern gehört in gewisser Weise zum ,Inneren‘ unserer Religion. Zu ihr haben wir somit Beziehungen wie zu keiner anderen Religion. Ihr seid unsere bevorzugten Brüder und, so könnte man gewissermaßen sagen, unsere älteren Brüder.“

Das Problem ist, dass dieses intime Verwandtschaftsverhältnis vielfach nur auf dem Papier steht. Es ist nicht in die Herzen der Christen eingeschrieben. Solange dies aber nicht geschieht, wird der Antisemitismus auch in der modernen Christenheit nichts von seiner verführerischen, destruktiven Kraft verlieren. Die negativen Mythen über Juden sind unter Christen – nicht weniger als unter Nichtchristen – heute primär auf den jüdischen Staat Israel gerichtet. Das hat, zumindest was den Katholizismus betrifft, seinen historischen Grund: Aus Sorge über eine drohende Verfolgung der katholischen Christen in der arabischen Welt sollte aus dem Konzilsdekret Nostra aetate keine proisraelische Haltung des Vatikans herausgelesen werden können. Erst dreißig Jahre nach der vatikanischen Weichenstellung für ein neues, positives Verhältnis zum Judentum, 1994, nimmt der Heilige Stuhl diplomatische Beziehungen mit dem Staat Israel und zugleich auch offizielle Beziehungen mit der PLO auf.

Die Kirche revidierte zwar ihr Verhältnis zum Judentum, aber nur zum Judentum der Bibel. Ihr Verhältnis zum heutigen Judentum und damit ihre Beziehungen zum jüdischen Staat blieb äußerst ambivalent und voller Irritationen für Israel. Zwar haben die christlichen Kirchen vor dem Hintergrund der Shoah historische Gewissenserforschung betrieben, aber daraus nicht die notwendigen theologischen und auch politischen Schlussfolgerungen zum besseren Verständnis des gegenwärtigen Judentums und der bedrohlichen Realität eines wuchernden Antisemitismus im Gewand des Antiisraelismus und Antizionismus gezogen. Nach wie vor fehlen Theorie und Praxis christlicher Solidarität mit dem heutigen Judentum, die immer auch Solidarität mit dem jüdischen Staat sein muss. So kommt es, dass der religiös motivierte und theologisch legitimierte Antijudaismus der Vergangenheit in den Formen des modernen Antijudaismus, nämlich Antiisraelismus und Antizionismus, weiterlebt: Aus den Gottesmördern von damals wurden die Palästinensermörder von heute. Der negative Mythos über Juden bedient sich lediglich eines anderen, säkularen Narratives – die Wirkung aber ist immer die gleiche: die Dämonisierung alles Jüdischen, insbesondere die Dämonisierung Israels. Dass an dieser Dämonisierung Israels mächtige Organisationen mitwirken, wie der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK), der den Boykott Israels unterstützt, oder die Organisation Pax Christi, die unter dem Titel Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität systematisch antiisraelische Propaganda betreibt, ist das eigentliche Skandalon.

Metaphysisches Ärgernis

Aber woher nimmt dieser Antijudaismus gerade auch im religiös-kirchlichen Umfeld seine unheimliche Persistenz? Bleiben wir noch bei möglichen, in kollektiven Tiefenschichten sedimentierten religionspsychologischen Ursachen. 1939 veröffentlichte Sigmund Freud im Londoner Exil, in das er 1938 aus Wien gezwungen wurde, vier Schriften über die Religion. Darunter die bekannteste Schrift dieses umfangreichen Alterswerks des Begründers der Psychoanalyse: „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“. Darin setzt sich Freud auf spekulative Weise mit der Entstehung und Entwicklung des Monotheismus und der jüdischen Religion auseinander. Zwar wurde an seiner religionsgeschichtlichen Rekonstruktion der Entstehung des Judentums und seiner Auseinandersetzung mit der Person Moses vielfach Kritik geübt. Aber unbeschadet davon bleibt Freuds darin enthaltener Entwurf der religionspsychologischen Motive des vormodernen wie des modernen Antisemitismus und seines Verhältnisses zur christlichen Religion von anhaltendem Interesse. Unbestreitbar hat Freuds psychoanalytische Theorie des Antisemitismus die moderne Antisemitismusforschung nachhaltig geprägt. Und sie vermag einiges Licht in die dunkle Motivlage des christlichen Antisemitismus zu werfen.

Diejenigen europäischen Völker, die sich besonders im Judenhass hervortun, seien, so Freud, erst spät und gegen ihren Willen zu Christen gemacht worden. Aber „unter einer dünnen Tünche von Christentum sind sie geblieben, was ihre Ahnen waren, die einem barbarischen Polytheismus huldigten. Sie haben ihren Groll gegen die neue, ihnen aufgedrängte Religion nicht überwunden, aber sie haben ihn auf die Quelle verschoben, von der das Christentum zu ihnen kam“. Diese „Verschiebung“ sei den „schlecht getauften“ Christen umso leichter gefallen, als die Evangelien „eine Geschichte erzählen, die unter Juden und eigentlich nur von Juden handelt“. Deswegen sei ihr Judenhass „im Grunde Christenhass“, und „man braucht sich nicht zu wundern, dass in der deutschen nationalsozialistischen Revolution diese innige Beziehung der zwei monotheistischen Religionen in der feindseligen Behandlung beider so deutlichen Ausdruck findet“. Als Freud dies schrieb, warf der Holocaust seine ersten Schatten voraus …

Dieser „fremde“ Gott der Juden, seine Gesetze und Vorschriften weckten bereits in den polytheistischen Gesellschaften der Antike antijüdische Ressentiments, die bis hin zu Vernichtungsfantasien reichten. Der mosaische Monotheismus war den Heidenvölkern mit ihrer Vielgötterei also schon in vorchristlicher Zeit ein anhaltendes Ärgernis. In diesem weit in die Religionsgeschichte zurückreichenden Ärgernis vermutet Freud eine zentrale religionspsychologische Ursache für den Judenhass.

