Die Bedeutung Israels für die Zukunft des Judentums

Die Staatsgründung Israels ist mehr als nur die Schaffung einer nationalen Heimstätte und Zufluchtsstätte für die Juden.

Die Bedeutung Israels für die Zukunft des Judentums

Während der ganzen Geschichte des modernen Israel haben viele Menschen, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Staates, geglaubt, das Hauptziel der Staatsgründung sei gewesen, die Ursachen des jüdischen Leidens dadurch zu beseitigen, dass man eine nationale Heimstatt für Juden schuf. Obwohl Verfolgung und Leiden beim Streben nach jüdischer Unabhängigkeit eine große Rolle spielten, ist es, wenn man die Bedeutung und Wichtigkeit der Wiedergeburt des jüdischen Staates verstehen will, meiner Meinung nach nicht hinreichend und unangemessen, Israel lediglich als Zufluchtsort vor Verfolgung anzusehen.

Die zionistische Revolution war tief durchdrungen von utopischen sozialen, politischen und kulturellen Hoffnungen. Viele träumten von einem „neuen“ Juden, von einer Verwandlung der jüdischen Psyche. Die Rückkehr ins Land wurde nicht nur in Begriffen physischer Sicherheit, sondern auch als Heilungsprozess ausgemalt, der Juden von ihrem negativen Selbstbild, das sie über die Jahrhunderte der Unterdrückung und Machtlosigkeit internalisiert hatten, befreien würde. Für Theologen, wie Rabbiner Abraham Isaac Kook, war die zionistische Revolution dazu bestimmt, geistliche Energien freizusetzen, die unter den unnatürlichen Bedingungen der Galut (Exil) unterdrückt waren. Kook erwartete als Ergebnis des säkularen, oft auch atheistischen zionistischen Unternehmens ein neues jüdisches „Vorbild“.

Der Staat Israel lädt zu ideologischem Eifer ein, weil er Juden mit den geschichtlichen Erinnerungen und Hoffnungen ihres Volkes verbindet. Besonders Jerusalem war immer das Auffangbecken geschichtlicher jüdischer Hoffnungen und Träume. Man kann sich nicht auf Israel beziehen oder im Land leben, ohne von den Visionen Jesajas oder Amos’ angerührt zu werden, von der Leidenschaft Rabbi Akivas oder der uralten jüdischen Sehnsucht, nach Jerusalem zurückzukehren, der Stadt, in der sich Gerechtigkeit und menschliche Befriedigung verwirklichen würden, wie die Propheten proklamiert hatten.

Deswegen ist es auch nicht überraschend, dass die drängenden praktischen Fragen von Sicherheit und Ökonomie nicht die einzigen Sorgen von Israelis sind. Für einen Außenseiter scheint es seltsam zu sein, dass ein umkämpftes und belagertes Land wie Israel ständig in interne Streitigkeiten verwickelt ist, die nur wenig mit der Sicherheit und dem Überleben zu tun haben. Ganze Regierungskoalitionen sind beispielsweise gebildet worden – und wieder zerbrochen – über Fragen, die damit zusammenhängen, wie man die Halacha, das jüdische Gesetz, auf die Gesellschaft anwendet.

Es ist nicht zufällig, dass von den ersten Jahren der Staatlichkeit an die Bibel die nationale Literatur in Israel war. Obwohl viele Israelis die theologischen Grundlagen der Bibel ablehnen, hatten sie immer – und ich glaube, sie haben noch immer – eine tiefe Identifikation mit dem biblischen Menschenbild, den Werten, der Moral und den sozialen Bestrebungen der Propheten. Ich will nun nicht unterstellen, dass ein religiös begründetes biblisches Pathos das Land erfasst, sondern nur, dass das jüdische Leben in Israel von umfassenderen historischen Bedingungen und Perspektiven, wie sie in biblischer Perspektive präsent sind, geprägt wird. Im Gegensatz zur Diaspora können in Israel Synagoge und jüdisches Familienleben allein kein hinreichendes Gefühl von der Vitalität des Judentums geben, damit es zu einer lebbaren Option für moderne Juden würde.

Die Rückkehr in das Land hat nicht nur einige der Voraussetzungen wieder hergestellt, die die biblischen im Bund mit Gott begründeten Fundamente des Judentums bestimmten, sondern sie hat Juden auch eine erstaunliche Gelegenheit gegeben, einige der herausragenden Merkmale ihrer biblischen Grundlagen wiederzugewinnen. Die Übernahme der Verantwortung für die jüdische nationale Existenz kann als progressive Erweiterung der rabbinischen Auffassung von der Bundesbeziehung zwischen Gott und Israel verstanden werden. Um diesen Punkt näher zu untersuchen, will ich zunächst die drei hauptsächlichen Herangehensweisen an die Gründung des Staates Israel und dann mein eigenes Verständnis einer bundesgemäßen Perspektive des Zionismus entfalten.

