Die PharisäerdarstellungEN in den Evangelien

Ein neuralgischer Punkt für religiöse Bildung.

Der Religionsunterricht transportiert vielerorts immer noch antisemitische Vorurteile oder Stereotype, wie Julia Spichal 2015 in ihrer Dissertation zu Vorurteilen gegen Juden im christlichen Religionsunterricht festgestellt hat. Eines dieser antijudaistischen Stereotype im Religionsunterricht ist die Darstellung der jüdischen Gruppierung der Pharisäer. Wie Spichal aufzeigt, werden die Pharisäer immer noch häufig als Repräsentanten des gesamten damaligen Judentums präsentiert, die Jesu Tod verursacht oder zumindest dazu beigetragen hätten. Außerdem werde ihre strikte Torah-Observanz als »lebensfeindlich« dargestellt und als Kontrastfolie für eine lebensbejahende Gesetzesauslegung bzw. teilweise sogar Gesetzesabschaffung Jesu benutzt.[1] Diese Darstellung markiert eine bleibende Herausforderung für die Religionspädagogik, da sie weder der historischen Wirklichkeit entspricht noch dem Befund der Evangelien gerecht wird.

Exegetischer Abriss

Die Bezeichnung Pharisäer ist wohl eine griechische Ableitung vom hebräischen Verb prš, auf Deutsch abgrenzen, absondern. Ein Pharisäer ist also ein Abgesonderter, negativ formuliert ein »Separatist «. Paulus ist der einzige, von dem wir wissen, dass er sich selbst als »Pharisäer« bezeichnet hat (Phil 3,5). Ein großes Problem bei der Erforschung der Pharisäer besteht darin, dass wir außer den Paulusbriefen keine Selbstzeugnisse von Pharisäern besitzen. Aussagen über sie in nicht-pharisäischen Texten müssen deshalb immer auf die Intentionen und die Programmatik dieser Texte gegengelesen werden. Die neutestamentlichen Schriften, die Schriften des jüdischen Historikers Flavius Josephus Ende des 1. Jh. n. Chr. und die rabbinische Überlieferung stellen die frühesten Zeugnisse über die Pharisäer dar. Josephus bemüht sich um eine hellenisierte Darstellung der jüdischen Gruppierungen nach dem Muster antiker Philosophenschulen, um seinem hellenistisch-römischen Publikum das Judentum näher zu bringen. Die neutestamentlichen Schriften sind dagegen geprägt von Abgrenzungsbemühungen gegenüber anderen jüdischen Gruppierungen, insbesondere zu den wohl geistig nahestehenden Pharisäern. Die rabbinischen Schriften sind erst Jahrzehnte später entstanden und besitzen ebenfalls eigene Agenden, sind also auch keine Selbstzeugnisse. Die Pharisäerdarstellung in allen drei Schriftgruppen ist deshalb in Bezug auf historische Rückschlüsse mit Vorsicht zu betrachten.[2]

Was sich aus den Quellen als Gemeinsamkeit erschließen lässt, ist, dass das Kernanliegen der Pharisäer eine Heiligung des Alltags durch strikte Torah- Observanz war. Besonderes Anliegen der Pharisäer schienen Fragen der rituellen Reinheit gewesen zu sein. Die schriftliche Torah wurde auf eine konkrete Anwendung im Alltag hin interpretiert. So entstand eine mündliche Torah, der die Pharisäer die gleiche Geltung wie der schriftlichen zusprachen. Laut dem jüdischen Historiker Flavius Josephus genossen die Pharisäer zur Zeit des Herodes hohes Ansehen im Volk und waren auch politisch einflussreich.[3]

