Die Juden in Ungarn

Mittelalter - Türkische Zeit - Neuzeit

Die Juden in Ungarn

Szébik, Imre

Mittelalter

Seit der Gründung des Königreichs Ungarn (1001 n.Chr.) finden wir die erste Erwähnung der Juden im Gesetzbuch des Königs I. László (1092), wo Mischehen mit Christen sowie das Arbeiten am Sonntag verboten werden. Aber sonst ist keine Spur von Einschränkungen, geschweige denn Verfolgungen zu finden, wo doch zu dieser Zeit schon im übrigen “christlichen' Europa Judenverfolgungen Gang und Gäbe waren. Vor den Kreuzzugsfahrern, die bekanntlich überall auch Judenpogrome anstifteten, flüchteten eben deshalb viele Juden nach Ungarn, vornehmlich aus Böhmen und Österreich. In Ungarn konnten sie friedlich leben und durften sogar Landbesitz haben und bäuerliche Tätigkeit ausüben.

Erst im Jahre 1222 lesen wir im Gesetzbuch “Die Goldene Bulle' einige die wirtschaftliche Tätigkeit der Juden einschränkende Verordnungen.

Im Jahre 1251, nach dem das ganze Land verheerenden Tatarensturm, stellte ein Schutzbrief des Königs IV. Béla die Juden direkt unter den Schutz und die Oberaufsicht des Königs. Ihre Religionsfreiheit und sonstige Tätigkeit wurde gesetzlich gesichert. Der Grund dafür war wohl nicht allein Humanität. Der König brauchte die Juden und ihr Geld dringend für den Wiederaufbau des von den Tataren verwüsteten Landes.

Es ist traurig, feststellen zu müssen, dass die Könige von Ungarn immer wieder jahrhundertelang gegen die Juden rigoros vorzugehen drängten, zumeist ohne sichtlichen Erfolg. Doch der letzte ungarische König aus dem Hause Arpád, III. Endre, sicherte die Gleichberechtigung der Juden mit den anderen Staatsbürgern (1291).

Erst König I. Lajos aus dem Hause Anjou, also aus dem westlichen Europa, versuchte die Juden mit allen Mitteln zu bekehren. Als dies misslang, vertrieb er sie aus dem Land (1361). Doch wurde diese Verordnung nach vier Jahren bereits wieder aufgehoben. Die Folgen waren nicht mehr rückgängig zu machen. Nur wenige der Vertriebenen kehrten zurück. Die, welche später einwanderten, zu jener Zeit die sephardischen Juden, konnten nicht mehr an das traditionelle gute Verhältnis zwischen Juden und Christen in Ungarn nahtlos anknüpfen. Sie zogen sich, zum Teil aus eigenem Interesse, in Ghettos zurück. Wie lange zuvor schon im übrigen Europa wurde ihnen schrittweise die Ausübung fast aller Berufe verwehrt. Sie mussten Kaufleute und Bankiers werden.

Dies erweckte aber den Neid und Hass des zumeist deutschstämmigen städtischen Bürgertums. Neben Papst und Kirche war diese Bevölkerungsschicht für Jahrhunderte der erbitterste Feind des Judentums, da die christlichen Handwerker und Kaufleute die Konkurrenz der Juden fürchteten. Seit 1421 mussten die Juden auch in Ungarn eine diskriminierende Kleidung – spitzen Hut und roten Fleck – tragen.

Unter König Matthias Corvinus, unserem größten König, wendete sich das Blatt wieder zugunsten der Juden. Er stellte sie unter königlichen Schutz und ernannte einen Juden zum Judenpräfekten, der nur ihm persönlich verantwortlich war. Er durfte Waffen tragen und eine bewaffnete jüdische Polizeitruppe stand ihm zur Verfügung. Als der König in das besiegte Wien einzog, marschierte diese jüdische Reitertruppe in seinem Gefolge.

Nach seinem Tod brach bald wegen Anschuldigung eines falschen Ritualmordes eine grausame Verfolgung aus. Im Jahre 1494 kamen einige Juden auf den Scheiterhaufen. Da für viele Jahre kein starker König mehr im Lande regierte, häuften sich von der Zeit an einschränkende und unterdrückende Maßnahmen gegen die Juden. Großadel und städtisches Bürgertum wetteiferten miteinander, aus den bedrängten Juden den letzten Heller herauszupressen.

Türkische Zeit

Trotzdem wurde ein sehr begabter Jude – allerdings Konvertit – Imre Fortunatus zur Zeit des Königs Il. Lajos Schatzmeister im Lande. Der König war in der Entscheidungsschlacht von Mohács mitsamt der ganzen ungarischen Armee gegen die Türken gefallen. Nun begann für 150 Jahre die türkische Besetzung des Landes, bzw. des mittleren Teiles.

Die sich zu dieser Zeit ausbreitende Reformation war eher judenfreundlich. Die reformatorischen Prediger zogen in ihren Predigten eine Parallele zwischen dem schweren Schicksal des biblischen Judentums und dem damals so schwergeprüften ungarischen Volk. Die bald einsetzende Gegenreformation verfolgte Protestanten und Juden gleichermaßen. Die streng katholischen Könige aus dem Hause Habsburg gaben viele judenfeindliche Verordnungen heraus. In den türkisch besetzten Gebieten lebten dagegen die Juden – wie übrigens auch die Protestanten – in relativer Sicherheit und Frieden. Der Türke war in Sachen Religion neutral, ihn interessierte nur die absolute Loyalität seiner Untertanen und dass die Steuergelder pünktlich bezahlt wurden.