Die Revolte des säkularen Zionismus

Der Zionismus begann vor über einem Jahrhundert als Revolte gegen die Vorstellung vom jüdischen Volk als einer Gemeinschaft des Lernens und des Gebets. Die traditionell abwartende Haltung gegenüber einer Befreiung aus dem Exil war von der biblischen Geschichte vom Exodus aus Ägypten inspiriert. Die Geschichte vom Exodus diente als Schlüsselparadigma für die jüdischen geschichtlichen Hoffnungen, indem sie betonte, dass trotz äußerster Hilflosigkeit der Gemeinschaft, das jüdische Volk auf die erlösende Kraft Gottes vertrauen könne. Der Zionismus aber lehrte, dass sich die Geschichte nur dann ändern würde, wenn Juden die Verantwortung für ihre Zukunft übernähmen. Das stand in scharfem Gegensatz zu dem biblischen Glauben, dass Juden nicht die Herren ihrer eigenen Geschichte wären: Das Exil wäre die Folge von Sünde und nur durch Umkehr zu Gott und durch Befolgen der Gebote würden durch Gottes Gnade die Verhältnisse des Exils beendet werden. Der Mut traditioneller religiöser Juden, unter jeglicher Bedingung der Geschichte auszuharren, wurde durch den Glauben gestärkt, dass Israel Gottes erwähltes Volk war und dass Gott Israel nicht auf ewig verlassen würde. Die frühen Zionisten nun verwarfen diese Sichtweise von jüdischen Geschichte und Hoffnung.

Dennoch verwarfen sie das jüdische Erbe keineswegs völlig. Oftmals behandelten sie die Bibel nicht nur als den größten literarischen Schatz der wiederbelebten hebräischen Sprache, sondern auch als Hauptquelle ethischer Normen, die Juden beim Wiederaufbau ihres antiken Heimatlandes leiten sollten. Die frühen Zionisten kamen aus jeder nur denkbaren Richtung des religiösen Spektrums. Viele waren eingefleischte Atheisten, andere wollten einen biblischen Glauben ohne die Fesseln der rabbinischen Tradition, andere waren Anhänger einer Landmystik oder einer Religion der Arbeit. Viele sahen zum Beispiel die Notwendigkeit, neue Formate für die traditionellen jüdischen Feste zu schaffen. In Israel gibt es noch immer Kibbuzim, die Pessach als „Frühlingsfest“ feiern, und dabei eine neue Sprache und neue liturgische Formen verwenden. Andererseits halten nichtreligiöse Familien das traditionelle Pessachmahl mit allen üblichen Bräuchen – auch ohne religiöse Bindung.

Wenn man einmal das Verhaftetsein in traditioneller Sentimentalität außer Acht lässt, das sich in der Wertschätzung jüdischer Sitten und Gebräuche bei vielen Zionisten findet, dann kann man entdecken, dass die Sorge um das Überleben des jüdischen Volkes und die Hingabe an den Staat Israel das traditionelle religiöse Judentum ersetzte. Die führenden zionistischen Köpfe verwarfen die herkömmliche Sicht, der Bund mit Gott am Sinai sei konstitutiv für das jüdische Selbstverständnis. Für viele Zionisten war die Identifikation mit der historischen Bestimmung der Nation nicht nur notwendig, um Jude zu sein, sie war ihnen auch hinreichend. Das Judentum der Diaspora hätte seinen wesentlichen Wert darin gehabt, die Nation vor dem Auseinanderfallen zu bewahren, aber der neue nationale Geist biete nun ein effektiveres Mittel, um die fortdauernde Existenz des jüdischen Volkes zu ermöglichen.

Religiöser Antizionismus

Während die Sicherheit des Staates Israel die große Mehrheit von Juden beschäftigt, schätzen nicht alle Juden die Bedeutung des jüdischen Staates für das jüdische Leben und die jüdische Identität in gleicher Weise. An dem einen Ende des Spektrums stehen jene, die jegliche religiöse Bedeutung der Wiedergeburt Israels verneinen. Für sie ist die Errichtung eines jüdischen Staates ein ernsthafter Verstoß gegen die Rolle Gottes und der Tora in der jüdischen Geschichte.

