Dialog, nicht Proselytenmacherei

Zur Frage der Judenmission. Eine klare katholische Stimme zur Absage an die christliche Mission unter Juden.

Hans Hermann Henrix

Dialog, nicht Proselytenmacherei

Zur Frage der Judenmission

Die Formel "Dialog, nicht Proselytenmacherei" will eine Erkennungsmarke des christlich-jüdischen Verhältnisses aus katholischer Sicht sein. Ihre programmatische Bündigkeit hat den Charakter einer Tendenzanzeige in einem Problemfeld, das hier untergründig besteht, dort als aktuelle Kontroverse thematisiert wird und schließlich anderwärts für überholt gehalten wird. Bei einer Fragestellung mit solchen gegenläufigen Unterströmungen bedarf es der Präzisierung des Problems. Worum geht es bei der anstehenden Fragestellung? Worum geht es nicht?

Die Frage nach der rechten Qualität des Zugehens von Christen, Christinnen und Kirche auf das jüdische Volk und Judentum bedeutet nicht eine Infragestellung oder den Widerruf des Auftrags, Gottes Namen zu heiligen. Beide treffen sich in der Überzeugung, daß sie zu Zeugen Gottes berufen sind und über dieses Zeugnis Rechenschaft schuldig sind. Die Heiligung des göttlichen Namens bildet nach Franz Rosenzweig "den innersten Grund des Judentums" [1]. Aus der Wahl Gottes für Israel und aus seinem Bundesschluß mit ihm ergibt sich die Verpflichtung Israels, auf Gottes Wegen zu wandeln, so seinen Namen zu heiligen und ihn vor den Völkern bekannt zu machen und zu verherrlichen. Rabbiner Nathan Peter Levinson hat dieses jüdische Selbstverständnis folgendermaßen zusammengefaßt: "Rechenschaft, die Juden schulden, ist vor allem, als heiliges Volk, durch das, was man tut, und durch das, was man vermeidet, zur Herrlichkeit Gottes beizutragen. Denn Gott wird durch das Ansehen seines Volkes von den Nichtjuden beurteilt. Es ist also eine Rechenschaft durch das Leben, das man führt, und es ist ein Zeugnis für den Gott Israels. Auch das ist die Bedeutung von 'ihr seid meine Zeugen, daß ich Gott bin' Jes 43, 12).... Gottes Namen zu heiligen heißt, ihn vor den Völkern zu verherrlichen, und zwar durch einen Lebenswandel, der beispielhaft wirkt."[2] Christliche Existenz sieht sich ebenfalls auf das biblisch so vielfältig belegte Gebot, Gottes Namen zu heiligen (vgl. Ex 9, 16; Jes 29, 23; Num 20, 12; Ez 36, 22), verpflichtet. Jesu "Herrengebet" gebietet in der anrufenden Sprache des Gebets den Jüngern, "den Namen (des Vaters im Himmel) zu heiligen" (Mt 6,9; Lk 11, 2)[3].

Bei unserer Fragestellung kann es nicht darum gehen, diesen Auftrag der Heiligung des göttlichen Namens in Frage zu stellen oder zu problematisieren. Es ist ein Auftrag, der Juden, Jüdinnen und Christen, Christinnen gemeinsam ist. Das Daß dieses Auftrags und der darin liegenden Grundbestimmung jüdischer und christlicher Identität ist unstrittig Vielmehr geht es bei der Problemstellung um die Frage, was die Heiligung des Namens Gottes für die Christenheit und Kirche in ihrem Verhältnis zum jüdischen Volk und Judentum bedeutet. Bedeutet die christliche Heiligung des göttlichen Namens über das Lebenszeugnis durch Liebe und Gerechtigkeit hinaus die Bemühung, dem jüdischen Volk und seinen Angehörigen den Namen Jesu Christi zu verkünden und dies mit der Absicht, daß sich Juden und Jüdinnen zu Christus bekennen und zu Mitgliedern der Kirche werden?

Eine solche Bemühung wäre "Mission" im klassisch-traditionellen Sinn[4]. Sie könnte von unterschiedlichen theologischen Voraussetzungen her begründet sein. Für die einen entspräche eine in diesem Sinn missionarisch geprägte Zuwendung zum jüdischen Volk und Judentum dem neutestamentlichen Verkündigungsauftrag - sei es unter Hinweis auf den kontrovers diskutierten Taufbefehl von Mat thäus 28, l 8 -20, sei es unter Bezug auf die paulinische Stelle: "Wir . . . verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit" ( l Kor l, 23). Für andere ergibt sich die Notwendigkeit missionarischer Bemühung um Juden und Judentum aus der Überzeugung, daß auch für die Angehörigen des jüdischen Volkes die Aussage Jesu nach Johannes 14, 6 gilt: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich." Abseits von ihm habe das jüdische Volk den "Richtungssinn seiner Offenbarungsgeschichte" verfehlt, bleibe hinter seiner Bestimmung zurück und laufe ins Leere[5]. Ohne den Weg über Jesus Christus -- so die Überzeugung -- ist der Weg zum Vater und das heißt zum Heil verfehlt, und es gebietet die Liebe, des anderen -- und hier insbesonders: der Angehörigen des jüdischen Volkes -- Heil, sein Kommen zum himmlischen Vater zu wünschen und dafür zu wirken. Gottes Namen zu heiligen bedeutet dann, so dem Willen Gottes, der ja nach neutestamentlichem Zeugnis will, "daß alle Menschen gerettet werden" (l Tim 2, 4), zu entsprechen. Ohne Zweifel liegt in solcher Argumentation ein Hauptmotiv für ein missionarisch geprägtes Interesse am jüdischen Volk und Judentum.