Trotzdem bildeten sie aber nur eine jüdische Gruppierung unter vielen. Keinesfalls bildeten sie die Mehrheit des antiken Judentums oder gar das Judentum. Dass sie in christlicher Tradition als repräsentativ für das Judentum angesehen werden, hängt mit ihrer Prominenz in den Evangelien zusammen. Diese wird oft auf die historische Situation der frühen christlichen Gemeinden zurückgeführt. Alle Evangelien sind nach dem Römisch- Jüdischen Krieg und der Zerstörung von Jerusalem und Tempel geschrieben worden. Viele jüdische Gruppierungen, insbesondere die in Jerusalem konzentrierten wie zum Beispiel die Sadduzäer oder die Zeloten, wären fast gänzlich vernichtet worden und hätten deshalb an Bedeutung verloren. Die Pharisäer dagegen hätten noch an Bedeutung gewonnen, da ihre Lehre und Praxis nicht von Tempel und Kult abhing und überall praktizierbar war. Zudem gab es eine gewisse geistliche Nähe zum frühen Christentum, weshalb die Pharisäer sowohl Sympathisanten als auch Gegner bildeten. Es wird oft vermutet, dass die Pharisäer in den frühen christlichen Gemeinden sehr präsent gewesen seien, was sich dann in den Evangelien niederschlug, die möglicherweise auch aktuelle Konflikte in die Zeit Jesu zurückprojizierten, um diese so zu verarbeiten.[4]

Die unterschiedlichen Gemeindesituationen der Evangelien dürften dann auch zu den unterschiedlichen Pharisäerdarstellungen geführt haben. Denn obschon sich eine grundsätzliche feindliche bzw. polemische Tendenz gegenüber den Pharisäern in allen Evangelien erkennen lässt, werden jeweils durchaus unterschiedliche Aspekte besonders betont. Insofern heißt es im Titel des Beitrags auch PharisäerdarstellungEN.

Die Pharisäer tauchen im ältesten Evangelium, dem Markusevangelium, nur verhältnismäßig wenig auf (Mk 2,16.18.24; 3,6; 7,1.3.5; 8,11.15; 10,2; 12,13). Ihre Darstellung ist rein negativ geprägt. Sie tadeln mehrfach das Verhalten von Jesu Jüngern und Jesus und versuchen ihm mit Fangfragen eine Falle zu stellen, scheitern aber immer. Dabei geht es nicht primär um die Torah-Auslegung, sondern Jesu Antworten enthalten meist eine christologische Komponente. Nicht das Gesetz oder das Gesetzesverständnis der Pharisäer an sich werden kritisiert, sondern, dass die Pharisäer Jesus und seine Autorität als Messias nicht erkennen. Zusammen mit den Herodianern fassen sie in Mk 3,6 den Beschluss, Jesus zu vernichten, was bereits auf die Passion hindeutet. Sie werden zwar als nicht direkt an der Passion Jesu beteiligt gezeigt, gleichzeitig aber als mit den verantwortlichen Autoritäten kooperierend. Die Pharisäer werden aber nicht als repräsentativ für die ganze jüdische Bevölkerung präsentiert, vielmehr als nur eine jüdische Gruppe unter vielen.[5]

Die Pharisäerdarstellung im Matthäusevangelium ist ähnlich negativ gestaltet wie im Markusevangelium, jedoch viel detaillierter. Das Matthäusevangelium übernimmt die negative Grundeinstellung und viele Punkte der markinischen Pharisäerdarstellung, räumt den Pharisäern aber eine größere Rolle ein. Die matthäischen Pharisäer werden wiederum als Gegner Jesu dargestellt, die ihn kritisieren und versuchen, ihn zu täuschen. Auch sie wollen ihn töten und kooperieren mit den verantwortlichen Autoritäten (Mt 12,14; 21,46; 22,15). Während die Opposition der Pharisäer bei Markus mit Kritik am Verhalten der Jünger beginnt und sich im Verlauf steigert, wird sie bei Matthäus von Anfang an vorausgesetzt. Bei ihrer Einführung werden sie von Johannes dem Täufer direkt als »Schlangenbrut« (Mt 3,7) bezeichnet. Verstärkt wird ihnen auch vorgeworfen, Gottes Willen nicht erfüllen zu wollen und seine Gesandten zu töten (Mt 3,7-9; 21,32; 23,34f). Matthäus führt ihren Widerstand gegen Jesus auch an mehr Beispielen aus.Thematisch geht es dabei oft um die Auslegung der Torah (Mt 16,1; 19,3; 22,18.35). Im Unterschied zum Markusevangelium erscheinen die Pharisäer stärker als Autorität und als Lehrer des Volkes. Zugleich wird ihnen von Jesus mehrfach der Vorwurf gemacht, sie würden die Torah nicht kennen bzw. würden sie nicht richtig umsetzen. Sie würden vor allem nach außen den Eindruck erwecken wollen, besonders fromm zu sein, aber die wichtigsten Gebote der Gottes- und Nächstenliebe nicht achten. Der Vorwurf der Heuchelei, der sich bereits bei Markus findet, wird bei Matthäus stärker ausgebaut. Dabei wird der Torah hohe Geltung zugesprochen, nur das Verhalten der Pharisäer wird kritisiert (Mt 23,2-7). Diese würden nicht nur selbst keinen Einlass ins Himmelreich erhalten, sondern auch zusätzlich andere davon abhalten, ins Himmelreich zu kommen (Mt 5,20.23,14).[6]

Obwohl das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte eine Einheit bilden, scheint die Darstellung der Pharisäer in den beiden Büchern auf den ersten Blick unterschiedlich zu sein. Die Pharisäer werden in der Apostelgeschichte viel positiver dargestellt als im Lukasevangelium. Das Lukasevangelium übernimmt wie das Matthäusevangelium große Teile der markinischen Pharisäerdarstellung wie zum Beispiel ihre Dispute mit Jesus und ihre Opposition ihm gegenüber. Auch sie erkennen Jesus nicht als Messias an und werden von ihm dafür kritisiert, dass sie die Liebesgebote angeringer achten als Detailgebote, dass sie Heuchler seien, denen es mehr um ihren guten Ruf gehe und dass sie das Volk in die Irre führten (zum Beispiel Lk 11,39-44; 14,7.12). Wie bei Matthäus wird das hohe Ansehen der Pharisäer beim Volk als Lehrer der Torah und ihr sich daraus ergebender sozialer Status betont (zum Beispiel Lk 6,7.11; 11,43; 14,1; Apg 5,34; 26,5). Während Matthäus die negative Darstellung von Markus noch verschärft, wird sie bei Lukas eher etwas abgeschwächt, obwohl eine negative Grundtendenz erhalten bleibt. Die lukanische Pharisäerdarstellung ist aber am ambivalentesten. So spricht Lukas an mehreren Stellen nur von »einigen« Pharisäern statt pauschal von »den Pharisäern« (Lk 6,2; 13,31; 19,39). Die Pharisäer halten an mehreren Stellen mit Jesus Tischgemeinschaft (Lk 7,36-50; 11,37-54; 14,1-24). In Lk 6,11 ändert Lukas die markinische Tötungsabsicht der Pharisäer in die Überlegung, was sie »gegen Jesus unternehmen könnten«. Dies geschieht zudem »in Unverstand«: Nach lukanischer Konzeption handeln alle jüdischen Autoritäten aus Unwissenheit gegen Jesus und können erst nach der Verkündigung der Auferstehung eine informierte Entscheidung treffen (Apg 3,17f; 13,27). In der Apostelgeschichte werden die Pharisäer viel positiver dargestellt als im Evangelium. Verstanden sie dort noch nicht Jesu Botschaft, berichtet die Apostelgeschichte von christlich gewordenen Pharisäern (Apg 15,5), insbesondere vom Pharisäer Paulus, der sich auch als Christus-Gläubiger immer noch als Pharisäer identifiziert (Apg 26,5). Pharisäer verteidigen die Apostel und Paulus vor Gericht (Apg 5,34-39; 23,9). Die Verfolgungen der Christen werden den Sadduzäern, den Hohepriestern oder Herodes zugeschrieben, jedoch nicht den Pharisäern (Apg 4,1-3; 5,17f; 12,1-2). Das Pharisäertum des Paulus wird im Kontext seiner Verfolgungen nicht erwähnt, erst, als er als Christ vor Gericht steht. Der gute Ruf der Pharisäer als besonders gesetzestreu wird hier apologetisch für die Christen eingesetzt. Die Apostelgeschichte ist darum bemüht, die geistige Nähe zwischen Pharisäern und Christen aufzuzeigen.[7]