Die Reaktion der meisten traditionellen religiösen Kreise auf den frühen Zionismus war äußerst feindlich. Die Tatsache, dass verschiedene europäische Nationen ihre Unabhängigkeit erlangten, hatte für sie keinerlei Bedeutung. Sie waren überzeugt, dass ein neues jüdisches Reich nicht aus Entwicklungen der säkularen Welt entstehen könne, sondern allein Ergebnis von Gottes erlösendem Eingreifen in die Geschichte sein sollte. Sie warteten nicht auf eine Handvoll Pioniere, die die Sümpfe trocken legten, sondern auf eine jüdische Erneuerung von der Art, wie sie der Jerusalemer Talmud beschrieb: „Obwohl eure Väter erlöst wurden, kehrten sie zurück, um wieder unterjocht zu werden; aber wenn ihr erlöst werdet, dann werdet ihr nie wieder unterjocht werden.“ (Kiduschin 2,1)

Heute wird die gleiche skeptische Haltung zum Zionismus von der (ultra-orthodoxen) Haredi-Bevölkerung gepflegt, die ihre Vertretung im Parlament und ihre Beteiligung an Regierungskoalitionen dadurch rechtfertigt, wie sehr ihre Erziehungseinrichtungen von staatlicher Unterstützung profitieren. In Israel – und anderswo – kooperieren sie mit den vorfindlichen säkularen Kräften, aber das setzt keinesfalls voraus, dass sie der Wiedergeburt Israels eine religiöse Bedeutung zuschreiben würden. An ihren Bildungsinstituten wird weder der Unabhängigkeitstag gefeiert, noch sprechen sie Dankgebete für die Wiederherstellung jüdischer nationaler Autonomie; Gebete für die Unversehrtheit derjenigen, die in der israelischen Armee kämpfen, werden allerdings gelegentlich gesprochen.

Diese religiösen Antizionisten weigern sich nicht nur, dem Staat Israel irgendeine religiöse Bedeutung zuzuschreiben, sie sehen den Staat als solchen als Bedrohung für die Zukunft des Judentums. Für sie ist eine jüdische Selbstverwaltung, die auf säkularer Politik und sozialen Einrichtungen basiert, der Erzfeind traditioneller jüdischer Frömmigkeit. Nach ihnen gibt der Staat Israel dem jüdischen Volk eine andere Identität. Nationalismus, zionistische Geschichte und Folklore, die hebräische Sprache, israelische Kultur, israelische Geographie und Archäologie sind für sie Elemente eines alternativen Lebensentwurfes, der bedeute, Gott, Tora und klassische jüdische Lehre zu verdrängen. Darüber hinaus meinen sie, dass jüdische politische Autonomie einen psychologischen Wandel zu Selbstbehauptung und Eigenständigkeit erzeugt habe, durch den Juden ihrem traditionellen Gehorsam gegenüber dem jüdischen Glauben entfremdet werden. Das zionistische Ethos stehe in scharfem Gegensatz zur traditionellen Haltung des geduldigen Wartens auf den Messias.

Messianisch religiöser Zionismus

Dieser Haltung der religiösen Antizionisten diametral entgegengesetzt sind diejenigen, die den Staat Israel innerhalb des Kontextes einer messianischen, erlösenden Deutung der jüdischen Geschichte feiern. Für sie ist die Erfahrung eines Judentums in einem jüdischen Nationalstaat, der im historischen Gebiet Israels angesiedelt ist, höchst erregend. Die Wiedergeburt Israels bedeutet das Ende des Exils und der Anfang der Erfüllung prophetischer Visionen für die jüdische Geschichte.

Als der Rückkehrprozess in das Land Israel Geschwindigkeit aufnahm, verbanden sich einige religiöse Kräfte mit der säkularen zionistischen Revolution. Um ihre Beteiligung an dem Zug zur politischen Unabhängigkeit zu begründen, machten einige von ihnen geltend, der Zionismus sei ein Vorspiel auf das Kommen des Messias. Wie oben dargelegt war für traditionelle Juden die einzige denkbare politische Alternative zum Exil eine messianische Gesellschaft. So musste konsequenterweise jeder Versuch, die Exilssituation zu beenden, innerhalb des Rahmens messianischer Verheißungen gerechtfertigt werden. Den bekanntesten Versuch dieser Art lieferte das Denken von Rabbiner Abraham Isaak Kook. Er brachte ein Argument vor, das Hegels „List der Vernunft“ ähnlich war: Obwohl die säkularen Zionisten glaubten, ihre Anstrengungen würden zu einem sozialistischen jüdischen Staat führen, in dem das religiöse Judentum abgetan wäre, glaubte A. I. Kook, dass Gott den Verlauf der Ereignisse so umlenken werde, dass er die Juden zu einem „Königreich von Priestern und einem heiligen Volk“ (2. Mose 19,6) wende. Wer wollte beurteilen, was der Herr der Geschichte wählen würde, um seinen endgültigen Plan für diese Welt zu vollenden? Mit diesem Argument rechtfertigte Kook die Entscheidung observanter Juden, ihre Kräfte mit einer säkularen politischen Bewegung zu verbinden, die ihrerseits vorgab, Halacha und jüdische Bundestreue abzulösen.

Theologische Voraussetzungen dieser Art ermöglichten es religiösen Kräften, eine Partnerschaft mit sozialistischen Zionisten zu schmieden – sowohl während der Zeit des britischen Mandats als auch in den ersten Jahrzehnten des Staates. Die politischen Implikationen solcher Voraussetzungen wurden jedoch nach dem 6-Tage-Krieg offenkundig, der das Kräftepotential dieser messianischen Hoffnungen unter einer beträchtlichen Zahl religiöser Juden freisetzte.

Die Ausdehnung israelischer Kontrolle auf den größten Teil des verheißenen Landes wurde als Bestätigung dafür gesehen, dass die Errichtung eines messianischen Königreiches sich allmählich realisierte. Eilig wurden an vielen Plätzen rudimentäre Siedlungen gegründet, in der Annahme dass die Rückkehr der Exilierten über Kurzem Israel überschwemmen würde. Wie bei allen früheren messianischen Erwartungen war die Realität eine andere. Dennoch ist die vorherrschende religiös-ideologi¬sche Perspektive des religiösen Zionismus auch heute noch die messianische Theologie von A. I. Kook. Die in seiner Nachfolge gegebenen Unterweisungen nähren noch immer die Vitalität religiöser Jugendbewegungen. Wie diese religiöse Gemeinschaft auf eine Friedensregelung oder auf einen einseitigen Schritt Israels reagiert, der territoriale Kompromisse erfordert, ist ein akutes politisches Thema, dessen Ausgang viele nur zögernd und sorgenvoll vorherzusagen wagen. Jeder politische Kompromiss, der die biblische Landkarte Israels betrifft und damit implizit das messianische Erlösungsschicksal Israels, wird die Legitimität einer jeglichen israelischen Regierung untergraben.

Im Widerspruch zu Abraham I. Kook behaupte ich, dass ein religiöser Zionismus den Aufstieg Israels nicht als göttliche List, die zu einem messianischen Königreich führt, deuten muss. Es gibt eine alternative Perspektive, von der aus die säkulare zionistische Revolution religiös erfasst werden kann, nämlich die Erkenntnis, dass das moderne Israel die Reichweite halachischer Entscheidungen erweitert hat – jenseits des beschriebenen Rahmens von Haus und Synagoge. Juden in Israel haben die Möglichkeit, ökonomische, soziale und politische Themen in das Zentrum ihrer religiösen Aufmerksamkeit zu setzen. Der moralische Zustand der Armee; soziale und ökonomische Ungleichheit und Verarmung; die Haltung gegenüber Minderheiten, ausländischen Arbeitern, und Fremden; Toleranz und Freiheit des Gewissens – all das sind Felder, die den traditionellen jüdischen Sinn für die Bundesverantwortung herausfordern.

In dieser Perspektive bewahrt die Existenz des Staates Israel das religiöse Judentum davor, ausschließlich auf eine Kultur des Lernens und Betens beschränkt zu bleiben. Die Welt der symbolischen heiligen Zeit – der Sabbat und die Feste – ist nicht länger der exklusive Rahmen, der jüdische Identität definiert. Durch die Rückkehr in das Land haben wir die Bedingungen geschaffen, durch die das alltägliche Leben mit den biblischen Fundamenten der Bundesbeziehung des jüdischen Volkes vermittelt werden kann.

Auf den ersten Blick scheint die Behauptung, die zionistische Revolution habe die Ansprüche des Bundes auf menschliches Handeln der jüdischen Frömmigkeit zurückgegeben, völlig ohne Beziehung zur Lebenswirklichkeit der israelischen Gesellschaft zu sein. Ein religiöses Selbstverständnis findet man in Israel in zwei Lagern: entweder in der traditionellen Frömmigkeit des Ghettos, die das Judentum in der Vergangenheit charakterisierte, oder in dem messianisch-religiösen Eifer, wie er von den Anhängern der Geschichtstheologie Abraham I. Kooks vertreten wird.

Die halachischen Präferenzen des ersten Lagers zeigen eine bewusste Ablehnung der Moderne. Es gibt kein Klima, um die neuen religiösen Möglichkeiten der staatlichen Existenz wertzuschätzen, stattdessen eine ausgesprochene Missachtung dieser Möglichkeiten. Die große Anzahl ihrer halachischen Responsen behandeln die gleichen Fragen, wie sie die religiösen Führer während der langen Exilsgeschichte beschäftigt haben und konzentrieren sich zum Beispiel auf die Ehe- und Speisegebote. Selbst die Sabbatjahre, die die ökonomische und soziale Vision des Judentums berühren, werden auf die Frage reduziert, welche Arten von Früchten man essen darf. Ferner hat die Errichtung des Staates Israel die religiöse Praxis für die größere Gemeinschaft in keiner Weise beeinflusst. Tatsächlich wäre es nicht weit hergeholt zu sagen, dass Israel für einen säkularen Juden der beste Ort in der Welt sei, um sich mit seiner Lebensauffassung wohl zu fühlen. Im Gegensatz zur Diaspora gibt es in der israelischen jüdischen Gesellschaft eine viel schärfere Zurückweisung des traditionellen Judentums, als in vielen anderen jüdischen Gemeinschaften auf der Welt. Womöglich sind antireligiöse Gefühle als Antwort auf die politische Interessenvertretung durch gewisse Gruppen observanter Juden gewachsen.

Was das zweite Lager anbelangt, müssen jene, die behaupten, die Staatsgründung sei Teil eines festgelegten messianischen Dramas, über die Vorherrschaft des Säkularismus in Israel nicht beunruhigt sein.. Im Gegenteil, die Geschichtstheologie von Abraham I. Kook ermöglicht es ihnen, die säkulare Revolution als bloße Übergangsphase in Gottes Plan, des letztendlichen Aufbaus einer messianischen jüdischen Gesellschaft, anzusehen. Der Glaube an die Zwangsläufigkeit des messianischen Erlösungsprozesses erlaubt es vielen religiösen Zionisten, den weit verbreiteten Mangel an ernsthafter religiöser Observanz und Sensibilität im Land herunterzuspielen. Man kann mit dem säkularen Premierminister auf religiösen Festen tanzen – mit demselben Enthusiasmus wie ein Jeschiwaschüler mit seinen Toralehrern tanzt. Armeegeneräle, die uns zum Sieg führen, dienen dem gleichen messianischen Prozess. Was eine Handlung zu einer religiösen macht, ist nicht notwendigerweise die Motivation der Handelnden, sondern die Folgen dieser Handlung. Viele Atheisten oder religiöse indifferente Menschen in der Armee und im politischen Leben werden als Pfänder in den Händen des Herrn der Geschichte wahrgenommen, der die militärische und politische Macht eines säkularen zionistischen Staates ausersehen hat, um den Triumph des göttlichen messianischen Plans herbeizuführen.

Wie kann ich meiner eigenen Perspektive – trotz der überwältigenden Evidenz des Gegenteils – eine gewisse Plausibilität geben? Meine Antwort wird eine Analyse dessen sein, wie nach meinem Verständnis der säkulare Zionismus das jüdische Bundesbewusstsein bereichert und dadurch einen neuen Rahmen bereitstellt hat, in dem das Judentum in der modernen Welt erfahren und entwickelt werden kann.

Schöpfung, göttliche Selbstbeschränkung und der Bund

Die Schöpfungsgeschichte des Buches Genesis gibt den theologischen und anthropologischen Rahmen vor, der hilft, das Konzept des Sinaibundes zu verstehen. Nach den ersten Kapiteln der Genesis glaubte Gott zunächst, die Menschen würden aufgrund der herrlichen Schöpferkraft Gottes die Göttlichkeit spiegeln – Mann und Frau waren zum Bilde Gottes geschaffen. Genau dieser Akt aber enthielt den Samen für die Rebellion und Entfremdung von Gott. Weil die Menschen mit Wahlfreiheit ausgestattet sind und Gottes eigene Freiheit spiegeln, sind sie keine Automaten, die notwendigerweise auch die göttliche Hoffnung auf eine menschliche Geschichte spiegeln.

Gottes Wille trifft bei der Schöpfung der Natur auf keinen Widerstand, aber er trifft auf Widerstand bei der Schöpfung der Menschen. Das ist die fundamentale Bedeutung der Erzählungen vom Garten Eden, Kain und Abel und ihrer Fortsetzung bis zur Zerstörung durch die Flut. Die Flut zeigt den göttlichen Zorn, nachdem Gottes Absicht enttäuscht wurde:

Nun sah der Ewige, dass die Bosheit der Menschen groß war auf Erden, und alles Gedankengebild ihres Herzens allzeit nur böse war, da reute es den Ewigen, dass er die Menschen auf Erden geschaffen, und er bekümmerte sich in seinem Herzen. Da sprach der Ewige: Tilgen will ich den Menschen … Mensch und Vieh. (1. Mose 6,5-7)

Diese Verse müssen den ersten Kapiteln der Genesis entgegengestellt werden, als Gott sich an der Schöpfung, einschließlich der Menschen, erfreute: „Und Gott sah alles, was er gemacht hatte, und sieh, es war sehr gut.“ (1. Mose 1,31) Im Schöpfungsdrama sind Mann und Frau der Höhepunkt; wenn sie versagen, verliert für Gott die ganze Schöpfung ihre Bedeutung. Nach der Flut verheißt Gott Noah, dass er sein Handeln als bewahrender Schöpfer der Natur nicht mehr an das Verhalten der Menschen binden wird.