Die Klärung der Angemessenheit eines solchen Interesses verlangt Aufschluß über die Angemessenheit der theologischen Voraussetzungen. Und zu diesen Voraussetzungen gehört wirkungsgeschichtlich wie auch bei nicht wenigen christlichen Gläubigen heute, die es mit der Zeugnispflicht ernst meinen, die Vorstellung, das jüdische Volk verfehle das Heil und das Judentum sei ein religiös heilloser Weg. Stimmt diese Voraussetzung? Entspricht sie heutiger katholischer Lehre?

Heillosigkeit des Judentums?

In einer um das jüdische Heil besorgten, missionarisch geprägten Einstellung von Christinnen und Christen ist eine Linie christlicher Tradition gegenwärtig, die bereits in der Alten Kirche ausgebilder wurde und einen nachdrücklichen Verfechter fand in Fulgentius von Ruspe (468-533), Schüler des Augustinus und Bischof der kleinen nordafrikanischen Seestadt Ruspe. Fulgentius schreibt in drastischer Sprache: "Aufs gewisseste halte fest und zweifle in keiner Hinsicht: nicht nur alle Heiden, sondern auch alle Juden, alle Häretiker und Schismatiker, die außerhalb der gegenwärtigen katholischen Kirche sterben, werden ins ewige Feuer gehen, 'welches dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist'."[6]

Es gibt eine lange kirchliche und theologische Tradition, die in Fulgentius und in unübersehbar vielen anderen theologischen und kirchlichen Lehrern Juden als Juden, Jüdinnen als Jüdinnen die Heilsmöglichkeit abgesprochen und dem jüdischen Glauben jede Heilsbedeutung bestritten hat. Diese Tradition war Teil jener "Lehre der Verachtung", die Jules Isaac so nachhaltig als Hauptstrom kirchlicher Einstellung gegenüber demJudentum hervorgekehrt hat[7]. Natürlich gab es in dieser Einstellung Ambivalenzen und Nebenströmungen, die sehr wohl um den einzigartigen Charakter des Bandes zwischen Kirche und Israel wußten. Wenn sich diese Stimmen in Lehre und Sicht vom Heil meldeten, dann sagten sie ein positives Wort von einer Heilsbedeutung des Judentums -- dies aber fast nur im Rückgriff auf das biblische Israel oder im Vorgriff endzeitlicher Erlösungperspektive. Die Frage, ob denn in der Frage von Heil und Heilsbedeutung ein positives Wort zum nachbiblischen, zwischenzeitlichen und zeitgenössischen Judentum möglich ist, ist für die katholische Tradition erst durch das Zweite Vatikanische Konzil und seine Wirkungsgeschichte denkbar geworden.

Bedingung der Möglichkeit eines positiven Wortes der Soteriologie, der Heilslehre, ist es, das nachbiblische und zeitgenössische Judentum in seinem Selbstand und Eigenwert theologisch wahrzunehmen. In diesem Sinn zum erstenmal mit lehramtlicher Deutlichkeit eine klare Sprache gefunden zu haben, ist das Verdienst eines Dokuments aus der französischen Bischofskonferenz über die "Haltung der Christen gegenüber dem Judentum" von 1973; dort heißt es: "Selbst wenn der Bund für die Christen in Jesus Christus erneuert wurde, muß das Judentum den noch von den Christen nicht nur als eine soziale und historische, sondern vor allem als eine religiöse Realität betrachtet werden, nicht als Reliquie einer ehrwürdigen und abgetanen Vergangenheit, sondern als eine durch die Zeiten hindurch fortdauernde lebendige Realität." Diese fortdauernde lebendige jüdische Realität ist nicht heillos, sondern erfährt eine positive Würdigung, die durchaus soteriologischen, das heißt Heil zusprechenden Klang hat: "Im Gegensatz zu dem, was eine alte, aber sehr anfechtbare Exegese vorgegeben hat, kann man aus dem Neuen Testament nicht ableiten, daß das jüdische Volk seiner Erwählung verlustig gegangen sei. Die gesamte Schrift lädt uns im Gegenteil ein, im Bestreben des jüdischen Volkes, dem Gesetz und dem Bund treu zu bleiben, ein Zeichen der Treue Gottes zu seinem Volk zu erblicken."

Das kirchliche Dokument widerspricht einer langen kirchlichen Tradition, derzufolge das jüdische Volk seiner Erwählung verlustig gegangen sei und darauflhin in Gottes Heilsplan durch die Kirche ersetzt wurde. Das Dokument löst das herkömmliche Ersetzungsmodell der Verhältnisbestimmung von Kirche und Israel von innen her auf, indem es eine quasi sakramentale Beziehung zwischen dem Bemühen des durch die Zeiten fortdauernden jüdischen Volkes und der Treue Gottes zu seinem Volk herstellt. Das Zeichen steht für die Anwesenheit des Bezeichneten. Es ist Instrument für die Gegenwart göttlicher Treue, die dem Bemühen des jüdischen Volkes nicht nur äußerlich bleibt, sondern sich in ihm auswirkt. Das heißt: Wenn die Gemeinde Israels sich zum synagogalen Gottesdienst versammelt, den Gott Israels preist, seine Einheit und Einzigkeit bekennt und die Schriften liest und hört, dann wirkt Gott in der Mitte Israels. Die Macht- und Heilstaten Gottes bleiben nicht fruchtlos. Gottes Gaben und Ruf setzen sich durch.

Diese Hoffnung und Überzeugung steht hinter dem Dokument. Es will dem Zeugnis der Schrift folgen. Es konkretisiert seine Schriftauslegung, wenn es sagt: "Nach der biblischen Offenbarung hat Gott selbst dieses Volk zur Existenz berufen, hat es erzieherisch geleitet und hat ihm seinen Plan kundgemacht; er hat mit ihm einen ewigen Bund geschlossen (Gen 17, 7) und hat es zum Gegenstand einer Berufung gemacht, die der Apostel Paulus als unwiderruflich bezeichnet (Röm 11,29)."[8] Mit der Rückbindung ihrer Rede von der - wirksamen - Treue Gottes an Römer 11, 28f. stehen die französischen Bischöfe in der Wirkungsgeschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils und seiner Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen "Nostra Aetate".

Dort ist die Linie, welche in der Anerkennung eines positiven Heilswerts des durch die Zeiten fortdauernden jüdischen Volkes, des Judentums post Christum natum durch das französische Dokument kräftig ausgezogen wurde, verhalten angedeutet: "Die Kirche hat auch stets die Worte des Apostels Paulus vor Augen, der von seinen Stammverwandten sagt, daß 'ihnen die Annahme an Sohnes Statt und die Herrlichkeit, der Bund und das Gesetz, der Gottesdienst und die Verheißungen gehören wie auch die Väter und daß aus ihnen Christus dem Fleische nach stammt' (Röm 9, 4-5)." Es liegt dem Konzil sehr an der präsentischen Formulierung des Paulus (sie gehören den Kindern Israels; und nicht: sie gehörten ihnen); sie ist nämlich das einzige wörtliche Zitat aus dem Neuen Testament im Konzilstext, der ansonsten voller neutestamentlicher Anspielungen ist. Die Betonung gerade dieser paulinischen Formulierung wird durch die Erinnerung an Römer 11, 28-29 einige Zeilen später unterstrichen: Die Kinder Israels bleiben "immer noch von Gott geliebt um der Väter willen; sind doch seine Gnadengaben und seine Berufung unwiderruflich".

Die bevorzugte Heranziehung von Römer 9,4 f. und 11, 28 f. durch die Konzilserklärung hat in den nachfolgenden kirchlichen Dokumenten, unter denen die Erklärung der französischen Bischofskonferenz aus dem Jahr 1973 einen eigenen Platz einnimmt, ihre Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte. Dort werden sie klassische Bezugsstellen einer Sicht, die den positiven Heilswert des nachbiblischen, dem Christentum zeitgenössischen Judentums zu denken versucht[9]. Von dieser nachfolgenden Rezeptionsgeschichte her erscheint als konziliar angebahnte Erkenntnis: Wem die Gnadengaben gehören und wer von Gott geliebt ist nach dem Zeugnis der christlichen Bibel und des Konzils, dem kann christliche Theologie die Israelitica dignitas, von der das Gebet nach der dritten Lesung der Osternachtliturgie spricht, das spezifische Licht und den eigenen Wert vor Gott nicht streitig machen wollen.

Im Kontext katholischen Verständnisses fällt an den Aussagen des Paulus und des Konzils auf, daß die in ihnen implizierten Heilsaussagen nicht einzelnen hervorragenden Angehörigen des Volkes Israel gelten, sondern ihnen als "Volk", als das der Konzilstext sie dreimal bezeichnet (populi electi, per populum, ex populo iudaico). Dies hat denn auch Herbert Vorgrimler eigens betont. Er legt den Eigenwert des nachbiblischen und dem Christentum zeitgenössischen Judentums dahingehend aus, "daß Judentum und Juden in der Gnade Gottes sind und dies eben nicht nur individuell, sondern auch und primär kollektiv. Das aber heißt, daß das Judentum ein von Gott gewollter Heilsweg ist, oder . . . ein gottgegebener Weg der Gerechtigkeit, d. h. des gerechten Stehens vor Gott."[10] Eine solche These klingt jenen kühn, die die Aussagen etwa des Fulgentius von Ruspe im Ohr haben. Und doch zeigt sie einen in den letzten Jahrzehnten gewachsenen Konsens in der katholischen Theologie an, der von der bleibenden Heilsbedeutung Israels ausgeht und die Glaubenszuversicht äußert, daß die Gaben Gottes sich in seinem Volk Israel und zu dessen Heil durchsetzen[11].

Ist dieser Konsens die persönliche Meinung von Theologen, oder wird er etwa auch von Papst Johannes Paul II. mitgetragen? Man kann die Frage mit Fug und Recht bejahen. In seinen Aussagen spricht er zwar weniger in der Begrifflichkeit der Soteriologie, aber die Aussagen über die Ungekündetheit des Bundes Gottes mit Israel und über die Fortdauer der göttlichen Erwählung Israels haben bei ihm einen solchen zentralen Stellenwert, daß sich aus ihnen die Folgerung auf eine bleibende Heilsbedeutung des Judentums geradezu zwangsläufig ergibt.

Während seiner ersten pastoralen Reise durch Deutschland traf Johannes Paul II. am 17. November 1980 im Dommuseum zu Mainz mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland und der deutschen Rabbinerkonferenz zusammen. In seiner Ansprache betonte er: Beim christlich-jüdischen Dialog, der in Deutschland "vor dem dunklen Hintergrund der . . . versuchten Ausrottung des Judentums in diesem Lande" einen ganz besonderen Stellenwert habe, "geht es nicht nur um die Berichtigung einer falschen religiösen Sicht des Judenvolkes . . . sondern vor allem um den Dialog zwischen den zwei Religionen" . Johannes Paul II. skizzierte drei Dimensionen dieses Dialogs zwischen dem jüdischen Volk und der Kirche. Die wesentliche Dimension nennt er an zweiter Stelle: "Eine zweite Dimension unseres Dialogs -- die eigentliche und zentrale -- ist die Begegnung zwischen den heutigen christlichen Kirchen und dem heutigen Volk des mit Mose geschlossenen Bundes." Der Papst äußert sein Interesse am heutigen jüdischen Volk ganz unzweideutig. Ihm liegt am Dialog auf der Ebene der je eigenen religiösen und heutigen Identität von Judentum und Kirche. Er geht deutlich über eine Rückschau auf das biblische Israel hinaus und will keinen Dialog der Ungleichzeitigkeit -- etwa zwischen der Kirche von heute und dem Israel der Bibel oder der Zeit Jesu. Ein Dialog der Zeitgenossenschaft ist sein Leitbild. Das heutige jüdische Volk ist nach seinem Wort das Volk des Bundes. Und diesen Bund qualifiziert er in der Nennung einer ersten Dimension des Dialogs folgendermaßen: "Die erste Dimension dieses Dialogs, nämlich die Begegnung zwischen dem Gottesvolk des von Gott nie gekündigten (vgl. Röm 11, 29) Alten Bundes und dem des Neuen Bundes, ist zugleich ein Dialog innerhalb unserer Kirche, gleichsam zwischen dem ersten und zweiten Teil ihrer Bibel."

In der Bekräftigung der Ungekündetheit des Alten Bundes wird der theologische Grund des Interesses der Kirche am jüdischen Volk -- am "heutigen Volk des mit Mose geschlossenen Bundes" -- sichtbar. Die "Bande zwischen der Kirche und dem jüdischen Volk" gründen sich eben -- wie der Papst in einer weiteren Ansprache sagte -- "auf den Plan des Bundesgottes" (Ansprache an Delegierte nationaler Bischofskonferenzen für die Beziehungen mit dem Judentum am 6. März 1982). Das Interesse ist also von theologischer Qualität und läßt die bloße Höflichkeitsformel weit hinter sich. Zur theologischen Ortung und Beschreibung der Nähe der Kirche zum jüdischen Volk beschränkt sich Johannes Paul II. nicht nur auf die Rede vom nie gekündigten Alten Bund, sondern wendet den Grundgedanken der Fortdauer auf andere Aspekte des Verhältnisses zwischen dem Gott Israels und dem Volk Israels an. So äußert er in derselben Ansprache ganz unbefangen die Überzeugung, daß Gott "niemals aufgehört hat, sein Volk zu lieben (Röm 11, 1)". In Entsprechung dazu rief Johannes Paul II. bei seinem historischen Besuch der Großen Synagoge Roms vom 13. April 1986 der römischen Gemeinde zu: Das Konzil hatte "mit einem Zitat aus dem Römerbrief des hl. Paulus (11, 28) festgestellt, daß die Juden 'weiterhin von Gott geliebt werden', der sie mit einer 'unwiderruflichen Berufung' erwählt hat"[12].

Das Wort vom "Gottesvolk des von Gott nie gekündigten Alten Bundes" ist weit mehr als eine bloße Bekundung des guten Willens. Es ist theologisch wohl bedacht und steht sehr zentral in einem Geflecht von Aussagen päpstlicher Israellehre: Der mit Mose geschlossene Bund ist nie gekündigt worden; Gott hat niemals aufgehört, sein Volk zu lieben; das jüdische Volk steht nach wie vor in einer unwiderruflichen Berufung und ist immer noch Erbe jener Erwählung, der Gott treu ist. Dies sind zentrale Aussagen und Kategorien päpstlicher Israellehre. Sie ist aus dem Schatten der jahrhundertelangen "Lehre der Verachtung" gegenüber dem jüdischen Volk herausgetreten. Und an die Stelle der zweifelsfreien Gewißheit eines Fulgentius, derzufolge alle Juden als Juden "ins ewige Feuer gehen", ist eine kräftige Heilshoffnung für das Judentum und das jüdische Volk getreten. Statt Gewißheit einer Heillosigkeit also eine Heilszuversicht. Es ist eine Heilszuversicht, die sich auch an sehr zentraler Stelle der katholischen Liturgie äußern kann. In den großen Karfreitagsfürbitten läßt die erneuerte Liturgie die Gemeinde Gott "für die Juden" bitten: "Er bewahre sie in der Treue zu seinem Bund und in der Liebe zu seinem Namen." Die kirchliche Bitte um ein jüdisches Bewahrtwerden in der Treue zum Bund Gottes und in der Liebe zu seinem Namen setzt ein Gegebensein von Bundestreue und Gottesliebe bereits voraus. Und diese Bundestreue und Gottesliebe sind dem Verständnis der Fürbitte zufolge heilvoll; ansonsten wäre die Bitte kein Herabrufen des göttlichen Segens, was sie ja als Fürbitte sein will[13].

Absage an Judenmission

Mit der Heilszuversicht für Israel ist aber das Hauptmotiv jener christlichen Einstellung hinfällig geworden, die um des jüdischen Heils wegen und aus einem Grundimpuls des Wohlwollens und der Zuneigung heraus meint, Israel gegenüber ein missionarisch bestimmtes Zeugnis geben zu müssen. Erst recht sind in der soteriologisch-theologischen Perspektive all jene Formen der Einstellung gegenüber und des Zugehens auf Juden, Jüdinnen und Judentum obsolet geworden, die eher aus einem Mangel an Wohlwollen und Zuneigung gespeist waren und sich aus der Ablehnung oder aus Verwerfungsphantasien und anmaßendem Sanktionstrieb nährten.

Letztere gehörten zu den Triebfedern von Ereignissen, die letztlich zu der Vertreibung der Judenheit aus Spanien im Jahr 1492 führten. Mit ihrem Edikt vom 31. März 1492 nötigte das katholische Herrscherpaar Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien die Judenheit ihrer Königreiche, Spanien zu verlassen. Damit hatte eine lange Entwicklung ihren Endpunkt gefunden, welche die Spielräume des christlich-jüdischen Zusammenlebens in der kastilischen und aragonischen Gesellschaft immer enger machte. Im 14. und 15. Jahrhundert kam es zur zunehmenden Trennung der Wohnviertel von christlichen und jüdischen Familien, um die jüdische Einflußnahme auf alte oder neue Christen und Christinnen zu unterbinden. Partielle Vertreibungen folgten. Die Judengesetzgebung wurde verschärft, die Ausübung öffentlicher Funktionen durch jüdische Amtsträger eingeschränkt. Eine unheilvolle Vermengung von religiösem Fanatismus und sozialem Unfrieden hatte 1391 zu Pogromen geführt; es wurden etwa in Sevilla und Cordoba viele Synagogen zerstört, tausende Juden und Jüdinnen getötet und dort und anderwärts ungezählte zwangsgetauft. Weitere Juden ließen sich mit ihren Familien taufen, um ihr Leben zu retten oder ihre soziale und wirtschaftliche Position zu halten. Diese Massenkonversionen schwächten die jüdische Gemeinschaft nicht weniger als die Auslöschung ganzer Gemeinden durch Mord oder Flucht. Auch gab es bei und nach der aufgenötigten Religionsdisputation von Tortosa von 1413 und 1414 eine große, nur selten aus freiem Entschluß kommende Konversion von Juden und ihren Familien. Nach zwischenzeitlichen Erholungsphasen kehrten restriktive rechtliche, soziale und religiöse Maßnahmen wieder, die besonders die Trennung zwischen den aus dem Judentum gekommenen Neugläubigen, den Conversos, und den Christen zum Ziel hatten. Es lud sich eine soziale und religiöse Konfliktlage auf, die schließlich das Vertreibungsedikt Ferdinands und Isabellas 1492 auf so tragische Weise zu lösen versuchte[14].

Besonders an der geschichtlichen Erfahrung der spanischen Vertreibung von 1492 und ihrer Vorgeschichte, wie aber auch an ihrer Nachgeschichte, in der die spanische Inquisition den als "marranos" beschimpften Neuchristen nachstellte und die spanische Gesellschaft und Kirche vom Fieberwahn um die "Reinheit des Blutes" geradezu heimgesucht wurde, hängt es, wenn "Judenmission" für die jüdische Wahrnehmung wie die Inschrift eines Grabes erscheint, in das man alle Fehlformen und Deformationen christlicher Hinwendung zu Juden, Jüdinnen und Judentum hineingelegt hat: Streitschriften, Schmähreden, Disputationen, Zwangspredigten, Zwangstaufen und das Ausforschen der Zwangsgetauften oder aus freiem Entschluß Getauften durch die Inquisition. Dieser geschichtlich bedingten jüdischen Wahrnehmung ist christlicherseits Rechnung zu tragen. Die skizzierte historische Erfahrung wie auch die vorgetragenen theologischen Gründe nötigen zur klaren Absage an die Judenmission. So ist es verständlich, wenn die Arbeitsgruppe für Fragen des Judentums der Deutschen Bischofskonferenz in einer Stellungnahme zum 500. Jahrestag der Vertreibung der Judenheit aus Spanien formuliert: "Wir meinen, daß das Jahr 1992, in dem das Unrecht der Vertreibung der Juden aus Spanien 500 Jahre alt geworden ist, eine seltene Gelegenheit anbietet, um Ernst mit der Erkenntnis zu machen, daß in der Linie dieses wegweisenden päpstlichen Wortes (nämlich des Wortes vom ,Gottesvolk des von Gott nie gekündigten Alten Bundes') eine 'Judenmission' theologisch nicht mehr vertretbar ist."[15]

In der Tat: Die Zeit, in der wie im Spanien des ausgehenden Mittelalters eine christliche Mehrheit mit Methoden des Zwangs auf eine Taufe von Juden und Jüdinnen hinwirkte, ist endgültig vorbei. Die Kirche hat mit ihren judenmissionarischen Anstrengungen wenig Erfolg gehabt. Eher hat sie damit Unheil über das jüdische Volk gebracht. Wie die spanische Geschichte deutlich macht, hat die Kirche dadurch nicht nur in ihrer Glaubwürdigkeit nach außen schweren Schaden genommen, sondern auch nach innen an Integrität eingebüßt und ein Stück Seele verloren; ja, sie ist in ihrer Identität als die "heilige" Kirche verdunkelt worden. Besonders das Datum von 1492 ruft Christinnen und Christen mit schmerzlicher Schärfe in Erinnerung, daß der Auftrag zur Heiligung des göttlichen Namens in der Nachfolge Jesu Christi im Gegenüber von Kirche und Israel, von Christenheit und jüdischem Volk oft genug schrecklich pervertiert wurde. So sind aus historischen und theologischen Gründen der Begriff und die Haltung der "Mission" von der Beschreibung und Bestimmung des christlich-jüdischen Verhältnisses fernzuhalten.

Dialog, nicht Proselytenmacherei

Die christliche Heiligung des Namens Gottes kann im Verhältnis zum jüdischen Volk und Judentum also nicht die missionarische Bemühung bedeuten, dem jüdischen Volk den Namen Jesu Christi zu verkünden und dies mit der Absicht, daß jüdische Männer und Frauen die Taufe annehmen und Mitglieder der Kirche werden. Es ist zu wenig bekannt, daß diese Klärung in der katholischen Kirche eine fast lehramtliche Dignität hat[16]. Den zahlreichen offiziellen Dokumenten von Diözesen und Bischofskonferenzen kann man als vielfach wiederkehrende Aussage den Satz entnehmen, "daß Proselytenmacherei im Dialog sorgsam vermieden werden sollte" oder daß "die Absicht der Konversion ausgeschlossen" ist[17].

Der Begriff der Proselytenmacherei oder des Proselytismus ist aus dem griechischen "proselytos", der "Herzugekommene", abgeleitet. Der griechische Begriff übersetzt das hebräische "ger", was ursprunglich den innerhalb des biblischen Volkes Israel lebenden Fremden, in späterer Zeit aber den zum Judentum konvertierten Nichtjuden meint. Solche tauchen bei der Aufzählung der Anwesenden des Pfingstereignisses in der Apostelgeschichte auf: "Juden und Proselyten, Kreter und Araber, wir hören sie in unseren Sprachen Gottes große Taten verkünden" (Apg 2, 11). Von dieser Bedeutungslinie her meint Proselytismus einen großen Eifer für die Verbreitung des eigenen Glaubens. Jesus kritisiert in Matthäus 23, 15 die Proselytenmacherei der Pharisäer sehr scharf.

Es verwundert deshalb nicht, daß das Wort "Proselytismus" einen negativen Klang erhalten hat. Es meint nun Einstellungen und Verhaltensweisen, die beim Zeugnisgeben des eigenen Glaubens das Recht des anderen Menschen auf Freiheit von jedem äußeren oder psychischen Druck und Zwang in religiösen Fragen verletzen und den anderen seiner angestammten Gemeinschaft ungebührlich entfremden. Die Absicht, jemanden auf illoyale Weise seiner Gemeinschaft abspenstig zu machen, muß nach dem bereits angesprochenen Dokument der französischen Bischofskonferenz des Jahres 1973 bei christlich-jüdischen Begegnungen "nicht nur wegen der Achtung des Nächsten, die bei jedem Dialog mit irgendeinem beliebigen Menschen notwendig ist, ausgeschlossen bleiben, sondern darüber hinaus noch aus einem besonderen Grund . . . Dieser Grund ist, daß das jüdische Volk in seiner Eigenschaft als Volk Gegenstand eines 'ewigen Bundes' war, ohne den der 'neue Bund' nicht bestehen könnte. Weit davon entfernt, das Verschwinden dieser Gemeinschaft anzustreben, erkennt sich die Kirche selbst in der Suche nach einer lebendigen Verbindung mit ihr."[18] Hier wird die proselytisch-missionarische Absicht mit dem Hinweis auf das gleichsam ökumenische Band der Kirche zum jüdischen Volk zurückgewiesen.