Durch den Juden Jesus und seine Lehre wurden der mosaische Ein-Gott-Glaube und das verbindliche mosaische Gesetz zu den Heidenvölkern gebracht. Das war und das blieb ein Ärgernis. Denn diese Ethik des mosaischen Gesetzes, die auch die Ethik der Christen ist, steht im grellen Kontrast zu allem, was den instinktiven Orientierungen der Menschen entspricht. Mord, Ehebruch, Gier, Begehren dessen, was Besitz des anderen ist – all das wird durch das göttliche Gesetz des Moses verboten. Diese „transzendente Zumutung“ besteht darin, dass der Mensch über seine Selbstbezogenheit, seine Instinkte und Begierden hinauswachsen soll. Durch Verleugnung seines Egos soll sich sein Selbst entfalten. Der Mensch soll mehr sein als das, wozu ihn Biologie und Umstände gemacht haben – er soll der werden, der er sein könnte. Dieser mosaische Gott ist ein abstrakter Gott, ein Gott, von dem man sich kein Bild machen darf, der keine anderen Götter neben sich duldet und dessen „unaussprechlicher“ Name „Ich bin der Ich-bin-da“ für die Menschen zur Last wird, weil der Unsichtbare alles sieht. Was der Befreiung des Menschen aus der Abhängigkeit seiner Instinktausstattung dienen sollte, seiner Umwandlung zum vollkommenen Menschsein, wurde von den zum Christentum bekehrten heidnischen Völkern als Versklavung, als schweres Joch empfunden. Für die Last dieses Jochs rächten sie sich, so Freud, an denen, durch die dieses Joch in die Welt kam – an den Juden. Der Nationalsozialismus wollte eine neue Moral, eine Moral „jenseits von Gut und Böse“, die Herren-Moral des neuen „arischen Menschen“. Der Ausrottung des Judentums sollte – so die Absicht der Naziideologen – die des „verjudeten“ Christentums folgen.

Das Ärgernis, das der jüdische Glauben den Heiden war, verschärfte sich, als mit dem Christentum dieser Glauben der Juden in die Welt gebracht wurde. Denn Jesus Christus radikalisierte den moralischen Anspruch des mosaischen Gesetzes. Im Kernstück seiner Lehre, der Bergpredigt, forderte er, die Gesetze nicht nur äußerlich zu halten, sondern sie auch geistig zu befolgen. Mit dieser Forderung der Verinnerlichung der göttlichen Gebote war er zwar nicht der Erste, aber sicher der Radikalste. Schon die Propheten vor ihm mahnten, die Weisung und die göttlichen Gesetze zu verinnerlichen, um auch in ihren geistigen Gehalt einzudringen. Für Jesus, den galiläischen Rabbi und Wanderprediger, kommt es entscheidend auf die innersten Wünsche und Absichten des Menschen an, nicht so sehr darauf, das Leben nach einem äußeren Verhaltenscodex auszurichten. Es genügt nicht, mahnt Jesus, nur sein Verhalten an den Zehn Geboten auszurichten, aber innerlich etwas anderes zu wollen. Du sollst nicht nur nicht morden, sondern du sollst gar nicht hassen, ja nicht einmal über den anderen ein böses Wort verlieren; du sollst nicht nur nicht ehebrechen, sondern auch die Frau deines Nächsten nicht lüstern ansehen. Du sollst nicht nur deinen Nächsten wie dich selbst lieben, sondern auch deinen Feind.

Diese „hypermoralische“, letztlich unerfüllbar scheinende Lehre Jesu verschärfte noch den moralischen Druck, der von den Zehn Geboten ausging. Jesus setzt die Menschheit, soweit sie christlich wurde, unter psychischen Dauerstress. Was er lehrte und wofür er sich kreuzigen ließ, übersteigt auf Dauer die Möglichkeiten und Kräfte des Menschen. Es bleibt unerreichbar. Das Programm dieses Jesus, aus dem sich nach seinem Tod am römischen Kreuz das Christentum entwickelte, ist so anspruchsvoll, dass trotz aller christlichen Gnadenverheißungen das erbärmliche Scheitern der Menschen vorprogrammiert ist.

Die jesuanische Lehre, aus der dann später die christliche Religion wurde, konfrontiert den Menschen mit seinen innersten und tief verborgenen Mängeln. Konnte er es sich in der Welt der Götter und Nebengötter durch geschicktes Verhalten einrichten, mit den Göttern in eine strategische Beziehung des Gebens und Nehmens zu treten, so ist ihm dies im Christentum verwehrt. Von früh bis spät ist der Mensch jetzt mit seinem Scheitern konfrontiert, mit dem eigenen, nie zu bewältigenden Unvermögen. So liegt in der christlichen Religion das zweite Ärgernis, das von den Juden ausgeht. Denn sie haben ja den Juden Jesus hervorgebracht und über seine noch verschärfte Lehre der Verinnerlichung die Last der mosaischen Ethik der Zehn Gebote auferlegt bekommen.

George Steiner sieht – ähnlich wie Freud – in diesem Ärgernis den tiefsitzenden Grund für den Judenhass: „Aus diesem Druck geht, glaube ich, Abscheu hervor. (…) Nichts nährt in unserem Bewusstsein einen tieferen Haß als die uns aufgezwungene Einsicht, dass wir unzulänglich sind, dass wir Ideale verraten, deren Gültigkeit wir in vollem Umfang (und sei es auch nur unterschwellig) anerkennen, ja verherrlichen, deren Erfordernisse aber jenseits unserer Fähigkeit oder unseres Willens zu liegen scheinen.“ Diese Überlegung führt Steiner zur überraschenden und im ersten Moment paradox erscheinenden Schlussfolgerung, dass es nicht die Anklage des Gottesmordes, der angeblichen Komplizenschaft der Juden bei der Kreuzigung des Jesus von Nazareth ist, die dem Antisemitismus in den westlichen Ländern zugrunde liegt und ihn auch aufrechterhält. Nicht das „Erschlagen Gottes in der Person seines Sohnes“ sei es, was dem Abscheu gegen die Juden zugrunde läge; vielmehr sei es dieser Gott des jüdischen Monotheismus und seine Ethik, die diesen Hass gegen die Juden hervorgerufen hätten. „Nicht als dem Mörder, sondern als dem ‚Erzeuger‘ Gottes wird dem Juden nicht vergeben.“