Das Johannesevangelium weicht in der Pharisäerdarstellung von den anderen drei Evangelien ab, die durch die – wenn auch veränderte – Übernahme der markinischen Fassung geprägt sind. Seine Pharisäerdarstellung ist knapper und einheitlicher als die der anderen Evangelien, weniger vielseitig und ambivalent. Ähnlich wie in den anderen Evangelien wird den Pharisäern hohe Autorität und hoher sozialer Status zugeschrieben. Ihnen wird vom Volk über Jesu Taten berichtet (Joh 9,13; 11,46); sie agieren zusammen mit den Hohepriestern und senden die Tempelpolizei (Joh 7,32.45; 11,47.57; 18,3); einige Juden haben wegen der Pharisäer Angst, aus der Synagoge ausgeschlossen zu werden, wenn sie ihren Glauben an Jesus bekennen (Joh 12,42). Allerdings gilt diese Angst an anderer Stelle mehrfach »den Juden«, Ἰουδαῖοι (Joh 7,13; 9,22; 19,38; 20,19). Im Gegensatz zu den anderen pauschalisiert das durch Dualismen geprägte Johannesevangelium nicht nur die Pharisäer, sondern auch die Juden. Die Pauschalverurteilung »der Juden« wie zum Beispiel in Joh 8,44 oder ihre Rolle beim Tod Jesu (Joh 5,18; 18,28.31f.36.38-40; 19,4.7.12.14- 15.20) hat eine lange Geschichte der antisemitischen Auslegung, die nicht verschwiegen oder kleingeredet werden darf. Entgegen mancher Forschungstendenz sind die Pharisäer aber auch im Johannesevangelium nicht repräsentativ für das ganze jüdische Volk, ebensowenig wie die als »die Juden« bezeichnete Gruppe. Beide Gruppen erscheinen in Opposition zu Jesus, ihre Feindseligkeit wird aber auf unterschiedliche Weise ausgedrückt. Die meisten Erwähnungen der Pharisäer bei Johannes geschehen in Kombination mit den Hohepriestern und betreffen ihre Pläne, Jesus gefangen zu nehmen (Joh 7,32.45; 11,47.57; 18,3). Nach 18,3 werden sie aber nicht mehr zusammen mit den Hohepriestern erwähnt und spielen keine explizite Rolle bei der Passion Jesu. Bei Johannes geht es nicht um Diskussionen über die richtige Gesetzesauslegung, die Jesus dann christologisch pointiert, sondern der Fokus ist prinzipiell christologisch. Im Gegensatz zu den anderen Evangelien finden nur wenig direkte Begegnungen zwischen Jesus und den Pharisäern statt (Joh 8,12-20; 9,39-41), stattdessen urteilen die Pharisäer aufgrund von Hörensagen über Jesus. Ihre größte Sorge scheint auch eher die Reaktion der Menschen auf Jesus zu sein als Jesus selbst. Dies wird deutlich beim Treffen des Hohen Rates, bei dem beschlossen wird, Jesus zu töten: Sie fürchten, dass Jesus und der Glauben der Menschen an ihn als Aufstand aufgefasst werden und die römischen Autoritäten veranlassen könnte, den Tempel und Jerusalem zu vernichten (Joh 11,47f).

