Die Koffer sind jetzt ausgepackt! Juden in Bayern nach der Schoa

Der Beitrag zeichnet stellvertretend für die jüdischen Gemeinden in Deutschland die Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft in Bayern nach.

Die Koffer sind jetzt ausgepackt!

Juden in Bayern nach der Schoa

Shila Khasani

Obschon der vorliegende Artikel1 mit der Überschrift „Juden in Bayern nach der Schoa“, also nach 1945, betitelt ist, sollte zunächst die Lage vor der Schoa beleuchtet werden, um ein Bild der Juden im Freistaat zeichnen zu können. Dies soll hier anhand der Zahl der Juden dargestellt werden.

Bereits im Jahre 1840 lebten über 4.100 Juden in Bayern, die meisten nicht, wie man annehmen könnte, in München, sondern in Fürth, wo mehr als die Hälfte (2.535) der bayerischen Juden zu Hause waren. Bis 1867 stieg die Zahl um mehr als das Doppelte an und betrug über 9.200. Im selben Jahr erlangten die Juden in Bayern die rechtliche Gleichstellung und waren somit emanzipiert. Ihre Zahl stieg kontinuierlich an und betrug im Jahre 1900 bereits über 23.700. Die größte Gemeinde war nun allerdings München, wo über 8.700 Juden beheimatet waren. Dies ist dadurch zu erklären, dass im Zuge der Emanzipation und der Urbanisierung viele Juden weg vom Ländlichen in Großstädte zogen. Bis 1910 verdoppelte sich die Zahl der bayerischen Juden auf fast 46.100 Juden, aber von da an nahm sie ab, so dass 1925 knapp 41.300 und im Jahre 1933 nur noch ca. 35.400 Juden in Bayern lebten. Der in Bayern schon in der Weimarer Zeit starke Antisemitismus, aber auch die wirtschaftliche Depression gaben den Ausschlag, aus Bayern wegzuziehen.

Nach 1933 sah die Situation natürlich anders aus. Auf Grund der immer intensiver werdenden Diskriminierung der Juden infolge der nationalsozialistischen Regierungsübernahme verringerte sich die Zahl der Juden kontinuierlich – wie hier am Beispiel Münchens von 9.000 im Jahre 1933 auf 4.500 im Jahre 1939 und auf 7 im Jahre 1944.2

1945 – 1990

Der Neuanfang 1945 sah dementsprechend, was die Zahl der Juden angeht, vorerst sehr mager aus. Einige der deutschen Juden, die das nationalsozialistische Terrorregime im Konzentrationslager, in Mischehe oder im Versteck überlebt hatten, schlossen sich in verschiedenen bayerischen Städten wie Nürnberg oder München, um nur zwei zu nennen, zusammen und gründeten noch im selben Jahr jüdische Kultusgemeinden. Oft erhielten sie nach Verhandlungen ehemalige der Gemeinde gehörende Immobilien zurück, um neue Gebetshäuser weihen zu können. Nach und nach trafen einige wenige deutsche Juden in ihren Heimatstädten ein, unter ihnen auch Remigranten, die aus dem Exil in ihre Heimat zurückkehren wollten.3

Die folgenden Monate und Jahre brachten dann aber mehrere 10.000, ja mehr als Hunderttausend Juden nach Deutschland, die vor dem Krieg in Osteuropa gewohnt hatten. Die aus den Konzentrationslagern entlassenen osteuropäischen Juden fanden sich in ihrer ehemaligen Heimat mit Antisemitismus und Pogromen (z. B. in Kielcze 1946, wo mehr als 40 Juden ermordet und 60 verletzt wurden) konfrontiert, so dass sie in den Westen wanderten, um von dort weiter nach Palästina oder die Vereinigten Staaten zu gehen.4 Auf ihrer Durchreise bleiben sie teilweise für mehrere Jahre in Deutschland, insbesondere der amerikanisch besetzten Zone, und wurden von der amerikanischen Armee in mit Stacheldraht gesicherten Displaced Persons Camps interniert, teils zusammen mit ihren ehemaligen Peinigern. Dagegen demonstrierten jüdische Organisationen beim amerikanischen Präsidenten Truman, woraufhin Lager nur für jüdische Displaced Persons eingerichtet wurden. Diese Lager befanden sich unter anderem in Deggendorf, Feldafing, Föhrenwald (bei Wolfratshausen) oder Landsberg/ Lech.5