Noch deutlicher ist die katholischerseits namhafteste Studie zum Problem von Mission und Zeugnis der Kirche im Verhältnis zum jüdischen Volk. Mit dieser Studie hatte die vatikanische Kommission für die religiösen Beziehungen mit dem Judentum den Professor für biblische Theologie an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom, Tommaso Federici, beauftragt. Er trug sie beim sechsten Jahrestreffen des offiziellen katholisch-jüdischen Verbindungskomitees vom 28. bis 30. März 1977 in Venedig vor. Ausgehend von dem mit dem jüdischen Volk gemeinsamen Auftrag der Kirche, "den Namen des einen Gottes zu allen Zeiten allen Völkern der Erde zu verkünden", lehnt er Verkündigungsweisen des Evangeliums ab, "die nicht den Wegen Gottes konform sind, der die Menschen einlädt, frei seinem Anruf zu folgen und ihm im Geist und in der Wahrheit zu dienen . . . Die Kirche weist daher eindeutig jede Form des ungerechten Proselytismus zurück." Das meint den Ausschluß und die Mißbilligung jeder Form von Zeugnis und Verkündigung, die in irgendeiner Weise eine physische, moralische, psychische und kulturelle Nötigung für Juden und Jüdinnen bedeuten könnte -- seien es einzelne, sei es ihre Gemeinschaft.

Ganz analog wird auch jeder "Ausdruck von Diskriminierung, von Verachtung, von Voreingenommenheit gegen das jüdische Volk als solches und gegen einzelne Juden selbst oder ihren Glauben, ihren Kult, ihre allgemeine und vor allem religiöse Kultur, ihre Existenz und Bedeutung" ausgeschlossen und zurückgewiesen. "Die Zeit, in der eine christliche Majoritätsmacht mit Methoden der Zwangskonversion von Juden arbeitete, ihnen Katechese und Zwangspredigten auferlegte, ist endgültig vorbei und wird abgelehnt und mißbilligt. Aber die latente Gefahr besteht noch weiter, daß populäre religiöse Schriften und einzelne Christen durch ihr Verhalten gegenüber den Juden als einzelne oder als Gruppe Druck ausüben wollen. Solche widersprechende Aktivität (die immer zurückgewiesen werden muß) wird bei manchen Leuten noch die Erwartung wachrufen, daß sie zur 'Konversion' führen müsse, während sie selbst nicht gewillt sind, ihre eigene 'Bekehrung des Herzens' zu Gott und ihren Brüdern hin zu vollziehen. . . Eine 'Konversion' kann nicht authentisch sein, sofern sie nicht eine seelische Vertiefung im religiösen Bewußtsein des Menschen bewirkt, der diesen Schritt im allgemeinen nach einer Zeit großer innerer Prüfung unternimmt. Daher müssen Versuche zur Gründung von Organisationen zur 'Konversion' von Juden, vor allem pädagogischer oder wohltätiger Art, abgelehnt werden."[19]

Diese Aussagen wurden nicht nur von den Angehörigen der vatikanischen Delegation unterstützt, sondern erhielten auch jüdischerseits Anerkennung und Zustimmung. Die Haltung zur Judenmission ist für viele Jüdinnen und Juden die Testfrage dafür, ob die kirchliche Umkehr von den traditionellen Wegen der Judenfeindschaft glaubwürdig ist. Bereits vor fast 70 Jahren hat Franz Rosenzweig in einem Brief an seinen Vetter Hans Ehrenberg, der sich hatte taufen lassen und ordinierter Pfarrer der evangelischen Kirche war, diese Testfrage auf den Punkt gebracht: "Die Judenmission ist doch das Schiboleth, ob jemand das wahre Verhältnis (zwischen Kirche und Israel) begriffen hat. Es wird auch weiter Judentaufen geben, obwohl die Pfarrer es dem, der zu ihnen kommt, so schwer machen sollten wie möglich, aber eine organisierte Judenmission darf es nicht geben. Das ist die kirchenpolitische Pointe des Sterns."[20] Diese These ist nicht nur die kirchenpolitische Pointe der Religionsphilosophie Rosenzweigs und seines Hauptwerks "Der Stern der Erlösung". Sie ist auch -- wie die inhaltliche Übereinstimmung mit dem offiziösen Votum Tommaso Federicis anzeigt -- Ausdruck eines bemerkenswerten jüdisch-katholischen Konsenses heute.