Es zeigt sich also bei allen Gemeinsamkeiten, dass die Pharisäerdarstellungen in den Evangelien nicht vereinheitlicht werden dürfen. Vielmehr entsteht ein Bild unterschiedlicher Schwerpunkte und Akzente, die mal mehr, mal weniger ambivalent bleiben. Gemeinsam ist allen eine kritische Grundhaltung gegenüber den Pharisäern im Allgemeinen und ihre Opposition zu Jesus. Diese ist aber meist christologisch begründet. Das Gesetz selbst wird nicht kritisiert. Die Gesetzesauslegung der Pharisäer wird v.a. im Matthäusevangelium kritisiert, viel mehr aber deren persönliche Umsetzung. Die Pharisäer werden dabei in keinem Evangelium als repräsentativ für das ganze Volk gezeigt. Obwohl sie in Opposition zu Jesus stehen und ihnen Beschlüsse, gegen Jesus vorzugehen oder sogar ihn zu töten, zugeschrieben werden, werden sie in der eigentlichen Passion nicht erwähnt. Das lukanische Doppelwerk bietet die ambivalenteste Darstellung der Pharisäer, die in der Apostelgeschichte sogar größtenteils positiv ist. So erscheinen die Pharisäer nicht nur als Gegner Jesu und seiner Botschaft, sondern auch als deren Sympathisanten.[8]

Bedeutung für die Religionspädagogik

Im Zuge der Neuverortung der christlichen Theologie nach der Zäsur des Holocaust und dem Ringen nach einem neuen und gelungenen Verhältnis von Christentum und Judentum wurden, insbesondere in den Nachkriegsjahren, die antijudaistischen Dimensionen der bis dato verbreiteten stereotypisierten Deutungen der Pharisäer und des Judentums in einer Art stillschweigender Selbstzensierungswelle unter den Teppich gekehrt. Sukzessive hat die neutestamentliche Wissenschaft als Exegese nach Auschwitz die Präjudikation ihrer Ergebnisse bezüglich antijudaistischer Vorbehalte eingeräumt, aufbereitet und ihre Forschung um Fragestellungen nach einem erneuerten christlich- jüdischen Verhältnis ergänzt. Dies hatte maßgebliche Folgen für biblisch fundierte Lehr-Lern- Prozesse, auch wenn diese, wie Julia Spichal aufgezeigt hat, noch immer über dringenden Verbesserungs- und Differenzierungsbedarf verfügen.[9]

Lernen an und mit der Bibel stellt, bereits ungeachtet derjenigen Passagen, die antijudaistische Polemik enthalten, eine grundlegend bleibende Herausforderung für Religionspädagogik und -didaktik dar. Die Bibel thematisiert als Gotteswort in Menschenwort anthropologische Grundfragen, spiegelt die Breite menschlichen Lebens – auch dessen Schattenseiten und Verfehlungspotential, ist Einladung zu Gottesbeziehung und Selbstbegegnung, enthält Heilsversprechen und eröffnet zahlreiche Horizonte des christlichen Glaubens und ist gleichzeitig Kriterien ihrer historischen Bedingtheit und Situationsabhängigkeit unterworfen, die es allesamt didaktisch und methodisch aufzubereiten gilt.

In einer strukturanalogen Bewegung zu den exegetischen Wissenschaften wurden innerhalb der Religionspädagogik diejenigen biblischen Texte, die beispielsweise aufgrund ihrer diskriminierenden Natur als »schwierig« ausgemacht wurden, bei der Umsetzung religiöser Lehr-Lern-Prozesse ausgeklammert. Inzwischen herrscht Einigkeit darüber, dass dergleichen nicht einfach unberücksichtigt bleiben soll und darf, stattdessen wird ihr Potential für religiöse Bildungsprozesse ausgelotet.[10] Die »Dominanz des Guten bzw. Einfachen« innerhalb der regelmäßig für bibeldidaktische Zwecke ausgewählten Texte soll aufgelöst werden, mit dem Ziel eine Balance zu finden, welche auch die dunklen und unangenehmen Themen und entsprechende Texte berücksichtigt.[11] Bibeltexte laden zum Mit-Denken, zu kritischen An- und Rückfragen und Weiter-Denken ein, sind auf rezeptionsästhetische Prozesse und Re-Kontextualisierung ihrer Inhalte seitens der Lernenden angewiesen.[12] Eine reine Zurechtrückung oder Verharmlosung von Texten kritischen Inhalts wird diesen vor den Konzepten moderner Bibeldidaktik, die auf Lese- und Urteilskompetenz abzielt, weder gerecht, noch wird es ausreichen um diese zu entschärfen. Es bedarf eines ambivalenzsensiblen Umgangs mit diesen Texten, der die Lernenden als Konstrukteure von eigenen Bibelinterpretationen bei gleichzeitiger Zurückverwiesenheit auf die konsensualen Inhalte ihrer Glaubensgemeinschaft ernst nimmt.

Die Pharisäerdarstellungen in den Evangelien eignen sich dafür in besonderem Maße, da dort kein rein negatives, eindimensionales Bild gezeichnet wird, gleichzeitig aber ein solches in der Rezeption vorgelegen hat. Durch eine differenzierte Auseinandersetzung mit diesem hochambivalenten, lokal geprägten, frühchristlichen Abgrenzungsund Identitätsbildungsprozess kann verdeutlicht werden, dass die christliche Identitätsfindung stark durch einen innerjüdischen Diskussionsund Auslegungsdiskurs um die richtige Gesetzesausübung geprägt war. Insbesondere die Positionen der jesuanischen Anhänger standen in einer engen geistigen Verwandtschaft zu derjenigen der pharisäischen Bewegung, wodurch es zu einer schroff gehaltenen Auseinandersetzung und feindlichen Polemik kam.

Eine beispielsweise synoptische Untersuchung der Pharisäerdarstellungen bietet die Gelegenheit die Lernenden für die Verwobenheit biblischer Texte, deren inhaltliche Verwiesenheit und deren Bedeutung als Gesamtkanon und nicht als literarische Miniaturstücke zu sensibilisieren.[13] In der hier vorangestellten Kurzsynopse wurde deutlich, dass die Darstellung der pharisäischen Bewegung in den Evangelien von Schrift zu Schrift variiert und die Pharisäer in keinem der Evangelien als Repräsentanten des Judentums gedacht werden, sondern eine jüdische Gruppierung unter vielen sind.

Die Frage kann in diesem Kontext eröffnet werden, ob der neutestamentliche Antijudaismus ein Ursprungs- oder Degenerationsphänomen darstellt und inwiefern die »Entstehung des Antijudaismus in Verbindung mit den Gruppen der frühesten Christus-Gläubigen zu begreifen« ist. Etwa mit dem Übergang von einer dominant judenchristlichen zu einer weitgehend heidenchristlichen Gemeinschaft, innerhalb dessen judenchristliche Aussagen zu innerjüdischen Differenzen als Urteile über das Judentum betrachtet und somit missverstanden wurden[14], mit weitreichenden Folgen innerhalb der Rezeptionsgeschichte, in welcher diese polemischen Abgrenzungsbemühungen zu Wesensmerkmalen verkehrt wurden.[15]

Vor diesem Hintergrund kann die Relevanz von multiperspektivischem Arbeiten bei der Ausund Bewertung von Quelltexten verdeutlicht werden, indem nach oder begleitend zu einem synoptischen Vergleich die entsprechenden Pharisäerdarstellungen von Flavius Josephus und der rabbinischen Überlieferung behandelt werden. Eine Verfasser-/Quellkritik zeigt schnell auf, dass trotz der Einbeziehung weiterer Quelltexte genuin pharisäische Quellen und dementsprechend Aussagen zum pharisäischen Selbstverständnis fehlen und eine bleibende Leerstelle darstellen, vor der jede schriftliche Schilderung der pharisäischen Bewegung mit entsprechend kritischer Distanz zu bewerten ist.