Unmittelbar nach ihrer Befreiung gründeten die überlebenden osteuropäischen Juden das Zentralkomitee der befreiten Juden, das mit Hilfe verschiedener internationaler jüdischer Organisationen wie des American Jewish Joint Distribution Committees eine funktionsfähige Verwaltung schuf, die bis zu 150.0006 jüdische DPs medizinisch, sozial, wirtschaftlich und religiös versorgen musste. Das Zentralkomitee schuf unter anderem einen Suchdienst, der verschollene Verwandten und Freunde wiederzufinden helfen sollte.7

Das Leben in den DP-Lagern war sehr lebensfroh. Obgleich man meinen sollte, dass diese in den vorangegangenen Jahren geschundenen Seelen an Lebensmut verloren haben könnten, entwickelten diese Juden einen starken Lebenswillen. So war 1946 die Geburtsrate in den Lagern die höchste der jüdischen Gemeinden in der Welt und fast vier Mal so hoch wie die der deutschen Bevölkerung. Es wurden Zeitungen und Theater gegründet, Kabaretts und Konzerte wurden aufgeführt, Bücher verlegt (darunter ein Neudruck des babylonischen Talmuds in 19 Bänden), Talmud-Tora-Schulen sowie eine Jeschiwa errichtet. Daneben wurden auch landwirtschaftliche Ausbildungsstätten errichtet, um die Überlebenden auf eine eventuelle Auswanderung nach Palästina vorzubereiten.

Im Jahre 1947 zählte man mehr als 71.000 Juden in Bayern. Mit der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 verließen viele Juden bayerischen Boden und siedelten dort. Einen Monat später wurde in Amerika der sog. Displaced Persons Act verabschiedet, der die Einwanderungsbeschränkungen in die Vereinigten Staaten lockerte und zu weiteren Ausreisen führte. Von den jüdischen DP’s verließ der Großteil zwischen 1948 und 1950 die Lager, so dass 1950 nur noch ca. 10.400 Juden in Bayern lebten, und 5 Jahre später lediglich 2.900.8 Die DP-Lager wurden nach und nach aufgelöst; das letzte, Föhrenwald, im Jahre 1957. Damit stellten auch internationale jüdische Organisationen ihre Hilfe ein, deren Anliegen und Ziel es gewesen war, die Auswanderung der Juden aus Deutschland zu arrangieren. In diesem Sinne konstatierte Robert Weltsch bereits im Jahre 1946: „Wir können nicht annehmen, dass es Juden gibt, die sich nach Deutschland hingezogen fühlen. Hier riecht es nach Leichen, nach Gaskammern, und Folterzellen. Aber tatsächlich leben heute noch ein paar tausend Juden in Deutschland. [...] Dieser Rest jüdischer Siedlungen in Deutschland soll so schnell wie möglich liquidiert werden. [...] Deutschland ist kein Boden für Juden.“9

Die Lagerinsassen waren weitgehend von der deutschen Bevölkerung isoliert. Kontakte beschränkten sich meist auf die geschäftlicher Ebene. Es gab zwar vereinzelt auch persönliche Beziehungen zwischen Lagerinsassen und der deutschen Bevölkerung, die mitunter zu Eheschließungen führten, dennoch waren beiderseits Ressentiments vorhanden. Die meisten jüdischen DPs waren auf Grund der zurückliegenden Ereignisse an einer Beziehung zu den Deutschen nicht interessiert10 und antisemitische Vorfälle waren Ende der 40er Jahre keine Seltenheit. Jüdische Friedhöfe wurden geschändet und antisemitische Leserbriefe erschienen in den Zeitungen mit Hinweis auf die Pressefreiheit. Der Antisemitismus der Deutschen verschwand natürlich nicht mit dem Neubeginn der Stunde Null – wie auch das folgende Beispiel veranschaulicht: Im Mai 1952, d. h. bereits 7 Jahre nach der Befreiung, führte der Zollfahndungsdienst eine Razzia mit Spürhunden im DP-Lager Föhrenwald durch. Die bewaffneten Beamten umzingelten das Lager und drangen in dieses auch ein, weil sie in den Geschäften und Kiosken des Lagers unverzollte Waren vermuteten. Sie beleidigten und prügelten die Lagerinsassen mit den Worten „Dies ist erst der Anfang“ und fügten hinzu, das die Gaskammern noch existierten etc. Daraufhin verständigte der Joint den Staatssekretär für Flüchtlingswesen im bayerischen Innenministerium, der dieser gesetzeswidrigen Aktion ein Ende machte.11

Außerhalb der DP-Lager entstanden die israelitischen Kultusgemeinden auf Initiative der deutschen Juden, die sich dem Führungsanspruch des Zentralkomitees widersetzten. Die Gründung der Gemeinden erfolgte oft mehr aus sozialer Verpflichtung heraus denn auf Grund religiöser Verbindlichkeiten. 1947 gründeten die jüdischen Kultusgemeinden in Bayern einen Landesverband mit Sitz in München, der die Gemeinden auf Landesebene gegenüber der bayerischen Staatsregierung vertreten und verwalten sollte. Diese Gemeinden integrierten nach und nach die in Deutschland verbliebenen Displaced Persons, die sich aus gesundheitlichen oder persönlichen Gründen, z. B. einer Heirat mit einem deutschen Partner, zum Bleiben entschlossen hatten, was aber nicht frei von Spannungen blieb. Die aus traditionellen religiösen Häusern stammenden Ostjuden trafen auf akkulturierte, teils assimilierte deutsche Juden, die sich des traditionellen Judentums entledigt hatten und nun zur Minderheit in den von ihnen errichteten Gemeinden wurden. 1959 lag der Anteil der Ostjuden oft bei weit mehr als 80%; nur in Würzburg betrug der Anteil unter 30%.12 Die Spannungen gingen zum Teil so weit, dass die Führung der Israelitischen Kultusgemeinde Münchens in den Anfangsjahren das Stimmrecht der Gemeinde so umänderte, dass nur diejenigen bei Gemeindewahlen wählen durften, die schon vor 1938 Mitglied einer deutschen Gemeinde gewesen waren, um zu verhindern, dass die osteuropäischen Juden das Ruder übernehmen.13 Dies knüpft auch an die Missstimmungen zwischen deutschen Juden und sog. Ostjuden zu Beginn des 20. Jahrhunderts an, die infolge antisemitischer Ausschreitungen aus dem Osten Europas nach Deutschland kamen und von den akkulturierten Juden Deutschlands nur mit Missbilligung geduldet wurden, da sie von ihnen als Gefährdung ihrer eigenen Assimilation und als Ursache für den Antisemitismus betrachtet wurden. Mitte der fünfziger Jahre aber verschmolzen die zunächst voneinander getrennten Entwicklungen jüdischen Lebens im Nachkriegsdeutschland, und in den wiedergegründeten jüdischen Gemeinden beruhigten sich die Streitigkeiten zwischen den deutschen und den osteuropäischen Juden.

Vor 1933 gab es in Bayern fast 200 jüdische Gemeinden, die meisten in Mittel- und Unterfranken; fünf von ihnen hatten über 1.000 Mitglieder: München 10.068 Mitglieder (dies entsprach 1,5 % der Bevölkerung; Nürnberg 8.603; Fürth 2.504; Würzburg 2.261; Augsburg 1.203.14

Nach 1945 waren es nur noch zwölf, nach 1990 dreizehn Kultusgemeinden,15 von denen jedoch noch lediglich eine, München mit etwas mehr als 1.800,16 über 1.000 Mitglieder hatte. Die Gesamtzahl der Juden in Bayern belief sich damals auf knapp 3.000. Hinzu kommen noch knapp 300 Insassen des DP-Lagers Föhrenwald. Wahrscheinlich war die tatsächliche Zahl der Juden in Bayern jedoch höher – die angegebenen Daten stützen sich auf die Angaben der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, die nur die Mitglieder der jüdischen Gemeinden verzeichnet hat. Daneben muss aber mit einer Dunkelziffer gerechnet werden: Juden, die aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten sind bzw. sich nicht haben registrieren lassen, vielleicht auch um sich die Kirchensteuer zu ersparen; oder solche, die einen nichtjüdischen Partner haben. Da das jüdische Religionsgesetz die Bestattung nichtjüdischer Personen auf jüdischen Friedhöfen untersagt, könnte das Anlass für manchen Juden sein, sich nicht in einer jüdischen Gemeinde zu organisieren bzw. aus dieser auszutreten, um zusammen mit dem Partner bestattet zu werden. Auch könnte allein schon die Tatsache, einen nichtjüdischen Partner zu haben, dazu geführt haben, dem Judentum den Rücken zu kehren. Ein weiteres Problem, auf das man bei der Untersuchung der Zahl der jüdischen Bevölkerung in Deutschland stößt, ist die Erfahrung des Nationalsozialismus: Diese Zeit war von Statistiken geprägt, die akribisch genau geführt wurden. Viele ältere Menschen haben deswegen eine Abscheu vor diesen Zahlenzusammenstellungen, lassen sich nur ungern zählen und geben bei Volkszählungen ihre Religionszugehörigkeit nicht preis.

Bis 1960 stieg die Zahl der Juden in Bayern auf über 3.500; zehn Jahre später war sie auf über 5.000 Juden angewachsen.17 Dieser Zuwachs erfolgte nicht auf Grund natürlicher Reproduktion, sondern durch Rück- und insbesondere durch Zuwanderung. Während der 60er Jahre emigrierten viele Juden aus Osteuropa infolge antisemitischer Ausschreitungen nach Deutschland und ließen sich auch in Bayern nieder. Der 1952 beschlossene Vertrag zur Wiedergutmachung führte wohl auch dazu, dass Juden wieder Vertrauen in Deutschland fassten, sich wieder in Deutschland niederließen und es sogar als Zufluchtsort sahen. Trotz allem herrschte die Mentalität der gepackten Koffer vor – man lebte zwar in Deutschland, sah aber weder die eigene Zukunft noch die der Kinder im Land der Mörder.

Bis Ende der 80er Jahre veränderte sich die Zahl der Juden in Bayern kaum, nämlich um „nur“ 500 Personen18 – was aber immerhin 10% der jüdischen Bevölkerung Ende der 60er Jahre ausmachte. München beherbergte innerhalb Bayerns die Mehrheit der Juden – 1970 um 3.500 und 1990 über 4.000 Juden.

Es starben sieben Mal so viele Menschen wie Kinder auf die Welt kamen, und ohne die Einwanderung von Juden aus verschiedenen Teilen der Welt wären die Gemeinden in Deutschland vollends aufgelöst worden. Die hohe Sterberate hat ihre Ursache in der Überalterung der Gemeinden: Der Altersdurchschnitt lag bei fast 50 Jahren, da es besonders alte und kranke Menschen waren, die nicht mehr die Kraft fanden, um ins Ausland zu wandern und in Deutschland verblieben.19

1990 – heute

Ab 1990 haben sich die jüdischen Gemeinden in Bayern und damit verbunden das jüdische Leben stark verändert. In den letzten 13 Jahren sind die jüdischen Gemeinden in Bayern und in der ganzen Bundesrepublik um ein Vielfaches angewachsen. Grund dafür ist die Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion in jüdische Gemeinden in Deutschland, um dem aufflammenden Antisemitismus in ihrer Heimat zu entfliehen. So ist die Zahl der Mitglieder jüdischer Gemeinden in Bayern bis 1995 (von 5.500 Ende der 80er Jahre) auf 6.500 angestiegen, ein Jahr später verzeichneten bayerische jüdische Gemeinden bereits fast 10.000 und Ende 2002 ca. 17.300 Mitglieder, also mehr als drei Mal so viel wie 13 Jahre zuvor. In manchen Gemeinden stieg die Zahl der Mitglieder um mehr als das Zehnfache an. Die meisten Juden, fast die Hälfte leben heute in München; vier weitere Gemeinden haben über 1.000 Mitglieder.20

Nach ihrer Größe geordnet gab es 2002 in Bayern folgende Gemeinden (in Klammern die Mitgliederzahlen von 1989):

München 8 605 (4.051), Straubing 1.706 (142), Augsburg 1 294 (237), Nürnberg 1.171(337), Würzburg 1.026 (169), Bamberg 854 (103), Regensburg 672(115), Fürth 509 (180), Bayreuth 453(39), Hof 319(38), Weiden 310 (49) und Amberg 247 (78).21

Ab 1994 ist erstmals in den jüdischen Gemeinden Deutschlands ein Frauenüberschuss zu verzeichnen; an der Überalterung der Judenheit hat sich allerdings nichts geändert, obschon das Durchschnittalter etwas niedriger liegt als vorher, aber dennoch weit über 40 Jahre. Die Zuwanderung ist weithin durch die Immigration von Menschen höheren Alters – m ehr als 30% sind bereits über 60 Jahre alt – gekennzeichnet.22 Die meisten russischen Juden haben ein hohes Bildungsniveau, über 70% haben einen Universitätsabschluss, sind verstädtert und kommen zumeist aus Russland (38%) und der Ukraine (33,6%).23 Die Verteilung der Flüchtlinge wird nach dem sog. Königsteiner Schlüssel geregelt, der die Menschen den einzelnen Bundesländern proportional zu der deutschen Bevölkerung zuteilt. So kamen im Jahre 1998 13.078 russische Juden nach Bayern (das sind 13,3%); wohingegen die meisten nach Nordrhein-Westfalen kamen (24.494, also 24,9%).24 Die Flüchtlinge erhalten eine unbefristete Aufnahmezusage Deutschlands, eine unbefristete Arbeitserlaubnis, Anspruch auf Sozialhilfe, Kindergeld etc. und einen sechsmonatigen Sprachkurs. Untergebracht werden sie in Wohnheimen der Länder, teils in Orten ohne jüdische Gemeinde.

Die neuen Mitglieder der jüdischen Gemeinden haben ein anderes Selbstverständnis als Juden und eine andere Einstellung gegenüber Deutschland als die sog. alteingesessenen Juden. Die russischen Juden kommen nach Deutschland mit einem Gefühl der Dankbarkeit dafür, dass sie aufgenommen wurden und dem Antisemitismus in ihren Ländern entfliehen konnten. Für sie ist das Dritte Reich viel weniger gegenwärtig und auch weniger traumatisch; für sie ist der Antisemitismus Stalins präsent. Während alteingesessene Juden davor zurückschrecken, Deutschland als ihre Heimat und sich selbst als Deutsche zu empfinden, ist bei den russischen Juden viel häufiger das Gefühl bzw. der Wille zu spüren, Teil der deutschen Gesellschaft zu werden. Allerdings muss dazu angemerkt werden, dass in der 3. Generation der alteingesessenen Juden diese Distanznahme zu Deutschland und der deutschen Gesellschaft viel weniger stark ist als in den vorhergehenden Generationen.

Die Zuwanderung der jüdischen Flüchtlinge aus den GUS-Staaten stellt die jüdischen Gemeinden vor neue Probleme: Gemeindearbeit ist vor allem Sozialarbeit geworden, man versucht die neuen Mitglieder zu integrieren und ihnen Hilfestellung zu leisten, z.B. bei Arzt- oder Behördengängen. Natürlich versucht man auch die neuen Gemeindemitglieder in die Synagogen zu „locken“, schließlich erhoffte sich die jüdische Führung von der Zuwanderung ein Wiederaufleben jüdischer Kultur und Religion in Deutschland. Was den Neubeginn religiösen Lebens jedoch angeht, so steht man auch hier vor einem Problem: Die Zuwanderer lebten ihr Leben lang unter einem kommunistischen Regime, größtenteils ohne geistigen Zugang zur Religion, sie sind völlig laizistisch aufgewachsen und identifizierten sich mit dem Judentum nicht als Religion, sondern lediglich als Nationalität – schließlich waren sie in ihren Pässen mit dem Wort Evrey (Jude, Hebräer) unter der Rubrik Nationalität stigmatisiert. So leuchtet es ein, wenn bei Repräsentativumfragen herauskommt, dass viele keine religiöse Neuorientierung in Deutschland vollzogen haben. Über 40 % der Juden aus den GUS-Staaten haben ihr religiöses Bewusstsein nicht verändert, nur 23,3% haben eine Annäherung ans Judentum vollzogen – und das vor allem alte Menschen, die sich noch vage an religiöse Rituale in ihren Elternhäusern oder bei den Großeltern erinnern können.25

Gemeindestrukturen

Das Problem der fehlenden religiösen Bindung an die jüdischen Gemeinden führt zu einer Diskussion über die Gemeindestrukturen. Besonders kleine Gemeinden beispielsweise haben niemals Vorstandswahlen durchgeführt; die Repräsentanz wurde weitergegeben – sozusagen weitervererbt –, und ist auch heute noch meist in der Hand der Alteingesessenen. Diese betreiben die gleiche Politik wie in den Jahren zuvor, ohne zu bemerken, dass die Zuwanderung neuer Mitglieder die jüdischen Gemeinden vor die Aufgabe gestellt hat, ihr eigenes Selbstverständnis zu suchen und neu zu definieren. Dies könnte sich in einem Machtwechsel äußern, und so ist es nun auch so, dass in einigen Gemeinden Bayerns auch russische Juden im Vorstand sind.

Natürlich sind mit einer so großen Welle an Zuwanderung auch Spannungen vorprogrammiert. Zum einen sind die Gemeinden mit der starken Zuwanderungswelle überfordert. Auf der anderen Seite – so wie bereits Anfang des 20. Jahrhunderts die deutschen Juden die Ostjuden nur ungern willkommen hießen, so wie Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre die osteuropäischen DPs in den deutsch-jüdischen Gemeinden nicht sehr freundlich eingereiht wurden, so wurden eben auch die russischen Juden mit der Zeit nicht mehr mit offenen Armen aufgenommen –, wenn auch jeweils aus anderen Beweggründen. Viele Alteingesessene fühlten sich überrumpelt, sie sahen sich bzw. die Gemeinden ausgenutzt und fühlten sich aus den Gemeinden herausgedrängt, wenn sie mit der deutschen Sprache nicht mehr weit kamen und fortwährend auf Russisch angesprochen wurden. Der Vorwurf, dass die russischen Juden die Gemeinden ausnutzten, kann aber so nicht stehen bleiben. Viele der Neuzuwanderer gründeten ihre eigenen Clubs, auch wenn es dabei nur darum geht, die russische Sprache und Kultur zu pflegen, engagieren sich in den Gemeinden, weil sie sich in ihnen wohl und zu Hause fühlen, und kommen zum Teil regelmäßig zu den Gottesdiensten.

Gottesdienst

Das Stichwort ‚Gottesdienst’ führt zu einer weiteren Problematik: Die jüdischen Gemeinden in Deutschland folgen dem Prinzip der Einheitsgemeinde. Darunter versteht man jüdische Gemeinden, unter deren Mantel sich liberale und orthodoxe Strömungen des Judentums vereinigen und den Gottesdienst nach orthodoxem Ritus vollziehen. Zum Zeitpunkt der Gründung der jüdischen Gemeinden in Deutschland – man halte sich noch einmal die Zahl der Juden vor Augen – war dies sehr sinnvoll. Die heutige Situation aber stellt die Gemeinden vor neue Herausforderungen. Heute, um es mit den Worten des Landesrabbiners von Westfalen, Henry Brandt, zu sagen, funktioniert die Einheitsgemeinde als Bindeglied für alle religiösen Anschauungen im Judentum nicht mehr.26 Die neuen Mitglieder der jüdischen Gemeinden sind der Religion so entfremdet, dass sie von einem orthodoxen Gottesdienst eher abgeschreckt als angezogen werden. Die in der UdSSR propagierte Gleichberechtigung der Frau und die Realität in den jüdischen Gemeinden, in denen die Frauen von den Männern getrennt sitzen, passen nicht zusammen. Es müssen also neue Lösungen gefunden werden. Um erneut Rabbiner Brandt zu zitieren: Die Tora hat viele Gesichter27 – liberal-religiöses Gedankengut muss in deutschen Gemeinden wieder zugelassen und diskutiert werden. Die Öffnung gegenüber dem Neuen scheitert aber oft an den alteingesessenen Mitgliedern und Vorständen der Gemeinden, die mit dem Hinweis „Das war schon immer so“ an Gewohnheiten festhalten, auch aus Angst vor dem Ungewissen und der Furcht, die Gemeinden und somit das Judentum zu zerstören.28

Dennoch öffneten sich einige Gemeinden in den 90er Jahren gegenüber liberalen Strömungen, wie beispielsweise die Jüdische Gemeinde Weiden, die erstmals 1945 in Bayern eine Rabbinerin, Gesa Ederberg, beschäftigt. Ederberg rechnet sich der sog. Masorti –Bewegung29 zu, die sich nicht zur Reformbewegung zählt, sondern auf der Basis der Halacha, d.h. des jüdischen Religionsgesetzes, das Judentum lebt.

Neben jüdischen Gemeinden, die sich der Moderne öffneten, formierten sich Mitte der 90er Jahre auch liberale Gemeinden, wie die im März 1995 gegründete Gemeinde Beth Shalom in München, die sich der World Union for Progressive Judaism zurechnet. Das Ziel von Beth Shalom ist es, progressives jüdisches Leben in München zu fördern. Die Gemeinde hat etwa 150 Mitglieder, die aus ca. 15 Ländern stammen, und entstand aus der Initiative von überwiegend amerikanisch-jüdischen Familien. Sie ist allerdings kein Teil der jüdischen Gemeinde München, sondern besteht autonom. Diese Entwicklungen zeigen, dass die Immigration der russischen Juden zu einer Pluralisierung des jüdischen Lebens in Deutschland geführt hat.

Zum Ende dieser Ausführungen soll ein kurzer Ausblick gewagt werden. Trotz der Meinungsverschiedenheiten innerhalb der jüdischen Gemeinschaft bezüglich der Art des Gottesdienstes kann man doch davon ausgehen, dass die Einwanderung russischer Juden nach Deutschland sich für die jüdischen Gemeinden als fruchtbar erwiesen hat und weiterhin erweisen wird, und jüdisches Leben von Neuem erblüht. Es werden neue, größere Gotteshäuser errichtet, jüdische Kindergärten und Schulen gegründet, und selbst in (ehemals) kleinen Gemeinden finden wieder regelmäßig Gottesdienste statt. Neben allen Problemen kann man auch eine Annäherung zwischen den neuen und den alten Gemeindemitgliedern feststellen – das drückt sich schon allein darin aus, dass es vermehrt jüdische Eheschließungen gibt und eben auch solche zwischen „alteingesessenen“ und Juden aus den GUS-Ländern.

Die Juden hierzulande bekennen sich wieder dazu hier zu leben. Sie entwickeln ein anderes Selbstverständnis, nämlich einerseits das des deutschen Juden30 und andererseits das des Juden, der dankbar ist, von Deutschland aufgenommen worden zu sein, wie im Falle der Zugewanderten. Das veränderte Selbstverständnis äußert sich im Bekenntnis zu Deutschland; darin, hier zu bleiben; und es wird auch dadurch deutlich, dass die gewählten Studienfächer der jungen Juden nicht mehr die „tragbaren“, traditionellen Berufe wie Medizin oder Betriebswirtschaft sind, sondern auch Geisteswissenschaften eine Option geworden sind.

Um das vorhin benutzte Bild der „gepackten Koffer“ noch einmal zu verwenden: Die Koffer sind jetzt ausgepackt!

Anmerkungen
  1. Der Artikel basiert auf einem Vortrag, der am 20. Oktober 2002 bei der Eröffnung der Ausstellung „BlickWechsel. Christen und Juden – Juden und Christen“ in Bad Alexandersbad gehalten wurde. Obgleich die Entwicklungslinien der jüdischen Gemeinschaft in Bayern nachgezeichnet wurden, verliefen diese deutschlandweit ähnlich.
  2. Zu den Zahlen vgl. Baruch Z. Ophir/ Falk Wiesemann (Hg.): Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 – 1945. Geschichte und Zerstörung. München, 1979. 15
  3. Vgl. „Die Israelitische Kultusgemeinde Nürnberg nach 1945“, in: Stadt Nürnberg, Presse- und Informationsamt (Hg.): Juden in Nürnberg. Geschichte der jüdischen Mitbürger vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Nürnberg, 1993. 56-70. Hier 56 ff.
  4. Vgl. Erica Brugauer, Zwischen Erinnerung und Verdrängung – Juden in Deutschland nach 1945. Hamburg: Rowohlt 1993. 18 f.
  5. Abraham J. Peck, „Jüdisches Leben in Bayern nach 1945. Die Stimme von She’erit Hapletah“, in: Manfred Treml / Josef Kirmeier (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Aufsätze. München: K.G. Saur, 1988. 505-515. Hier 506 f.
  6. Beim Umgang mit den Zahlen ist Vorsicht geboten, da sich viele Daten auf die amerikanische Zone beziehen, die bekanntlich bis weit in den Norden Deutschlands sich erstreckte und nicht nur das Bundesland Bayern umfasste.
  7. Zum Folgenden vgl. Peck, a.a.O.. 508f. und Bernward Deneke (Hg.): Siehe, der Stein schreit aus der Mauer. Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Eine Ausstellung des Germanischen Nationalmuseums und des Hauses der Bayerischen Geschichte im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, 25.10.1988 - 22.01.1989. Nürnberg, 1988. 485. Zur Kultur in den jüdischen DP-Lagern vgl. auch Juliane Wetzel, „Jüdische Kultur im Bayern der Nachkriegszeit“, in: Treml / Kirmeier (Hg.), a.a.O. 517-526.
  8. Deneke, a.a.O. 496.
  9. Robert Weltsch war deutscher Zionist und verantwortlicher Redakteur der zwischen 1902 und 1938 erscheinenden Zeitung „Jüdische Rundschau“. Er wurde insbesondere dadurch bekannt, dass er den Ausspruch „Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck“ skandierte, als die Juden gezwungen wurden, den gelben Stern zu tragen. Zit. nach Harry Maor, Über den Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden in Deutschland seit 1945, Mainz, 1961. 34.
  10. So bemerkte einer der Lagerinsassen Feldafings: „Feindseligkeit und Widerwille sind eine milde Beschreibung unserer Gefühle als Gruppe gegenüber dem deutschen Volk.“ Zit. nach Peck, a.a.O. 511.
  11. Peck, a. a. O. 512 f.
  12. Deneke, a. a. O. 485. 496.
  13. Peck, a. a. O. 514.
  14. Stand 1925. Vgl. Ophir / Wiesemann, a. a. O. 15.
  15. Auf Grund der Einwanderung von Juden aus den ehemaligen GUS-Staaten gründete sich 1990 eine jüdische Gemeinde in Erlangen.
  16. Stand 1.4.1955. Vgl. Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e. V.: Mitgliederstatistik der einzelnen Gemeinden und Landesverbände der Bundsrepublik Deutschlands und Westberlins. per 1. 1. 1958.
  17. Vgl. Mitgliederstatistiken der ZWSt per 1.1.1961 und per 1.1.1971.
  18. Vgl. Mitgliederstatistik der ZWSt per 1.1.1989.
  19. Vgl. Auswertung der Mitgliederstatistiken der ZWSt von 1955 bis 1998, in Shila Khasani, The Demographic Structure of Jews in the German Federal Republic after World War II. Unveröffentlichte Seminararbeit Jerusalem, 2000.
  20. Mitgliederstatistiken der ZWSt per 31. 12. 1995, 31. 12. 1996 und 31. 12. 2002.
  21. Mitgliederstatistik der ZWSt per 1. 1. 1989 und per 31. 12. 2002.
  22. Julius H. Schoeps/ Willi Jasper/ Bernhard Vogt (Hg.), Ein neues Judentum in Deutschland? Fremd- und Eigenbilder der russisch-jüdischen Einwanderer. Potsdam, 1998. S. 41 ff.
  23. A. a. O. 43f. 49.
  24. A. a. O. 54 ff.
  25. A. a. O. 114.
  26. Zit. nach Gabriele Brenner, Jüdische Gemeinde Weiden. Weiden, 1997. 18.
  27. A. a. O.
  28. Zu dieser Kritik auch Brenner, a. a. O. 17f.
  29. „Masorti“ bedeutet auf deutsch „traditionell“.
  30. Dies gilt besonders für die Juden der 3. Generation, also diejenigen, die hier geboren wurden – im Gegensatz zu ihren Vorfahren, die sich als Juden in Deutschland sahen. Diese Problematik äußert sich schon in der Namensgebung der Dachorganisation der Juden in Deutschland: Zentralrat der Juden in Deutschland, nicht Zentralrat der deutschen Juden.

Editorische Anmerkungen

Shila Khasani, geb. 1976 in Hof, ist aktiv im Bund jüdischer Studenten in Deutschland und promoviert zur Geschichte des Zentralrates der Juden.

QUELLE: Begegnungen. Zeitschrift für Kirche und Judentum. Heft Nr. 1, 2004.