Unter den protestantischen Fürsten im damals unabhängigen Fürstentum Siebenbürgen genossen die Juden Religionsfreiheit und auch andere bürgerliche Rechte. Dies dauerte bis 1689, als die Selbständigkeit Siebenbürgens aufhörte und auch dieses in das Habsburgerreich einverleibt wurde. Es ist so nur allzu verständlich, dass während der Belagerung und Erstürmung von Buda (1686), die dort lebenden Juden bis aufs Letzte auf türkischer Seite auch mit Waffen kämpften und größtenteils auch umgekommen sind. In dem nach der Austreibung der Türken sowieso entvölkerten und ausgebluteten, verwüsteten Lande lebten nur sehr wenige Juden. Im Jahre 1735 nur noch 11.621. Es folgte nun eine Zeit der Unterdrückung für Ungarn und Juden gleichermaßen, in welcher der verzweifelte Freiheitskrieg des Fürsten II. Ferenc Rákóczi nur eine Episode bildete.

Neuzeit

Mittlerweile zeigte sich jedoch die Morgenröte der Aufklärung am Horizont Europas. Der “aufgeklärte Absolutist' Kaiser Josef II. hatte dann in seinem Toleranzpatent den Juden wie den Protestanten Lebensrecht in seinem Reich gesichert (Systematica gentis Judaicae regulatio, 1783). Damit begann der Prozess der Judenemanzipation auch in Ungarn, damals Teil des österreichischen Kaiserreiches. Die Entwicklung blieb freilich nicht ohne Rückschläge. Besonders das städtische Bürgertum lehnte sich immer wieder gegen die Emanzipation der Juden auf. Im Jahre 1840 lebten 240.000 Juden in Ungarn.

Volle Freiheit und Gleichberechtigung wurde den Juden dann durch die ungarische Revolution von 1848/ 49 gewährt. Im Freiheitskrieg gegen die Unterdrückung der Habsburger kämpften auch jüdische Soldaten in der ungarischen Revolutionsarmee mit. Nach der Niederlage der Revolution kam wieder für die ganze Bevölkerung und so auch für die Juden eine Zeit der Unterdrückung. Der so genannte Ausgleich der ungarischen Nation mit dem Monarchen Franz Josef I. 1857 hatte dann die volle Gleichberechtigung aller Staatsbürger, einschließlich der Juden, gesetzlich gesichert.

Aber noch im Jahre 1882 flammte der latente Antisemitismus durch eine falsche Anklage des Ritualmordes in einem kleinen Dorf in Oberungarn auf. Der rechtliche Freispruch der unschuldig Angeklagten hatte die antisemitischen Affekte noch verstärkt, sodass diese nur durch energische Maßnahmen der Regierung – Militäreinsatz! – erstickt werden konnten. Im Jahre 1914 lebten eine Million Juden in Ungarn (Gesamtbevölkerung etwa 17 Millionen). Im ersten Weltkrieg kämpften viele Juden als Soldaten der österreich-ungarischen Armee mit.

Die Behauptung, dass in der sozialistisch/ kommunistischen Revolution von 1918/19 überdurchschnittlich viele Juden eine führende Rolle gespielt hätten, ist verständlich. Nach dem Sieg der Konterrevolution (Horthy), ermöglicht durch die Beihilfe der Entente-Mächte, benützte man die Juden als Sündenböcke: Sie wurden verantwortlich gemacht für den verlorenen Krieg, für die Revolution, für den wirtschaftlichen Zusammenbruch und auch für den katastrophalen Friedensvertrag von Trianon. So kam es zu grausamen antisemitischen Ausschreitungen. Auch nach der Konsolidierung der Verhältnisse (1921), blieb ein latenter Antisemitismus, genährt von den Rechtsparteien, vorhanden, wenn auch dieser im kleinen Rahmen blieb. Ein Zeichen dafür war der sogenannte Numerus Clausus. Die Zahl der zum Universitätsstudium zugelassenen jüdischen Studenten war beschränkt, obwohl im Übrigen die Gleichberechtigung gesetzlich gesichert war. Schon seit der Jahrhundertwende nahmen die Juden am wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Landes ungehindert teil. Das Judentum schenkte dem Lande zahlreiche namhafte Persönlichkeiten der Wissenschaft, der Kunst und der Literatur.

Am Ende der 30er Jahre, als der Druck des Hitlerischen Faschismus auch in Ungarn immer mehr spürbar wurde, kam es zu einer Auswanderungswelle der ungarischen Juden, aber auch anderer liberaler Intellektuellen, vorwiegend in die U.S.A. Einschränkende Verordnungen gegen die Juden wurden von der ungarischen Regierung, unter deutschem Druck, erst seit 1939 angeordnet. Zum Tragen des Judensterns und zu den Massendeportationen kam es erst nach der deutschen Besetzung des Landes, am 19. März 1944.

Der Protest der Kirchen kam leider zu spät, war zu schwach und desorganisiert. Auch die gar nicht koordinierten, zumeist durch Initiativen von Einzelnen eingeleiteten Rettungsaktionen waren verspätet und nur wenig wirksam. Trotzdem konnten durch heldenmutigen Einsatz von Pastoren und anderen Christen – unter ihnen ist besonders Gabor Sztehló zu erwähnen – Tausende vor dem Holocaust gerettet werden.

 

Editorische Anmerkungen

Imre Szébik ist erster Bischof der evangelisch-lutherischen Kirche in Ungarn.

Quelle: Koordinierungsausschuss für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit