Die gegenwärtige Systematische Theologie und das Judentum

Inwieweit haben sich die Erneuerungsbemühungen im jüdisch-christlichen Dialog in der systematischen Theologie niedergeschlagen?

Die gegenwärtige Systematische Theologie und das Judentum

„In der gegenwärtigen theologischen Diskussion begegnet die verbreitete Neigung, jeden christologischen Ansatz, der es noch wagt, ein aus dem damaligen Judentum nicht abgeleitetes Eigenprofil Jesu zu behaupten, eine wirkungsgeschichtliche Mitschuld an jenem Antisemitismus zu geben, der zum nationalsozialistischen Massenmord am jüdischen Volk geführt hat. Denn – so lautet die Argumentation – wer das ungebrochene Jude-Sein Jesu verleugne, stricke weiter an der fatalen Legende von den Juden als den ,Gottesmördern'.1 Trifft diese Feststellung auf die gegenwärtige Systematische Theologie zu, oder spiegelt die These nur jenen Mangel an Sachkenntnis und jene polemisch verzerrte Unsensibilität in theologischer Reflexion, aufgrund derer eine Stimme aus dem jüdisch-christlichen Dialog mahnte, sich dort vor allzuviel Dialogpathos zu hüten?2 Um in dieser Problemkonstellation klarer zu sehen, gilt es, die systematische Theologie daraufhin zu befragen, inwieweit sich die Erneuerungsbemühungen im jüdisch-christlichen Dialog in ihr niedergeschlagen haben.

Paradigmenwechsel im Verhältnis zwischen Christentum und Judentum

Extrem verkürzt formuliert, lassen sich vier Phasen und Dimensionen der Beziehung zwischen Juden und Christen nach 1945 voneinander abheben.

Die Phase eines eher (1) schwebenden, begrifflich unausgewiesenen Wohlwollens weicht einer (2) dezidierten theologischen Diskussion hinsichtlich der Wende von der Mission zum Dialog. Daraus gehen unter Rückgriff etwa auf die Israellehre von Karl Barth (3) Versuche der Anerkennung der bleibenden Heilsbedeutung Israels für die Kirche hervor, aus denen schließlich die (4) Einsicht in die wahrhaft „wurzelhafte” Abhängigkeit der Christen von den Juden, in das konstitutiv „jüdische” im Christentum erwächst.3

Das eigentliche theologische Problem besteht darin, die heilsgeschichtliche Universalität Jesu Christi (vgl. Eph 2, 11-22) als Erlöser festzuhalten und das christliche wie das jüdische Proprium zu wahren, ohne die dauerhafte Heilsbedeutsamkeit, die bleibende Erwähltheit und Berufung auch des nachbiblischen Judentums als eigenständigen, gottgegebenen Heilsweg anzutasten. Seine eigentliche Qualität erwächst dem Dialog freilich erst durch die begriffliche Selbstvergewisserung seiner Situation „nach Auschwitz”. Es geht nicht nur darum, keine Theologie ohne christliche Mitverantwortung für die Schoa zu betreiben, sondern entscheidend darum, daß die christliche Abhängigkeit vom Judentum nach Auschwitz wesentlich auch die Abhängigkeit von den Opfern bedeutet und diese Abhängigkeit eine der entscheidenden Wurzeln der jüdisch-christlichen Ökumene bildet.4

Kirchlichen Verlautbarungen wie Nostra aetate Nr. 4, der Erklärung der Synode der Rheinischen Kirche von 1980 und der Vergebungsbitte des Papstes (2000) gebührt zweifellos in der Geschichte der jüdisch-christlichen Erneuerung im Vergleich zur Fachtheologie eine gewisse Vorreiterrolle.5 Das darf aber nicht das stark intensivierte Forschungsinteresse vergessen lassen, das inzwischen nahezu alle Bereiche der christlichen Theologie erfaßt hat und das damit eindrucksvoll unter Beweis stellt, daß es sich beim jüdisch-christlichen Dialog nicht bloß um ein theologisches Akzidenz, sondern um die „Kehre” zu den eigenen Ursprüngen handelt, um einen Paradigmenwechsel der Zuordnung von Christentum und Judentum.

Dabei rückt der biblische Bundesgedanke immer stärker ins Zentrum. Er birgt exegetisch das größte Potential, die jeweilige Identität und die heilsgeschichtliche Abhängigkeit von Judentum und Christentum zu definieren. Israel und Kirche stehen nicht als zwei parallele Bünde nebeneinander. Sie sind auch nicht auf einem „doppelten” Heilsweg unterwegs. Beide stehen im gemeinsamen, dynamischen Gottesbund, wobei der „Neue Bund im Alten” zu situieren ist. In Jesus Christus, in dem Gott seine zunächst allein dem Gottesvolk Israel geltenden Verheißungen und sein Erwählungshandeln bestätigt und bekräftigt hat, wird die Kirche „aus den Völkern” in den ungekündigten Bund Gottes mit seinem Volk Israel hineingenommen. Erst durch ihn erhalten die Nichtjuden Anteil an Gottes Heilsverheißungen. Nach Friedrich-Wilhelm Marquardt will Jesus „ein Teilnahmeereignis an der Geschichte Israels sein und bewirken".6 So lernt man in diesem Paradigmenwechsel die Kirche im Horizont Israels zu definieren und nicht das nachbiblische Israel im Horizont der Kirche. Bertold Klappert hat für die Wahrung sowohl des bundestheologischen Primats Israels als auch der jeweiligen Identität von Judentum und Christentum den Begriff Dependenzmodell gefunden.7

Annäherungen der Systematischen Theologie an den jüdisch-christlichen Dialog

In der Systematischen Theologie schlägt sich dieses Dependenzmodell vor allem in dem Bemühen nieder, eine Christologie auszuarbeiten, die im dezidierten Festhalten an der christologischen Relevanz Jesu sich nicht zu Lasten des Judentums ausformuliert, weil sie eben zu keinem Zeitpunkt von dem Jude-Sein Jesu absehen kann. Dabei nimmt sie auch das Anstößige der Botschaft Jesu, das ihn in einen tödlichen Konflikt mit Teilen seiner jüdischen Umwelt brachte, nicht aus.8

Thomas Ruster treibt diese Verwurzelung des Christentums im Judentum bis in die Gottesrede und Gotteserkenntnis vor. Er formuliert seine Absage an ein religionsförmiges Christentum unter Bezugnahme auf Friedrich-Wilhelm Marquardt im Lichte eines dem Ersten Petrusbrief sowie Blaise Pascal entnommenen Modells der „umwegigen Gotteserkenntnis”, nach der von Gott nur in der Tradition Israels geredet werden kann.9 Gott sei nicht direkt vom denkenden Ich her zu finden, nicht auf geraden, religiösen Wegen zu erreichen, sondern nur über den „Umweg” Israel. Auf diesem Umweg ist Jesus der „Eckpunkt”, um den der Weg führen muß. Herbert Vorgrimler hatte bereits 1971 herausgestellt, daß auch die Juden nach Jesus „primär kollektiv” in der Gnade Gottes sind und daß das Judentum „ein von Gott gewollter Heilsweg” ist.10 In der gegenwärtigen Systematischen Theologie ist es neben Vorgrimler,11 Josef Wohlmuth12 und Jürgen Moltmann13 vor allem Johann Baptist Metz, der im Rückgang auf Röm 9-11 die wurzelhafte Bedeutung des Judentums für das Christentum betont und sich in seiner Theologie nach Auschwitz vehement gegen alle theologischen Versuche wendet, Israel „zu einer überholten heilsgeschichtlichen Voraussetzung des Christentums” herabzudeuten und endgültig beerben zu wollen.14

Problematische theologische Ansätze

Die gegenwärtige Systematische Theologie offenbart allerdings in weiten Teilen eine nach Auschwitz geradezu erschreckende Unirritiertheit, Unaufgeklärtheit, Unsensibilität oder bestenfalls Ahnungslosigkeit in der Wahl ihrer Denkmuster und Kategorien. Zwar lehnt sie – zumeist unter Verweis auf Röm 9-11 – die verhängnisvolle These der göttlichen Verwerfung Israels ab, übersieht aber das, was in der warnenden Beobachtung von Metz zum Ausdruck kommt: daß judenfeindliches Gedankengut in der Theologie nicht als kruder, aggressiver Rassismus auftritt, sondern fein metaphysisch und psychologisch drapiert daherkommt.15

Im Ansatz problematisch erscheint die ansonsten imponierende theodranatische Geschichtstheologie von Hans Urs von Balthasar (1905-1988). Sie trägt jene Form christozentrischer Theologie, welche zwar einerseits die Einheit der Heilsgeschichte, die unlösbare Kontinuität von „Altem” und „Neuem” Bund und damit die Zugehörigkeit von Jesus Christus und so schließlich der Kirche zu dieser Erwählungsgeschichte herausstellt,16 andererseits jedoch in der Hinordnung auf dieses Ziel der Geschichte alles andere lediglich für deren „notwendige Vorgeschichte” hält, die erst in Christus von ihrem Schwebenden, Ambivalenten, Zwielichtigen zwischen „Gehalten- und Verworfensein" befreit wird. Bildet folglich Jesus Christus das eigentliche hermeneutische Unterscheidungskriterium zur Interpretation der Heilsgeschichte, so verneint das in Konsequenz den Eigenwert der Bundesgeschichte Israels und die soteriologische Sendung des nachbiblischen Judentums. Unter Rückbezug auf Paulus will H. U. v. Balthasar die endgültige Erwählung (Rest-)Israels keinesfalls in Zweifel ziehen. Doch seiner inneren Logik nach läuft sein Entwurf auf ein Verheißung/Erfüllungsmodell hinaus.17 In der „neuen Bundesschließung am Kreuz Jesu” wird der „Alte" Bund als defizientes Vorausbild des „Neuen Bundes” vollendet und aufgehoben. Norbert Hoffmann ist mit ähnlichen Problemen des Typologiemodells behaftet.18

Auch Karl Rahner kommt zu einer vorwiegend typologischen Zuordnung an Judentum und Christentum, wenngleich sich in seinen letzten Lebensjahren deutlich eine stärkere Sensibilisierung, ja gar ein Umdenken herauskristallisierte. Trotz einer gelegentlichen Tendenz zum Substitutionsmodell stellt Israel für seine (von einer heilsgeschichtlichen Christozentrik geprägte) Theologie das in der Kirche überholte und integrierte Vorausbild dar.19 Ohne den einzelnen Juden die Heilsmöglichkeit abzusprechen, bleibt für Rahner das nachbiblische Judentum ohne aktuelle Heilsbedeutung.20

Ekklesiologisch kommt ein solches Überbietungsdenken dort zum Vorschein, wo etwa Georg Kraus noch 1987 über den Wechsel des Bundes „vom alten auf das neue Volk Gottes” reflektiert, von Israel, das einen „eingeschränkten Heilsauftrag ausübte”, auf die zu allen Völkern gesandte Kirche.21

Eklatant deutlich wird die Unbekümmertheit theologischer Begrifflichkeit im Umgang der Befreiungstheologie mit der Israelproblematik. Die polemische Antithetik von Kirche und Synagoge bei Leonardo Boff will zwar keinesfalls die Juden abwerten. Aber, wenn er die vom Judentum abgelöste Kirche davor warnt, durch ihre klerikale Machtfixiertheit wieder „zu einer Synagoge zu werden, zu einer in sich geschlossenen Sekte, in der die Kleriker alles kontrollieren”, transportiert er zweifellos antijüdische Stereotypen.22 Starrheit und Dynamik, Institution und Charisma, Gesetz und Evangelium, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, göttlicher Zorn und göttliche Liebe, werden von Boff im Verhältnis zwischen „Altem” und „Neuem” Bund und dessen jeweiligem Gottesverständnis gesehen. Mit Jesus ist Gott „nicht mehr ein strenger und ferner Gott, sondern Vater der unendlichen Güte [...], der ohne irgendwelchen Verdienst” allen seine Menschenfreundlichkeit vorbehaltlos erweist.23

Vergleichbare Unterscheidungen im Gottdenken, die den jüdischen Gott vom christlichen Gott abheben, finden sich auch in jenen Konzeptionen, die wie C. G. Jung und Eugen Drewermann theo-psychologisieren24 und Gesetz und Evangelium strikt antithetisch auseinanderreißen,25 die aus der angeblich singulären Abba-Anrede Jesu das Gottesverständnis ableiten (Joachim Jeremias),26 oder aber, wie H. U. v. Balthasar, Gott erst im Kreuz als dem Höhepunkt der Theodramatik ganz versöhnt denken, insofern dort Jesus dem „furchtbaren, göttlich begründeten, das ganze Alte Testament durchlodernden Zorn” eschatologisch ein Ende gemacht hat.27

Den inneren Zusammenhang zwischen der bundesgeschichtlichen Abwertung Israels und dem Gottesbegriff demonstriert in eindrucksvoller Weise die Erlösungslehre von Raymund Schwager. Er bestreitet zwar weder die Erwählung Israels28 noch die Einheit der beiden Testamente. Doch unter Abwertung der heilsgeschichtlichen Rolle des Judentums nach Christus zielt seine Erlösungslehre auf das in Jesus anfanghaft verwirklichte „neue Irael” hin. Kontinuität und Differenz von „Altem” und „Neuem” Bund werden über die Gewaltkategorie vermittelt. In das christozentrisch ausgerichtete Verheißungs/Erfüllungsschema gepreßt, stellt sich der heilsgeschichtliche Gang fortschreitender Offenbarung als sukzessiver Auszug der Gewalt aus der Geschichte dar. Damit wird das antijüdische Klischee kolportiert, der alttestamentliche Rachegott sei mit Jesus dem Gott der Liebe gewichen. Jesus habe, so Schwager im Verweis auf die Abba-Anrede, ein „neues Gesamtbild von Gott gebracht, das sich vor allem hinsichtlich des Gerichts-, Opfer- und Zornmotivs „vom alttestamentlichen in deutlichen Punkten abhob” (133).

Die Kehrseite dieser Sicht unterstellt, daß Jesus einem Gewaltzusammenang zum Opfer fiel, der auf der „Zusammenrottung” seiner Feinde beruhte, in denen die „satanische Dimension” ins Spiel gekommen sei.

Spätestens hier wird der bedrohliche antijudaistische Jargon evident. Zwar soll die Gewalt über den Stellvertretungsgedanken im universalen Zusammenhang gedacht werden, wonach die Stämme Israels und die Heiden im allgemeinen „sich gegen Jesus verbündet” haben. Doch wie soll diese Differenzierung unterscheiden helfen zwischen theologischer Konstruktion und historischer Realität?29 Wie soll sie die suggerierten Vorstellungen30 einer gesamtjüdischen Verantwortung für Jesu Tod vermeiden, die so katastrophale Auswirkungen zeitigten?

Ambivalenzen im biblischen und nachbiblischen Monotheismus?

Von ähnlichen Problemen scheint auch Gerd Neuhaus belastet zu sein. Seine Schwierigkeiten enthüllen sich im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Hans Küngs Projekt Weltethos.31Gegenüber der von Küng erhobenen Forderung nach einer De-absolutisierung der Wahrheitsansprüche fordert Neuhaus das Christentum nachdrücklich auf, sich mit dem ganzen Gewicht seiner Lehre einzubringen, da „kein Weltfrieden ohne christlichen Absolutheitsanspruch” möglich sei,32 denn die Entwicklung des biblischen Monotheismus zeige die Gewaltverhaftetheit des jüdischen Monotheismus. Weil der Monotheismus stets mit einem Bekenntnis einhergehe, das die Selbstdefinition und Identität der Glaubenden sichert, sich aber zugleich von Nichtglaubenden absetzt, berge der Monotheismus strukturell die Anlage zur Abgrenzung, zur Gewalt. Er falle damit stets hinter jenen Universalismus der Liebe zurück, den er selbst verkörpert. „So verwandelt sich der monotheistische Glaube an die universale Vaterschaft unbemerkt wieder in eine Projektionsgestalt menschlicher Gewalt.”33

Daher rührt für Neuhaus die grundsätzliche „Ambivalenz des biblischen Monotheismus”, aus der er sich selbst nicht befreien kann.34 Nur dort, wo jemand diese universale Liebe und dieses universale Erbarmen Gottes selbst ist und nicht sich lediglich zu ihr bekennt und sich damit doch wieder selbst definiert, nur dort, wo diese universale Liebe in radikaler Selbstlosigkeit unüberbietbar gegenwärtig ist, wäre die Unendlichkeit göttlicher Liebe in endlicher Gestalt erfahrbar und das Gesetz der Selbstdefinition außer Kraft gesetzt. Hätte sich Jesus nur zu dem universalen Erbarmen Gottes „als einer von ihm unterschiedenen Wirklichkeit bekannt, hätte er von sich aus wieder im Namen dieses grenzenlosen Erbarmens nur neue Grenzen errichtet. Ein solches Bekenntnis wäre in diesem Sinne lediglich zu einem neuen Akt der Selbstdefiniton geraten. Nur wenn ihn in einer ganz und gar selbstlosen Weise diese Bewegung des Erbarmens erfüllt, ist die angesprochene Gefahr gebannt".35 Damit führt Neuhaus Inkarnation und Kreuzestod Jesu Christi als einzig verbleibenden Ausweg aus dieser Aporie des jüdischen Monotheismus ein. Dieser Weg bleibt jedoch dem jüdischen Glauben verschlossen.

Die systematisch-theologische Tragfähigkeit der Argumentation ist hier nicht zu diskutieren, wohl aber die mitschwingende Theologie des Judentums. Gegenüber marcionitischen Tendenzen auch in der gegenwärtigen Gotteslehre, die einen Gegensatz zwischen dem angeblich liebenden Gott Jesu und dem strafenden Gott Israels konstruieren, gebührt Neuhaus das Verdienst, aus der Struktur seines Denkens heraus die heilsgeschichtliche Einheit von AT und NT vor dem Hintergrund des gemeinsamen Glaubens von Juden und Christen an jenen Gott durchzubuchstabieren, „um dessen grenzüberwindende Liebe der jüdische Monotheismus durchaus auch schon vor ihm (sc. Jesus) wußte".36 Ein schlichtes Substitutionsmodell kann sich auf Neuhaus nicht berufen.

Neuhaus hat zwar die Fragwürdigkeiten im Gottesbild von Schwager vermieden, nicht aber dessen Abwertung der theologischen Würde Israels. Während der biblische Monotheismus aus sich heraus seine Ambivalenz und Gewalttendenz nicht überwinden kann, bieten allein Inkarnation und Kreuzestod Jesu Christi den hermeneutischen Schlüssel für das Verständnis der Heilsgeschichte. Freilich entgeht auch Neuhaus nicht das problematische Gefälle seiner theodramatisch angeschärften Christozentrik, die „wie ein triumphalistischer Superioritätsanspruch des Christentums gegenüber dem Judentum klingt".37 Er glaubt jedoch, dies hinreichend durch das Argument entkräften zu können, daß das christliche Bekenntnis zu Jesus bereits hinter die bekannte Wahrheit zurückfällt und deshalb das Christentum keinen Grund zur Überheblichkeit habe. Und doch gilt dieses Bekenntnis gerade eben jenem Jesus, an dem nach Neuhaus der biblische Monotheismus vor Jesus gescheitert war. Insofern erhält erst durch Jesus Christus, so die Schlußfolgerung von Neuhaus, der jüdische Monotheismus seinen letzten Sinn.

Wider eine situationslose Theologie. Ein Fazit

Rückblickend auf den fragmentarisch beleuchteten Diskurs der gegenwärtigen Systematischen Theologie läßt sich eine Uneindeutigkeit, ja Spannung in der Intensität dessen kaum verhehlen, wie sich die Erneuerungsbemühungen im jüdisch-christlichen Dialog nach Auschwitz jeweils niedergeschlagen haben. Der Theologie von Gerd Neuhaus kommt hier ein durchaus repräsentativer Rang zu. Während Ansätze wie die von Th. Ruster, H. Vorgrimler oder F.-W. Marquardt sich um eine Christologie bemühen, die nicht gegen die Juden vorgenommen wird, profiliert Neuhaus Jesus Christus im Kategoriengefüge eines Denkens, das Israel gegenüber der Kirche theologisch abwertet. So trifft seine eingangs zitierte Feststellung nicht die Systematische Theologie selbst, sondern bezeugt nur durch sich selbst die Überfälligkeit einer nötigen Selbstbesinnung der Theologie. Reift im Angesicht von Auschwitz und der langen Reihe christlicher Antijudaismen das Bewußtsein einer theologischen Mitverantwortung auch für das, was dort ins Werk gesetzt wurde,38 dann setzt diese Einsicht in die Kontextualität und den Verantwortungscharakter der Gottesrede jede Theologie gerade gegenüber den Juden unter Erklärungs- und Legitimationsdruck.

  1. Gerd Neuhaus, Kein Weltfrieden ohne christlichen Absolutheitsanspruch (QD 175), Freiburg i. Br. 1999, 131.
  2. Clemens Thoma, Christliche Theologie des Judentums, Aschaffenburg 1978, 44 ff.; Johanna Kohn spricht gar von einer „Krise des jüdisch-christlichen Dialogs heute”, in: Haschoah, München/Mainz 1986, 15.
  3. Vgl. Johann Baptist Metz, ImAngesichte der Juden, in: Cone 5(1984)382-389; hier: 385. Ferner Bernhard Grümme, Noch ist die Träne nicht weggewischt von jeglichem Angesicht, Altenberge 1996, 615-625.
  4. Vgl. u. a. Johann B. Metz, Ökumene nach Auschwitz – Zum Verhältnis von Christen und Juden in Deutschland; in: Eugen Kogon (Hg.), Gott nach Auschwitz, Freiburg 1979, 124. Ferner Franz Mußner, Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, Freiburg i. Br. 1991, 175 ff.; Gabriele Niekamp, Christologie nach Auschwitz, Freiburg i. Br. 1994, 243-273. Während Kohn (Anm. 2) zurecht vor den Gefahren einer Metaphorisierung von Auschwitz warnt, gilt es die nicht minder wichtige Mahnung vor einer voreiligen christologischen Deutung der Schoa zu beherzigen: Reinhold Boschki, Der Schrei, Mainz 1994, 220 ff.
  5. Vgl. Friedrich-Wilhelm Marquardt, Von Elend und Heimsuchung der Theologie, München 1988, 396. Vgl. auch: Internationale Theologische Kommission, Erinnern und Versöhnen. Einsiedeln-Freiburg 2000.
  6. Friedrich-W. Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Bd. 1, 161; Vgl. auch Erich Zenger, Am Fuß des Sinai, Düsseldorf 1993, 80 ff; Rolf Rendtorff, Ein gemeinsamer „Bund” für Juden und Christen? in: KuI 9 (1994) 3-8; H. Vorgrimler, Wegsuche. Kleine Schriften zur Theologie I (MthA 49/1), Altenberge 1997, 497-519.
  7. Vgl. zu den folgenden Denkmodellen Bertold Klappert, Israel und Kirche. Erwägungen zur Israellehre Karl Barths, München 1980, 14-37.
  8. Vgl. Niekamp, Christologie (Anm. 6); Marquardt, Bekenntnis (Anm. 6); C. Thoma, Das Messiasprojekt, Augsburg 1994, 113-173. 267-338.
  9. Thomas Ruster, Der verwechselbare Gott (QD 181), Freiburg i. Br. 2000, 37; 37-43.79 ff.
  10. Vorgrimler, Wegsuche (Anm. 6), 475.
  11. Vorgrimler hat auch seine Sakramententheologie im Horizont des theologischen Gesprächs mit den Juden lokalisiert; vgl. ders., Sakramententheologie, Düsseldorf 1987, 15.
  12. Vgl. Josef Wohlmuth, Jüdischer Messianismus und Christologie; in: EvTh 4(1999)286-303.
  13. Vgl. Jürgen Moltmann, Jesus zwischen Juden und Christen; in: EvTh 1 (1995) 49-63.
  14. J. B. Metz, Zum Begriff der neuen Politischen Theologie 1967-1997, Mainz 1997, 151.
  15. Vgl. J. B. Metz, Kirche nach Auschwitz; in: Marcel Marcus u. a. (Hg.), Israel und Kirche heute, Für Ernst L. Ehrlich, Freiburg/Br. 1991, 110-122; hier: 116. Zur Substitutionslehre vgl. Christine Bertl-Anker, Das theologische Verständnis des Judentums in der deutschsprachigen katholischen Dogmatik des 20. Jahrhunderts, Innsbruck 1991, 11-104.
  16. Vgl. Hans Urs von Balthasar, Die Wurzel Jesse; in: Hans Jürgen Schultz (Hg.), Juden Christen Deutsche, Stuttgart 1961, 169-177.
  17. Gegen die zu harmonische Interpretation von Adrian Schenker, Hans Urs von Balthasars Theologie des Judentums; in: FZPhTh 2 (1999) 214-222.
  18. Norbert Hoffmann, Kreuz und Trinität, Einsiedeln 1982, 85-90.
  19. Zu Rahners Soteriologie vgl. Grümme, Träne (Anm. 3), 15-262.
  20. Vgl. Bernhard Grümme, Ein schwieriges Verhältnis: Karl Rahner und die Juden; in: ZKTh 119 (1997) 265-283.
  21. Georg Kraus, Art.: Bund; in: LKD 46-49; hier: 48.
  22. Leonardo Boff, Kirche: Charisma und Macht, Düsseldorf 1985, 102.
  23. Leonardo Boff, Jesus Christus, der Befreier, Freiburg/Br. 1993, 217.154.
  24. VgI. Eugen Drewermann, Der Krieg und das Christentum, Regensburg 1982, 198 ff. Zu den Antijudaismen bei Franz Alt vgl. Micha Brumlik, Der Anti-Alt, Frankfurt/M. 1991.
  25. Vgl. G. Kraus, Art.: Gesetz und Evangelium; in: LKD 186-191.
  26. Vgl. Gisbert Greshake, Erlöst in einer unerlösten Welt, Mainz 1987, 139; Rupert Feneberg, Abba – Vater, in: KuI 3 (1988) 41-52.
  27. H. U. von Balthasar, Mysterium Paschale; in: MySal 3/2, 133-326; hier: 225.
  28. Vgl. Raymund Schwager, Jesus im Heilsdrama, IST 29, Innsbruck 1990, 30 ff., 162 ff.
  29. Fiedler bestreitet die These der Ablehnung Jesu durch ganz Israel: vgl. Peter Fiedler, „Beim Herrn ist die Huld, bei ihm die Erlösung in Fülle”; in: M. Marcus, Israel (Anm. 15), 193.
  30. Vgl. Josef Niewiedomski u. a. (Hg.), Dramatische Erlösungslehre, IST 38, Innsbruck 1992.
  31. Vgl. Neuhaus, Weltfrieden (Anm. 1), 21 ff.
  32. Vgl. Neuhaus, Weltfrieden (Anm. 1), 3.
  33. Vgl. Neuhaus, Weltfrieden (Anm. 1), 75.
  34. Vgl. Neuhaus, Weltfrieden (Anm. 1), 112.
  35. Vgl. Neuhaus, Weltfrieden (Anm. 1), 125. Damit ist für Neuhaus das Anstößige von Jesu Botschaft benannt, das Jesus erst in einen tödlichen Konflikt mit seiner Umgebung bringt, aber zugleich Jesu Profil gerade im Kontext seiner jüdischen Umgebung zugeschnitten. Jesus habe gerade dadurch die Feindschaft auf sich gezogen, daß er durch seine Botschaft vom liebenden Gott die verschiedenen Gruppierungen des Judentums vereint habe und damit gerade zu einer Bedrohung für diejenigen wurde, die sich wie etwa die Herodianer und Pharisäer über ihre Differenzen zueinander definiert hätten; vgl. 130-132. Diese These aber scheint mehr einem vorgängigen theoretischen Konstrukt zu verdanken zu sein, als es dem historischen Befund entspricht; vgl. hierzu Fiedler, Beim Herrn (Anm. 32); Joachim Gnilka, Jesus von Nazaret, Freiburg/Br. 1993, 291-319.
  36. Neuhaus, Weltfrieden (Anm. 1), 130.
  37. Neuhaus, Weltfrieden (Anm. 1), 135.
  38. Zu der Gefahr, vom „Vorurteil zur Vernichtung” fortzuschreiten, vgl. Bernd Weber, Antisemitismus – Zur Macht eines Vorurteils; in: Kirche und Schule 94 (1995) 9-12; Martin Rothgangel, Antisemitismus als religionspädagogische Herausforderung. Eine Studie unter besonderer Berücksichtigung von Röm 9-11, Freiburg/Br. 1995, 12-112; Erich Geldbach (Hg.), Vom Vorurteil zur Vernichtung? „Erinnern” für morgen, Münster 1996.

Editorische Anmerkungen

Quelle: Freiburger Rundbrief NF, 4/2003