Da baute Noah dem Ewigen einen Altar und nahm von allem reinen Vieh und von allem reinen Vogelvolk und brachte Opfer dar auf dem Altar. Da roch der Ewige den Duft der Befriedigung, und der Ewige sprach zu seinem Herzen: ‚nicht will ich fortan den Boden verfluchen um des Menschen willen, denn des Menschenherzens Gebilde ist böse von Jugend auf; und nicht will ich fortan alles Lebendige schlagen, wie ich getan. Fortan, alle Tage der Erde, sollen Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht nimmer aufhören. (1. Mose 8,20-22)

Die Natur ist nun unabhängig vom menschlichen Verhalten mit einer immanenten Bedeutung als Schöpfung Gottes ausgestattet. Gott wird die Natur nicht mehr um der Menschheit willen zerstören. Der Schöpfer des Universums unterscheidet zukünftig zwischen der Natur und der Menschheitsgeschichte, indem er eine selbst auferlegte Grenz zieht, die Gott von den Menschen trennt. Gott ist auf dem Weg vom Schöpfergott zum Bundesstifter, als er akzeptiert, dass der göttliche Wille allein nicht sicherstellt, dass auch die menschliche Welt seinem Plan der Geschichte entspricht. Dieser Wandel wird am Gegensatz von Abraham und Noah offenbar.

Abrahams Gebet für die Leute von Sodom zeigt die Entscheidung des allmächtigen Schöpfergottes, nun der sich selbst beschränkende Herr der Geschichte zu werden. Abraham steht in Sodom als Gottes verantwortlicher und würdiger „Anderer“. Als Gott Noah mitteilte, dass er die Welt zerstören werde, nahm Noah Gottes Entschluss passiv hin. Aber als Gott Abraham mitteilte, dass er die beiden sündigen Städte zerstören werde, bat Abraham ausführlich zugunsten der Unschuldigen, die mit den Schuldigen getötet werden würden (1. Mose 18,23-33). Im Fall von Abraham fühlte Gott sich verpflichtet, seinen Bundespartner hinzuzuziehen, bevor er seinen Plan ausführte:

Der Ewige aber sprach: Soll ich vor Abraham verborgen halten, was ich tun will? Und Abraham wird ja zu einem großen und mächtigen Volk werden, dass mit ihm sich segnen sollen alle Völker der Erde, denn ich habe ihn ausersehn, auf dass er seinen Kindern und seinem Haus nach ihm befehle, dass sie den Weg des Ewigen wahren, Gerechtigkeit und Recht zu üben, damit der Ewige an Abraham eintreffen lasse, was er über ihn geredet. (1. Mose 18,17-19)

Die Entwicklung hin zur Bundesverantwortung erreicht ihren entscheidenden Ausdruck in dem Augenblick am Sinai, als ein ganzes Volk beauftragt wird, in seiner gesamten Lebensweise den Willen Gottes, wie er in den Geboten ausgedrückt ist, zu erfüllen. Im Gegensatz zur Natur, in der sich der Wille Gottes als absolute Macht zeigt, ist die Gemeinschaft vom Sinai dazu aufgerufen, die Verantwortung für die Geschichte zu teilen. Der Bund, der durch die Gebote vermittelt wird, setzt den in den Texten beschriebenen Wandel fort – von einem theozentrischen Drama, in dem Gott die totale Kontrolle behalten will (die Schöpfungs- und Exoduserzählungen) zu einem Bundesdrama, in dem eine menschliche Gemeinschaft mit der Verantwortung betraut wird, eine Gesellschaft zu schaffen, die die Gegenwart Gottes im menschlichen Leben zeigt: „auf dass ich geheiligt werde inmitten der Kinder Jisraels“ (3. Mose 22,32)

Der Bund und die menschliche Verantwortung

Aus einer talmudischen Perspektive, nach der Gott im halachischen Handeln vermittelt wird, wäre es legitim zu behaupten, dass jedes Ereignis, das uns herausfordert, die Anwendung des normativen halachischen Systems auszuweiten, auch den Sinn für Gottes Gegenwart im täglichen Leben stärkt. Ich möchte jedoch einen umfassenderen Anspruch stellen, nämlich dass die zionistische Zurückweisung der traditionellen Haltung auf eine messianische Erlösung zu warten, selbst als eine weitere Entfaltung und Intensivierung des Geistes der Bundesverantwortung gesehen werden kann, wie sie in den Väter- und Sinaierzählungen und vor allem in der rabbinischen Tradition zu finden ist. Ich behaupte nicht, dass es das ist, was die zionistischen Väter beabsichtigten. Aber tatsächlich haben der Wiederaufbau und die Erneuerung des nationalen Lebens der Gemeinschaft das rabbinische Verständnis von der Rolle, die dem Menschen im Bund zugeschrieben ist, erweitert und entwickelt.

In der rabbinischen Tradition ist Israel nicht nur dazu berufen die Bundesnormen zu erfüllen, sondern ebenso ihren Inhalt zu erforschen, zu definieren und auszudehnen. Gott ist nicht mehr wie in der biblischen Tradition der letztgültige Ausleger seines Gesetzes. Jetzt ist er darauf vorbereitet, den Einspruch der Gelehrten in der rabbinischen Akademie anzunehmen, die erklären, dass die Tora „nicht im Himmel“ ist. In der rabbinischen Tradition definiert die Offenbarung nicht allein, wie die Tora zu verstehen und in konkreten Situationen anzuwenden ist.

Die rabbinische Tradition hat die Wirkung des biblischen Paradigmas von Offenbarung und dem Bedürfnis nach prophetischer Verkündigung gelöst, indem sie Menschen ermächtigt hat, den Sinn der Tora durch rationale Überlegung und rechtliche Argumentation zu offenbaren und auszuweiten. In der klassischen Talmudgeschichte vom Disput über den rituellen Status des sog. „Schlangenofens“ gelingt es Rabbi Eliezer nicht, die anderen Weisen von seiner Position durch rechtmäßige halachische Argumente zu überzeugen, und so ruft er verschiedene Wunder auf in der Hoffung, die anderen Weisen zu überzeugen. Als auch dieser Versuch fehlschlägt, erbittet er direkte göttliche Hilfe: Hierauf sprach er: ‚Wenn die Halacha so ist, wie ich sage, so mögen sie dies aus dem Himmel beweisen!’ Woraufhin eine himmlische Stimme ausrief: ‚Was habt ihr gegen Rabbi Eliezer? Die Halacha ist stets, wie er sagt.’ Da stand Rabbi Jehoschua auf und sprach: ‚Sie ist nicht im Himmel!’ (5, Mose 30,12). – Was heißt: sie ist nicht im Himmel? Rabbi Jirmejahu erwidere: ‚Die Tora ist bereits vom Berge Sinai her verliehen worden! Wir achten nicht auf die himmlische Stimme, denn bereits hast du am Berg Sinai in die Tora geschrieben: nach der Mehrheit ist zu entscheiden! (2. Mose 23,2). ( BT Baba Metzia 59b)

Die Rabbinen verstanden „sie ist nicht im Himmel“ in dem Sinn, dass Menschen die Bedeutung von Gotteswort definieren und ausweiten konnten, ohne dass sie dazu Prophetie oder mirakulöses göttliches Eingreifen brauchten. Während das rabbinische Judentum daran festhielt, dass die Tora nicht im Himmel ist, blieben sie trotzdem dem biblischen Gedanken verpflichtet, dass die Geschichte im Himmel sei. Die jüdische nationale Geschichte wurde weiterhin in den Kategorien des Exodusmusters wahrgenommen, nach dem der allmächtige Herr der Geschichte auf wunderbare Weise ein machtloses Volk erlöst.

Die Bundesgemeinschaft übernimmt die Verantwortung für den Sinn des Wortes Gottes. Das Torastudium wird der vorherrschende Ausdruck der Frömmigkeit. Rabbi Akiva, einer der Vorläufer der intellektuell dynamischen und kühnen Interpretationstradition des Talmud, dessen Leben völlige Hingabe und Liebe zu Gott zeigt, stellte fest, dass das beispielgebende Buch, um die Beziehung von Gott und Israel zu verstehen, das Hohelied sei. „Sind auch alle Bücher der Bibel heilig; das Hohelied aber ist hochheilig.“ (BT Jadajim 3,5) In rabbinischer Zeit wurden Gott als Lehrer und Gott als Liebhaber die zentralen Metaphern für die Bundesbeziehung mit dem Gott Israels.