Eine Auseinandersetzung mit den Pharisäerdarstellungen in den Evangelien, von Spichal als ein neuralgischer Punkt ausgemacht, an welchem mitunter noch immer antijüdische Vorurteile – wenn auch ungewollt – tradiert werden, bietet das Potential, die Identitätsfindung des frühen Christentums innerhalb eines selbstkritischen Lehr-Lern-Prozesses zu reflektieren und darüber die enge und besondere Verwobenheit der christlichen und jüdischen Identität zu verdeutlichen und das christlich-jüdische Verhältnis zu würdigen.

[1] Vgl. Spichal, Julia (2015): Vorurteile gegen Juden im christlichen Religionsunterricht. Eine qualitative Inhaltsanalyse ausgewählter Lehrpläne und Schulbücher in Deutschland und Österreich, Göttingen, S. 203 –212, 227–274.
[2] Vgl. Niebuhr, Karl-Wilhelm (2009): Jesus, Paulus und die Pharisäer. Beobachtungen zu ihren historischen Zusammenhängen, zum Torahverständnis und zur Anthropologie, in: Revista Catalana de Teologia 34.2, S. 317–346, hier 319–328.
[3] Ebd., S. 317–346, hier S. 319–328, 341–343.
[4] Vgl. Deines, Roland (1997): Die Pharisäer. Ihr Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz, Tübingen, S. 543 –555.
[5] Vgl. Marshall, Mary (2015): The Portrayals of the Pharisees in the Gospels and Acts, Göttingen, S. 27– 69.
[6] Vgl. Marshall, Mary (2015): The Portrayals of the Pharisees, S. 70 –127.
[7] Vgl. Marshall, Mary (2015): The Portrayals of the Pharisees, S. 128 –187.
[8] Vgl. Marshall, Mary (2015): The Portrayals of the Pharisees, S. 188 – 241.
[9] Vgl. Spichal, Julia (2015): Vorurteile gegen Juden im christlichen Religionsunterricht, S. 203 –212, 227–274.
[10] Vgl. die Studien von Fricke 2005 und 2013, exemplarisch: Fricke, Michael (2013): Was sind (zu) schwierige Bibeltexte?, in: Zimmermann, Mirjam; Zimmermann, Ruben (Hg.): Handbuch Bibeldidaktik, Tübingen, S. 671– 674.
[11] Mette, Norbert (2007): Bibeldidaktik 1986-2006, in: Jahrbuch der Religionspädagogik, Bd. 23, S. 184 –185.
[12] Vgl. Dei Verbum 12 und 13. Vgl. Boeve, Lieven (2016): Katechese als offenes christliches Narrativ: Unterbrechung und Identität in einer pluralistischen Welt, in: Altmeyer, Stefan; Bitter, Gottfried; Boschki, Reinhold: Christliche Katechese unter den Bedingungen der »flüchtigen Moderne«, Stuttgart, S. 37–52.
[13] Vgl. Schambeck, Mirjam, Art. Bibeldidaktik, Grundfragen, in: Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon (www.wirelex.de), [Zugriff: 05.11.2020].
[14] Bachmann, Michael (2018):Bibel und Antisemitismus, in: Zimmermann, Mirjam; Zimmermann, Ruben (Hg.): Handbuch Bibeldidaktik, Tübingen, S. 754.
[15] Vgl. Müller, Christoph (1999): Die Pharisäer: zu einem Klischee christlicher Predigtpraxis, in: Dietrich, Walter; George, Martin; Luz, Ulrich (Hg.): Antijudaismus – christliche Erblast, Stuttgart, S. 130.

Editorische Anmerkungen

* Dr. Rebekka Groß hat an den Universitäten Münster und Tübingen im Fach Neues Testament promoviert zum Thema »Rhetorische Geschichtsschreibung als theologische Gegenwartsdeutung«.

* Valesca Baert-Knoll ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Religionspädagogik, Kerygmatik und Erwachsenenbildung an der Universität Tübingen.

Quelle: Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung (ZfBeg), 3/2020.