So kommt auf theologischer und religionspsychologischer Ebene der Betrachtung des Antisemitismus das Problem des Selbsthasses ins Spiel, von dem weiter unten noch die Rede sein wird. Denn unerträglich ist die ständige Erinnerung daran, „was wir sein sollten und in so krasser Weise nicht sind“. Für diese anhaltende Erfahrung des Scheiterns an den eigenen Ansprüchen, der quälenden Einsicht, nie das in der Lehre Jesu vorgegebene Ziel erreichen zu können, macht die Christenheit unbewusst die Juden verantwortlich. Dieser permanenten Enttäuschung ausgesetzt zu sein, das vorgegebene Ziel nicht erreicht zu haben und auch nie, so wie verlangt, erreichen zu können – dafür hasst der Mensch sich unbewusst und verlagert diesen Hass auf jene, die allein an diesem Ungemach Schuld tragen: die Juden.

Vor diesem gedanklichen Hintergrund wird auch – nur am Rande angemerkt – erklärbar, warum Hitler als neuer, säkularer ‚Messias‘ so großen Anklang finden konnte und als ‚Erlöser‘ gefeiert wurde; und warum die neo-heidnische Rassenideologie einschließlich der proklamierten Negation der universellen Bedeutung der Moralprinzipien der Zehn Gebote in weiten Teilen der Bevölkerung als Weg zum Heil empfunden werden konnte. Der neo-heidnische Nationalsozialismus brachte die Erlösung vom moralischen Druck der jüdisch- christlichen Moral, die gegen alle natürlichen Instinkte des Menschen steht. Im Dienst und unter dem Schutz des Nationalsozialismus konnte alle Barbarei, Bestialität und hemmungslose Gewalt, die unter der dünnen zivilisatorischen, christlich gefärbten Schicht schlummerte, exzessiv ausgelebt werden. Es konnte geplündert, gebrandschatzt und gemordet werden, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Die Raubmörder konnten ungestraft ihr Geschäft besorgen. Die nationalsozialistische Erlösung lag in der Befreiung der Bestie im Menschen – einer Bestie, welche die Zehn Gebote des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs, der auch der Gott der Christen ist, seit viertausend Jahren zu bändigen suchen. Hitler hat es entlarvend auf den Punkt gebracht: „Der Jude hat das Gewissen erfunden.“ Das konnte die Welt den Juden nie verzeihen. Und dafür hasste man sie. Und hasst sie immer noch …

Kann der anhaltende, tiefsitzende Antisemitismus nach Auschwitz in Europa anders als damit erklärt werden? George Steiner stellt fest, dass keine anderen sozio-ökonomisch-politischen Diagnosen, so erhellend sie im Detail auch sein mögen, eine tragfähige Erklärung liefern können, die in die Tiefe und damit in den Kern des antisemitischen Menschheitsproblems führt. So gibt sich letztlich der Judenhass auf religionspsychologischer Ebene als christlicher Selbsthass zu erkennen, der nach außen, eben auf die Juden projiziert wird. Folgt man diesen Überlegungen, dann bedeutet das konsequenterweise: Zweitausend Jahre lang verdeckte das religiöse Motiv des Christusmordes das eigentliche Motiv des christlichen Judenhasses: die – scheinbare – Unlebbarkeit der Lehre dieses Jesus von Nazareth und seines Gottes, die er in die heidnische Welt brachte und sie damit unter Dauerstress setzte. Dieses existenzielle Scheitern den Juden selbst nachzuweisen dient den christlichen Antisemiten auch heute noch – wenngleich auch unbewusst – dazu, sich von der moralischen Last des Scheiterns an dieser verpflichtenden mosaischen Moral der Zehn Gebote zu entlasten. Wenn man den Juden, die das Moralgesetz in die Welt brachten, moralische Verfehlungen nachweisen kann, wenn man sie letztlich für alles Böse in der Welt verantwortlich machen kann, dann entlastet man – scheinbar – sich selbst. Der Mechanismus antisemitischer Schuldabwehr durch Umkehrung, Projektion und Rationalisierung eigenen Versagens hat hier seine tiefsten Wurzeln. Darin gleicht der „neue“ „Antisemitismus nach Auschwitz“ dem Antisemitismus der Jahrtausende. Und es wird deutlich, warum die christlich geprägte religiöse Hintergrundstrahlung auch in einer zunehmenden säkularen Gesellschaft, deren ethisches Selbstverständnis an den Zehn Geboten orientiert bleibt, eine zentrale Quelle der anhaltenden Dämonologie des Judentums ist.

2. Verdrängte Schuld – zur Psychopathologie des Antisemitismus

Eng verflochten mit diesem in die Tiefe der Religions- und Bewusstseinsgeschichte führenden Wurzelstrang des Antisemitismus ist ein zweiter Strang, der mit dem tiefenpsychologischen Mechanismus der Schuldabwehr zusammenhängt und der auch für die mannigfaltigen Erscheinungen des modernen Antisemitismus verantwortlich ist.

Schon in den 1940er-Jahren haben die Väter der Antisemitismusforschung, unter ihnen der Psychoanalytiker Ernst Simmel, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer – alle sind in den 1930er-Jahren auf der Flucht vor den Nazis in die USA emigriert –, den Antisemitismus als komplexes psychologisches und zugleich soziologisches Problem beschrieben. Einleitend war davon schon die Rede. Diese Pioniere der Antisemitismusforschung sahen im Antisemitismus das Symptom einer kranken Gesellschaft, sie waren der begründeten Überzeugung, vom Antisemitismus als einer „sozialen Krankheit“ zu sprechen. Es handelt sich beim Antisemitismus um ein psychopathologisches Problemgeschehen, bei dem sich vielfach ungelöste Konflikte im Individuum mit Konflikten zwischen dem Einzelnen und seinem sozialen Umfeld amalgamieren. Mit diesen ungelösten Konflikten geht auch irrationaler Hass einher, der danach drängt, nach außen, auf ein äußeres Objekt projiziert und legitimiert zu werden. Und dazu dienen seit jeher die Juden, die seit alters her in der Funktion des Sündenbocks für alles Elend und Unglück in der Welt stellvertretend herhalten müssen.

Alice Miller hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Judenhass zu allen Zeiten eine entwicklungspsychologisch erklärbare Ventilfunktion hatte: nämlich den im Menschen von Kindheit an aus verschiedenen Gründen aufgestauten, aber aufgrund eines engen Tugendkorsetts nicht zugelassen Hass abzuführen bzw. zu kanalisieren. Das geschehe dadurch, dass der innerlich empfundene Hass nach außen hin projiziert werde. Miller zufolge werden Juden nicht deshalb gehasst, weil sie etwas Bestimmtes tun oder nicht tun. Denn alles, was Juden tun oder nicht tun, das würde sich auch bei Nichtjuden finden. Sondern, so ist Miller überzeugt, man hasse die Juden, weil man unerlaubten Hass in sich trage und begierig sei, ihn zu legitimieren. Das jüdische Volk eigne sich für diese Legitimierung in besonderem Maße. Weil seine Verfolgung seit zwei Jahrtausenden von höchsten kirchlichen und staatlichen Autoritäten ausgeübt wurde, brauche man sich des eigenen Judenhasses nicht zu schämen, nicht einmal dann, wenn man mit strengsten moralischen Prinzipien aufgewachsen sei und sich für die natürlichsten Regungen der Seele sonst zu schämen hätte. In Zeiten des endemisch sich verbreitenden Hasses in den sozialen Netzwerken sind die Schamgrenzen, was Judenhass betrifft, ohnehin gefallen.

Aus psychoanalytischer Sicht hängt dieser unerlaubte Hass in den Menschen vielfach mit frühkindlichen Erfahrungen der Zurückweisung und des Liebesverlusts durch die Eltern zusammen. Dies führt zu Ängsten und Aggressionen, die das Kind als unerlaubt erlebt und daher verdrängt. In späteren Jahren kann diese Aggression nach außen projiziert werden. Einen solchen unerlaubten Hass ortet Alice Miller bei Hitler auf Grund einer tief gestörten Vaterbeziehung – der junge Adolf litt unter einem gewalttätigen Vater. Und er litt unter einer tabuisierten Familiengeschichte, nämlich einer totgeschwiegenen und für den jungen Hitler verwirrenden Abstammungsfrage rund um einen möglichen jüdischen Einfluss in seiner Familie. Für Miller schien es nur folgerichtig, dass Hitler diesen aufgestauten Hass dann, als er zur Macht kam, abzuführen suchte. Dazu brauchte er, Miller zufolge, nur „den einzigen in der abendländischen Tradition legitimierten Haß zur höchsten Tugend des arischen Menschen zu proklamieren“. Darin liege nach Miller der tiefere Grund, warum sich der Antisemitismus immer wieder zu erneuern vermag, warum er so etwas wie eine historische Konstante darstelle: weil auch der „unerlaubte Hass“ eine historische Konstante sei und eben vorzugsweise im Antisemitismus seit zwei Jahrtausenden seine Legitimation erhalte.

Schuldabwehr, Schuldprojektion und Schuldumkehr – zur Tiefenstruktur des sekundären Antisemitismus

Mit Auschwitz und der Vernichtung von zwei Drittel des europäischen Judentums durch die Nazis war der Antisemitismus nicht zu Ende – er ging nach dem Krieg nur in den Untergrund. Der Nachkriegsantisemitismus richtete es sich gleichsam im toten Winkel der öffentlich-politischen Aufmerksamkeit ein. Zwar erinnerten die wenigen großen Naziprozesse an die Verbrechen an den Juden, aber diese Erinnerung wurde als Teil der dunklen Vergangenheit Deutschlands und Österreichs eher archivarisch abgelegt, als dass sie als moralischer Auftrag für die Gegenwart und Zukunft verstanden worden wären. Das hing auch mit dem nur mäßig entwickelten politischen Bewusstsein in den Jahren nach dem Krieg zusammen. Nicht nur die Niederlage wurde innerlich nicht ratifiziert, sondern es unterblieb auch die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus. Er wurde totgeschwiegen.

Von den beiden prinzipiellen Möglichkeiten, mit dieser Schuldenlast umzugehen, nämlich Auseinandersetzung und Bearbeitung oder Verdrängung, hat die Verdrängung obsiegt. So wurde die Nachkriegszeit eine Zeit des Vergessens – eines gerichteten Vergessens im tiefenpsychologischen Sinn, weil die schuldhafte Verstrickung in die Verbrechen des Nationalsozialismus mit der Selbstachtung, dem Gewissen des Einzelnen unvereinbar war. In den Jahren und Jahrzehnten des materiellen Wiederaufbaus nach 1945 und der wirtschaftlichen Prosperität mutierte der Rassenantisemitismus der Nazizeit zu einer neuen Form: zum Schuldumkehrantisemitismus. Gemeinsam mit anderen Formen des Nachkriegsantisemitismus zählt der Schuldumkehrantisemitismus zum so genannten sekundären Antisemitismus, wozu auch Holocaustleugnung und Holocaustrelativierung gehören. Verdrängte Schuld äußert sich meist in Form von Rationalisierung und Projektion.

Die Täter-Opfer-Umkehr ist eine häufige Form der Rationalisierung: Der Antisemit gesteht sich den irrationalen, also grundlosen und verborgenen Hass auf die Juden nicht ein und sucht plausible Gründe zur Rechtfertigung dieses Hasses. Dieser Mechanismus der Übertragung diente seit der Antike dazu, die Verbrechen an den Juden dadurch zu rechtfertigen, dass die Täter die Schuld für diese Verbrechen ihren Opfern unterschoben. So konnten diese Verbrechen legitimiert und die Täter von jeder Schuld psychisch entlastet werden.

Täter-Opfer-Umkehr

Der sekundäre Antisemitismus, also der Antisemitismus nicht trotz Auschwitz, sondern wegen Auschwitz, folgt diesen Mustern verdrängter Schuld. Rationalisierung von Schuld manifestiert sich meist in Form von Schuldabwehr, wozu auch Schuldleugnung, Schuldumkehr und Schuldprojektion zählen. Die Schuldgefüh le werden dadurch zu vermindern gesucht, dass ein wie immer gearteter, imaginierter „Sinn“ in die Vernichtung der Juden „rückprojiziert“ wird.

Noch Jahrzehnte nach Kriegsende liefern die Daten einschlägiger Befragungen ein erschreckendes Bild der Schuldabwehr und Schuldleugnung bei großen Teilen der Bevölkerung in Deutschland und Österreich. So gab nahezu jeder fünfte Österreicher noch 40 Jahre nach Kriegsende, 1986, offen zu Protokoll, „dass die Ausrottung der Juden auch positive Auswirkungen für Österreich gehabt habe“. Etwa jeder vierte Deutsche (24 Prozent) und Österreicher (28 Prozent) ist heute immer noch der Meinung, dass die Juden selbst an ihrer Verfolgung in der Geschichte schuld seien. 62 Prozent aller Deutschen sind es leid, „immer wieder von den deutschen Verbrechen an den Juden zu hören“. Jeder zweite Österreicher ist dafür, dass „endlich Schluss sein soll mit dem Erinnern“. Täter-Opfer-Umkehr und Flucht aus der Geschichte sind zwei Seiten der Verdrängung in der Post-Holocaust-Ära. Man wollte mit diesem Antisemitismus der Nazizeit nichts zu tun haben und hat ihn daher aus dem öffentlichen Bewusstsein der Nachkriegsgesellschaft verbannt – in der irrigen Annahme, ihm damit das Handwerk gelegt zu haben. In die Latenz verbannt, richtete der Antisemitismus zunächst auch keine größeren Schäden an – er schien gezähmt und an den kontrollierten rechten Rand der Gesellschaft verbannt. Solange, bis der jüdische Staat ins Zentrum des öffentlichen Interesses rückte – da war der Antisemitismus plötzlich wieder da: getarnt als Antizionismus und Antiisraelismus.

Mit beiden Formen des modernen Antisemitismus ist eine kollektive psychische Entlastungsstrategie verbunden: Um die immer noch belastende schuldhafte Vergangenheit der Tätergesellschaften, der Deutschen und Österreicher, möglichst auszublenden, muss der Fokus nur scharf genug auf die vermeintliche Schuld der Opfer und damit des jüdischen Staates gerichtet werden. Entlastung der Tätergesellschaften durch Schuldprojektion und Schuldumkehr besteht darin, die Verbrechen des Nationalsozialismus – Rassismus, ethnische Säuberungen, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit – nun dem jüdischen Staat Israel vorzuwerfen. In der perversen Logik der Antisemiten wird damit das moralische Gefälle zwischen Opfern und Tätern eingeebnet. Je besser es gelingt, Israel unter Daueranklage zu stellen, es zum Täter zu stempeln, desto leichter fällt es, die Täter von gestern zu entlasten. Dieser Mechanismus der psychischen Entlastung durch Schuldumkehr ist heute genauso treibendes Motiv wie für die Generation der Täter, Mittäter und Mitläufer nach dem Krieg. Denn historische Schuld, die nicht bearbeitet wird, weil man sich nicht damit konfrontiert, geht als schwere Hypothek von einer Generation auf die nächste über. Deswegen stirbt die Täter-Opfer-Umkehr auch nicht mit den Tätern, sondern lebt in deren Nachkommen weiter.

Der europäische Antizionismus und die europäische Israelkritik stehen vorwiegend im Dienst eines solchen sekundären Antisemitismus, eines Antisemitismus der Täter-Opfer-Umkehr. Denn die Existenz des jüdischen Staates erinnert an die unsühnbare, unvergängliche Schuld für das unsühnbare, unvergängliche Leid, das die Juden erleiden mussten. Nichts wünschen die Antisemiten aller Schattierungen mehr, als dieses unangenehme, mahnende Gewissen endlich zum Schweigen zu bringen. Die Juden – wo immer sie leben – sind das schlechte Gewissen der anderen, sie sind das Ärgernis, weil ihre Existenz die Verdrängung nicht zulässt. Das ist einer der zentralen, verborgenen Gründe, warum die Juden gehasst werden und warum man den jüdischen Staat hasst.

Israelkritik im Dienst psychischer Entlastung

Antiisraelismus und Antizionismus beleben „den Mythos von der ‚ewig bösen Natur der Juden‘“ (R. Ruether), um damit dem jüdischen Volk das Recht abzusprechen, als Volk im eigenen Land zu leben. Dieses Bemühen, die Legitimität der Existenz Israels infrage zu stellen, findet in der nazivergleichenden Israelkritik seinen besonders blasphemischen Ausdruck. 2012 stimmten 42 Prozent der von uns repräsentativ befragten Österreicher der Aussage zu: „Die Israelis verhalten sich gegenüber den Palästinensern genauso wie die Nazis gegenüber den Juden.“ Ähnlich hohe Zustimmungsbereitschaft findet sich in der deutschen Bevölkerung. Diese von Antisemiten propagierte Gleichsetzung Israels mit dem Naziregime bezeichnete der ehemalige britische Oberrabbiner Jonathan Sacks als „blasphemische Verkehrung“. Dahinter steht die gleiche psychische Entlastungsstrategie, wie sie schon nach dem Krieg angewandt wurde; nur hat sie heute den jüdischen Staat zum Objekt und erhält durch das Geschehen im Nahostkonflikt immer wieder neue Nahrung. Und hier beginnt sich der europäische Umkehrantisemitismus mit dem islamischen und radikal islamistischen Antisemitismus zu amalgamieren. Mehr als die Hälfte der Deutschen ist überzeugt, dass Israel einen „Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser“ führt.

Wenn man Israel all die Verbrechen der Nazis andichten kann, dann fällt auch der Opferstatus des jüdischen Volkes und mit ihm die Legitimationsgrundlage des jüdischen Staates, nämlich die Singularität des Verbrechens der Shoah. Damit in der antisemitischen Weltanschauung die Shoah ausgeblendet bleiben kann, muss auch der historische Zusammenhang zwischen der Shoah und der Gründung des jüdischen Staates ausgeblendet werden. Dieser Verdrängungsmechanismus funktioniert auch andersherum: Nur wenn es gelingt, den jüdischen Staat von seiner Entstehungsgeschichte zu trennen, lässt sich auch die Shoah und die Opfergeschichte der Juden ausblenden. Die antisemitische Israelkritik zielt – bewusst oder unbewusst – darauf ab, diesen zentralen, mit der Identität des jüdischen Staates zusammenhängenden Legitimationszusammenhang aufzubrechen.

Im krausen Vorstellungsbild der Antisemiten lässt sich die vermeintliche Schuld des jüdischen Staates gegen die Schuld der Nazis aufwiegen. Um nochmals auf diese psychische Entlastungsstrategie von Hass und Schuld zu verweisen: Wenn sich zeigen lässt, dass die Opfer nicht besser sind als die Täter, dann entlastet dies die Mitglieder der Tätergesellschaften von historischer Schuld und rechtfertigt den Hass, den sie aus vielfältigen Gründen in sich tragen und so nach außen, auf „die Juden“, auf „die Israelis“ projizieren können. Die nazivergleichende Israelkritik ist die perverseste Form des Umkehrantisemitismus. So als würde sich die Siedlungspolitik in der Westbank mit der Hitler’schen Aggressionspolitik vergleichen lassen oder die Situation im Gazastreifen mit derjenigen in Konzentrationslagern – ein Vergleich übrigens, vor dem selbst kirchliche Repräsentanten nicht zurückschrecken.

Die Antisemiten von links bis rechts, religiös bis atheistisch, sind von dem blinden Ehrgeiz getrieben, diesen Opferstatuts des jüdischen Volkes gleichsam zu demaskieren – was am besten dadurch geschehen kann, wenn die Opfer von damals zu Tätern von heute gemacht werden. Das ist der tiefere, psychologische Grund dafür, Israel permanent auf der öffentlichen Anklagebank zu halten. Ganz gleich, was die jüdische Regierung macht oder nicht macht, sie steht unter Anklage und Schuldverdacht. Die Juden und der „kollektive Jude“ Israel sind schuldig, weil sie in der Wahrnehmung der Antisemiten schuldig sein müssen. Daher sind die Anlässe der Entrüstung über Israel austauschbar. Der Antisemitismus in Gestalt des Antizionismus sucht sich die politischen Anlässe, an denen er sich entzünden kann.

Im Jänner 2015 hielten die Vereinten Nationen zum ersten Mal in der Geschichte eine Sondersitzung zum Thema Antisemitismus ab. Bei dieser Gelegenheit sagte der als Gastredner geladene französische Philosoph Bernard-Henri Lévy: „Israel trägt manchmal mit seiner Politik zur Ablehnung von Juden bei. Aber das ist etwas anderes als der Antisemitismus, um den es hier geht. Selbst wenn Israel eine Nation von Engeln wäre, selbst wenn Israel sein Land weggeben würde, würde sich am Hass gegen Israel kein Jota ändern.“ Und er ergänzte: „Die Judenhasser hassen Juden, einfach weil sie da sind.“ Und zwar eben deswegen, weil ihre Existenz mit unangenehmer Erinnerung an verdrängte historische Schuld verbunden ist – eine Last, die unbewusst von Generation zu Generation weitergegeben wird. Nichts wünschen die Antisemiten aller Schattierungen mehr, als dieses unangenehme, mahnende Gewissen endlich zum Schweigen zu bringen.

Der jüdische Staat ist eine ständige Erinnerung daran, dass viele im Dritten Reich schuldig geworden sind: durch Sympathisieren, Mittun, Wegschauen, Ignorieren oder Rationalisieren. Jede Verdrängung drängt ins Bewusstsein und verursacht eine unbestimmte „wesenlose“ Angst, die – wie man aus der Tiefenpsychologie weiß – als existenzielle Bedrohung der persönlichen Integrität empfunden wird. Um sich von dieser unbestimmten Angst zu befreien, werden Kausalitäten hergestellt, es wird also rationalisiert. Und hier kommt der „kollektive Jude“ Israel wieder ins Spiel: Israel wird als äußere Bedrohung des Weltfriedens empfunden, während es sich dabei in Wirklichkeit um die Rationalisierung der inneren Bedrohung durch die ins Bewusstsein drängenden antisemitischen Aggressionen und Schuldgefühle handelt. Die Antisemiten versuchen andauernd, sich und andere davon zu überzeugen, dass ihre Abneigung und ihr Hass gegen alles Jüdische berechtigt sei – aber diese imaginierte Gewissheit ist höchst brüchig und bedarf immer neuer Legitimation, wofür der Nahostkonflikt ein schier unerschöpfliches Reservoir bereitstellt.

Ein weiteres, meist unausgesprochenes Motiv für die geballte Aversion gegen den jüdischen Staat, speziell linker Judengegner in Europa, hängt mit der weit verbreiteten Sicht des Judentums als reaktionäres, gesetzestreues Glaubenssystem zusammen. Aus einem antireligiösen Reflex heraus erscheint der jüdische Staat und sein nationalreligiöses Selbstverständnis vielen als suspekt. Deswegen schießt sich insbesondere die europäische Linke auf die religiösen Siedler in der Westbank ein, die als Haupthindernis für den Frieden in Nahost gesehen werden. Der deutsch-israelische Schriftsteller Chaim Noll verweist im Zusammenhang mit den religiösen Siedlern darauf, dass gerade religiöse Juden am sichtbarsten eine im jüdischen Volk gewachsene Neigung zu spiritueller Introvertiertheit und historisch motivierten Nationalismus verkörpern und dass diese beiden Positionen mit einer linken Weltsicht unvereinbar sind.

3. Imaginierte Bedrohung und Rivalitätskonflikte – zur psychosozialen Dimension des Antisemitismus

Unter den verschiedensten Formen der Rationalisierung des Hasses gegen Juden kommt dem Topos der „jüdischen Bedrohung“ ein besonderer Stellenwert zu. Die Bedrohung der moralischen, kulturellen und nationalen Identität der Wir-Gruppe und die Sicht auf die Juden als „Fremdkörper“ ist konstanter Bestandteil antisemitischer Mythenbildung über Juden. Der kulturelle Antisemitismus sah in den Juden zu allen Zeiten eine Bedrohung der kulturellen Identität der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft. Der ökonomische Antisemitismus sah seit dem 19. Jahrhundert im „Finanzjudentum“ eine Bedrohung der eigenen wirtschaftlichen Sicherheit und Prosperität. Der Kampf gegen diese imaginierte Bedrohung diente der Stärkung des nationalen und kulturellen Zusammenhalts. Zu allen Zeiten suchte sich der irrationale, antisemitische Vernichtungswille mit sozial akzeptierten, religiösen, moralischen oder vermeintlich rational einsehbaren Gründen zu rechtfertigen. Der antisemitische Mythos der Bedrohung durch die Juden ist eine historische Konstante und wirkt als negative Leitidee bis in unsere Tage.

Imaginierte Bedrohung

Schon die antike Welt operierte mit der „Bedrohung“ der griechischen und römischen Gesellschaften durch den „Menschenhass“ der „barbarischen“ Juden, ihrer Assimilationsverweigerung und ihren fremden kultischen Riten. Daran knüpfte die „Bedrohung“ der christlichen Identität durch die Juden an: Dies führte durch 1.500 Jahre zu sozialer Ausgrenzung, Unterdrückung sowie zu systematischer Verfolgung und Vertreibung durch Staat und Kirche. Durch alle Jahrhunderte sah die Kirche in den Juden eine „Bedrohung“ der christlichen Moral. Die paranoide Vorstellung, in allem Jüdischen eine heimtückische, ansteckende Krankheit zu sehen, die den christlichen Glauben und den nichtjüdischen Menschen insgesamt bedrohe, führte zur systematischen Ausgrenzung und Erniedrigung der Juden. Im Rassenantisemitismus des Nazismus mündete diese die Jahrhunderte überdauernde, paranoide Idee der „jüdischen Verunreinigung“ schließlich in die „Endlösung der Judenfrage“. Heute noch glaubt jeder sechste Österreicher, dass die Juden an der Auflösung kultureller und sittlicher Werte schuld seien. Nur am Rande sei angemerkt, dass diese zählebige, wahnhaf te antisemitische Vorstellung von der bedrohlichen „jüdischen Verunreinigung“ auch nach dem Holocaust weiterlebt. Noch im Jahr 1986 stimmte jeder fünfte Österreicher (22 Prozent) der Aussage zu: „Wenn ich einem Juden die Hand gebe, fühle ich ein Gefühl des persönlichen Widerwillens.“

Im Zeitalter der Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert war es die „Bedrohung“, die aus einem Unterlegenheitsgefühl der nichtjüdischen, auf die materiellen und sozialen Erfolge der Juden eifersüchtige Bevölkerung resultierte. Die nationalsozialistische Rassenpolitik rechtfertigte die Vernichtung der Juden mit der „Bedrohung“ der „germanischen Rasse“ durch die „hebräischen Volksverderber“.

Die Geschichte zeigt, dass die Behauptung der „Bedrohung“ stets dazu diente, den Vernichtungswillen gegenüber den Juden zu rechtfertigen – gleichviel, ob dieser Vernichtungswille ausgelebt wird oder sich „nur“ als gedankliches Konstrukt eines destruktiven Vorurteils gegen alles Jüdische manifestiert. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer haben diesen verhängnisvollen Zusammenhang so beschrieben: „Stets hat der blind Mordlustige im Opfer den Verfolger gesehen, von dem er verzweifelt sich zur Notwehr treiben ließ, und die mächtigsten Reiche haben den schwächsten Nachbarn als unerträgliche Bedrohung empfunden, ehe sie über ihn herfielen. Die Rationalisierung war eine Finte und zwanghaft zugleich. Der als Feind Erwählte wird schon als Feind wahrgenommen.“ Der Hass auf die Juden ging immer schon seiner vermeintlichen Rechtfertigung, also Rationalisierung durch Bedrohungsfantasien voraus.

Heute werden Bedrohungsbilder im Kontext der Globalisierung und der ökonomischen Krise auf Juden und den jüdischen Staat projiziert: Jeder zweite Europäer ist davon überzeugt, dass der jüdische Staat die „größte Bedrohung für den Weltfrieden“ ist. 12 Prozent der Europäer sind der Meinung, dass die Juden für die meisten Kriege in der Welt verantwortlich sind. Jeder dritte Europäer macht die Juden für die globale Finanzkrise verantwortlich. Weiters glaubt jeder dritte Europäer, dass die Juden zu viel Macht auf die internationalen Finanzmärkte haben. 19 Prozent der Ost- und der Westdeutschen empfinden das Judentum als bedrohlich.

Die Bedrohungsszenarien gehen mit der Zeit, und so auch das anpassungsfähige destruktive Vorurteil – der dahinterstehende Hass aber bleibt der gleiche, der er immer schon war.

Rivalitätskonflikte – der Faktor „Begehren“

Zum psychosozialen Konfliktgeschehen, das psychopathologische Züge annehmen kann, zählt auch das Begehren. Das Begehren ist seit jeher Ursache für Rivalitätskonflikte, die gemeinschaftliches Zusammenleben vergiften und in weiterer Konsequenz in gesellschaftliche Gewalt münden können. Im Zusammenhang mit dem Hass gegen Juden bedeutet dies Folgendes: Die Antisemiten sehen in den Juden diejenigen, die sie daran hindern, alles haben zu können, was sie begehren und von dem sie glauben, dass es die Juden haben. Finanz- und Wirtschaftskrisen sind der Treibsatz für dieses verborgene Motiv der Aversion und Aggression gegenüber den Juden. Aber auch dem Begehren liegt letztlich ein nach außen hin projizierter Selbsthass zugrunde. Selbstabneigung und Selbsthass gehen mit der Erfahrung des eigenen Ungenügens, des eigenen Mangels einher. Es ist dies die Erfahrung der Begrenztheit des eigenen Wollens, des eigenen Haben-Könnens. Der Antisemit projiziert diese Mangel-Erfahrung, diese Enttäuschung, auf die Juden, von denen er glaubt, dass sie all das haben, was er nicht hat. Der Antisemit sucht die Schuld für sein empfundenes Unvermögen, für den empfundenen Mangel bei anderen und findet sie bei den Juden. Die Juden stehen für den Antisemiten in der Situation der Privilegierten. Der Antisemit sieht in den Juden diejenigen, die der Erfüllung seiner Wünsche im Weg stehen. Alles wäre gut, denkt der Antisemit, gäbe es die Juden nicht.

Ökonomische und soziale Krisen verschärfen dieses rivalisierende Begehren, aus dem sich – als einer Quelle neben anderen – der Judenhass speist. Diese Krisen sind aber nicht die Ursache für den wachsenden Antisemitismus, sondern nur dessen aktueller, austauschbarer Anlass. Sie verleihen dieser fixen Idee der Antisemiten, dass die Juden an allem empfundenen Mangel schuld seien, bloß eine neue Dringlichkeit, aber sie bringen diese Idee nicht erst hervor. In der Krise wird der Antisemit noch mehr und unmittelbarer mit der Begrenztheit seines Wollens und Wünschens konfrontiert als in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität. Er stößt noch schneller an seine Grenzen, ist noch unmittelbarer mit seinem Unvermögen konfrontiert, all das erreichen zu können, was ihm begehrenswert erscheint. Dafür hasst er sich unbewusst, und weil der Antisemit von der Meinung besessen ist, die Juden stünden der Erreichung aller seiner Ziele entgegen, projiziert er diesen Hass auf sie. Folgt man diesem tiefenpsychologischen Erklärungsmodell der Selbstabneigung und des Selbsthasses, dann erklärt sich auch, warum der ökonomische Antisemitismus so hohe Konstanz und weite Verbreitung hat: in ihm spiegelt sich das menschliche Grundmotiv des Begehrens in seiner quälenden dialektischen Spannung von Erfüllung und Versagung wider. Das Problem des Antisemiten ist es, dass er die schmerzvolle Erfahrung eines letztlich nie zu befriedigenden Mangels, die Konfrontation mit dem eigenen empfundenen Ungenügen als Scheitern erlebt, aber für dieses Scheitern nicht sich selbst, sondern andere – vorzugsweise die Juden – verantwortlich macht. Auch auf dieser psychosozialen Ebene zeigt sich: Schuldprojektion ist genauso wie Schuldumkehr eine Entlastungsstrategie, mit deren Hilfe das gefährdete psychische Gleichgewicht – zumindest vordergründig – wiederhergestellt werden kann. In diesem psychischen Mechanismus lässt sich einer der maßgeblichen Gründe dafür erkennen, warum sich die Judeophobie – allen vernünftigen Erwartungen zum Trotz – im Genozid nicht erschöpft hat …

Wie hoch auch immer das heuristische Potenzial dieser sozial- und tiefenpsychologischen Erklärungsversuche zum Antisemitismus eingeschätzt werden mag – eines sollte jedenfalls deutlich geworden sein: Wir brauchen andere, grundlegendere Antworten auf den Antisemitismus, als wir sie bisher gegeben haben. Mit den Mitteln der Aufklärung allein lässt sich der Antisemitismus und seine wachsende Verbreitung nicht bekämpfen, wie die vergangenen Jahre und Jahrzehnte gezeigt haben. Die Frage lautet also: Wie kann die Macht des destruktiven Vorurteils gebrochen, wie kann der sich in der Gesellschaft endemisch ausbreitende Hass eingedämmt werden? Die therapeutische Antwort kann nur lauten: Nur durch eine neue Kultur des Mitgefühls – Mitgefühl für das unschuldige Leiden, für das Leid Unschuldiger. Kann es eine andere, nachhaltigere Antwort geben als diese? Dazu bedarf es einer grundsätzlichen Neuorientierung unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Das Mitgefühl, so formulierte es einmal der Psychoanalytiker Arno Gruen, ist die in uns eingebaute Schranke zum Unmenschlichen.

Wenn es ein bleibendes Vermächtnis von Auschwitz gibt, dann liegt dieses Vermächtnis wohl in der durch nichts und niemanden zu besänftigenden Mahnung, diese Flamme des Mitgefühls nicht noch einmal erlöschen zu lassen …

Editorische Anmerkungen

* Prof. Dr. Maximilian Gottschlich, 1948 in Wien geboren, ist emeritierter Universitätsprofessor für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien. Gottschlich stammt aus einer jüdisch-christlichen Familie; seine jüdische Großmutter Clara war Tochter des jüdischen Arztes, sozialdemokratischen Politikers und Publizisten Michael Schacherl, u. a. steirischer Abgeordneter in der konstituierenden Nationalversammlung und von 1921 bis 1934 Zweiter Chefredakteur der legendären Arbeiter-Zeitung. Dieser biografische Hintergrund motivierte Maximilian Gottschlich, sich intensiv auch mit Fragen jüdisch-christlicher Verständigung sowie mit den Ursachen und Erscheinungsformen des modernen Antisemitismus auseinanderzusetzen. Zuletzt erschien von ihm zu dieser Thematik: „Versöhnung. Spiritualität zwischen Thora und Kreuz. Spurensuche eines Grenzgängers, Wien/Köln/Weimar 2008; „Die große Abneigung. Wie antisemitisch ist Österreich? Kritische Befunde zu einer sozialen Krankheit“, Wien 2012; „Unerlöste Schatten. Die Christen und der neue Antisemitismus“, Paderborn 2015.