Trotz dieser auf den Menschen bezogenen Veränderung der Rollen von Prophetie und Wundern bei der Vermittlung von Gottes Liebe und Nähe, hat die rabbinische Tradition aus Respekt vor der politischen Lage des jüdischen Volkes das Bedürfnis eines göttlichen wundersamen Eingreifens nicht in gleicher Weise neutralisiert. Die Haltung zur Geschichte wird weiterhin durch ein sehnsuchtsvolles Beten um ein göttliches Eingreifen in den Geschichtsverlauf charakterisiert, das das Leiden am jüdischen Exil und an der nationalen Ungewissheit beenden sollte. Die politische Befreiung, Israels Rückkehr in sein altes Heimatland, wurde nach dem Muster des Exodus aus Ägypten in Worte gefasst: Möge er, der für unsere Vorfahren Wunder vollbrachte und sie aus der Sklaverei zur Freiheit erlöste, auch uns bald erlösen und unsere Verstreuten von den vier Ecken der Erde einsammeln… (Gebet am Neumondstag)

Juden warteten auf Erlösung. Die Befreiung würde von einer Macht jenseits menschlicher Initiative und unabhängig von ihr kommen. Im Gegensatz zur Kultur des Bet Midrasch (Lehrhaus), in der Juden keinerlei Bedürfnis eines offenbarenden Eingreifens verspürten, um zu wissen, wie man die Tora anwendet und wo Gottes Macht absolut und überlegen war, hatten Juden im weltlichen Reich geduldig auf Gottes Eingreifen zu warten. Obwohl die Tora nicht im Himmel war, war es das jüdische geschichtliche Schicksal.

Die zionistische Revolution erweiterte den rabbinischen Geist des Vertrauens in die menschliche Initiative in neue Dimensionen, indem sie Juden aus der traditionellen passiven Orientierung hinsichtlich seiner geschichtliche Hoffnung befreite, die in der hilflosen Abhängigkeit vom Herrn der Geschichte begründet lag. Nach dem, was ich einen Zugang zum Judentum, der aus dem Bundesgedanken kommt, nenne, ist die dramatische Bedeutung der Errichtung des Staates Israel nicht ein Zeichen für eine unmittelbar bevorstehende Entfaltung religiöser Eschatologie, sondern sie ist ein aufregender neuer Abschnitt in einer Geschichte, die am Sinai begann, wo Israel bereit war, Gottes sich selbst beschränkende Liebe als zentrales theologisches Prinzip für seinen religiösen Lebensweg anzunehmen. Heute können Juden in dieser Entfaltung des am Sinai begonnenen Bundeskonzepts weiter voranschreiten und auch in der Geschichte die Verantwortung für ihr Schicksal übernehmen. Die Gemeinschaft des Bundes ist aufgerufen, den am Sinai begonnenen Prozess zu vollenden und die Vorstellung zu bezeugen, dass es für Israel ohne göttliche Selbstbeschränkung keine reife verantwortliche Rolle in der Bundesbeziehung mit Gott geben kann.

Man kann die verschiedenen Stufen dieses Prozesses folgendermaßen zusammenfassen: Die Bibel befreite den Willen des Einzelnen zu verantwortlichem Handeln mit den Worten: „Ich habe euch vorgelegt Leben und Tod, Segen und Fluch. Wählt das Leben, wenn ihr und eure Nachkommen leben wollen, indem ihr den Herrn euren Gott liebt, seine Gebote befolgt, und an ihm festhaltet.“ (5. Mose 30,19.20). Der Talmud befreite den Verstand dazu, den Inhalt der Tora zu definieren, und der Zionismus befreite den Willen der Nation, politisch verantwortlich zu werden, „das Einsammeln der Verstreuten“ voranzubringen, und Israel als ein Volk des Bundes in der Geschichte wiederzuerrichten – ohne sich auf einen göttlichen Einbruch in die Geschichte zu verlassen.

Der Staat Israel ist deshalb der wichtigste Katalysator, um den Sinn der Rede von Gott als Herrn der Geschichte zu überdenken. Die Zukunft des Judentums hängt an unserer Fähigkeit sinnvolle Wege zu entdecken, um sich auf Gottes Liebe und Stärke in einer Welt zu verlassen, in der auch die Geschichte und nicht nur die Tora „nicht im Himmel“ ist.

Editorische Anmerkungen

David Hartman lehrt Jewish Philosophy an der Hebräischen Universität in Jerusalem und ist Direktor des von ihm gegründeten Schalom Hartman Instituts in Jerusalem.

Übersetzung aus dem Englischen: Wolfgang Raupach; Quelle: "Begegnungen. Zeitschrift für Kirche und Judentum Nr. 3, 2009".

Von diesem Beitrag liegt auch eine Übersetzung ins Französische vor: Israël et l’avenir du judaïsme