Die offiziellen kirchlichen Dokumente, welche die Proselytenmacherei zurückweisen, nennen als positiven Gegenbegriff den Begriff des Dialogs. Der Dialog ist also die angemessene christliche Weise, dem Auftrag der Heiligung des göttlichen Namens im Verhältnis zum jüdischen Volk zu entsprechen. Dialog nennt man das Gespräch, das Menschen miteinander von Angesicht zu Angesicht führen; in Rede und Einrede sprechen sie sich an und tauschen Fragen und Antworten, Aussagen und Einwände aus. Dialog ist das Gespräch zwischen einzelnen und zwischen den beiden Gemeinschaften, ein Geschehen der persönlichen Begegnung und des Austauschs von Gehalten und Ideen. Und es ist ein Bemühen über den Austausch von Ideen hinaus, eine Suche nach Nähe auch dann, wenn die Andersheit sich als Fremdheit erweist, eine Bewährung von Solidarität dort, wo Gefahr der Entfremdung oder eine Bedrohung aufsteigt. Das Gespräch zwischen Juden, Jüdinnen und Christen, Christinnen ist Gespräch zwischen ihnen als Gliedern ihrer Gemeinschaft. Der Dialog zwischen Kirche und Israel ist ein Dialog zwischen den "beiden Religionsgemeinschaften auf der Ebene ihrer je eigenen religiösen Identität" (Papst Johannes Paul II.)[21].

Zum Dialog gehört also die Doppelkomponente von Zeugnis und Solidarität, die Verpflichtung zur Wahrheit und zur Liebe. Das Zeugnis der Wahrheit ist nicht drängerisch-proselytisch. Es wartet und respondiert gemäß der neutestamentlichen Weisung: "Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt; aber antwortet bescheiden und ehrfürchtig" (1 Petr 3, 15f.). Das wechselseitig respondierende Zeugnis ist zugleich hörend, setzt sich dem anderen aus und empfängt. Es verändert die Wahrnehmung des anderen und das Verständnis des Eigenen. Und es stößt an Grenzen, wenn -- wie es einmal der Gesprächskreis "Juden und Christen" beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken als gemeinsame jüdisch-katholische Aussage formuliert hat -- Christen "aus ihrem eigenen Glaubensverständnis nicht darauf verzichten (können), auch Juden gegenüber Jesus als den Christus zu bezeugen . . . (und) Juden . . . aus ihrem Selbstverständnis nicht darauf verzichten (können), auch Christen gegenüber die Unüberholbarkeit der Tora zu betonen"[22].

Ein solcher Dialog verlangt Respekt vor der Berufung des anderen und Disziplin. Er ist weder Verrat an der eigenen Berufung noch Verleugnung der Solidarität. Als Bewährung in den realen Verhältnissen ist der Dialog Sprechen und Denken, Handeln und Tun -- und Gebet mit -- und füreinander. Die den Dialog tragen, sind nicht die Vorhut für andere, etwa für Proselytenmacher. Der Dialog ist nicht "Glauben vor dem Glauben", sondern Folgerung aus Glauben, Applikation des Glaubens. Er ist das Eigentliche des christlich-jüdischen Verhältnisses[23]. Er ist als christliche Teilhabe eine Option, die nicht aus einer Bequemlichkeit oder einer indifferenten Liberalität herkommt, die sagen würde, es sei gleichgultig, was einer glaubt; er erwächst vielmehr "aus dem leidenschaftlichen Glauben, daß ein gnädiger und treuer Gott das jüdische Volk aus Liebe zu ihm und als Zeichen eines fortdauernden, nie zu brechenden Sakraments der Erwählung berufen hat."[24] Wo der christlich-jüdische Dialog als Zeugnis der Wahrheit und Solidarität gelingt, ereignet sich zwischen Juden, Jüdinnen und Christen, Christinnen und vor der Welt Heiligung des göttlichen Namens.

Anmerkungen

1 F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung (Den Haag 1976) 356.

2 W. Breuning, N. P Levinson, Zeugnis u. Rechenschaft. Ein christlich-jüdisches Gespräch (Stuttgart 1982) 50f.

3 So mit T. Federici, Mission und Zeugenschaft der Kirche, in: Freiburger Rundbrief 29 (1977) 5; Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945 bis 1985, hrsg. v. R. Rendtorff, H. H. Henrix (Paderborn 1988) 510 (zit.: KJ).

4 So mit E . J. Fisher, Historical Developments in the Theology of Christian Mission, in: Christian Mission - Jewish Mission, hrsg. v. M. A. Cohen, H. Croner (New York 1982) 4; vgl. auch das Missionsdekret "Ad gentes" des Zweiten Vatikanums 6. Daß damit nicht die volle Sicht der Mission eingeholt ist, zeigt die Enzyklika Joh. Pauls II. "Redemptoris Missio" vom 7. 12. 1990 über die fortdauernde Gültigkeit des missionarischen Auftrags (Verlautbarung des Apostolischen Stuhls 100).

5 Solche Formulierungen etwa in: H. U. v. Balthasar. Einsame Zwiesprache. Martin Buber und das Christentum (1958, Einsiedeln 1993)

6 Zitiert nach W. Kern, Außerhalb der Kirche kein Heil: (Freiburg 1979) 13.

7 J. Isaac, L'enseignement du mépris. Verité historique et mythes théologiques (Paris 1962).

8 KJ 149-156, 151, 152.

9 Vgl. den Konzilstext ebd. 42f sowie 124, 134, 139, 141, 168 u.ö.

10 H. Vorgrimler, Ein Freundeswort in: J. Oesterreicher, Die Wiederentdeckung des Judentums durch die Kirche (Meiningen 1971) 24.

11 F. Mußner, Traktat über die Juden (München 2 1988) bes. 78-87; N. Lohfink, Der niemals gekündigte Bund (Freiburg 1989) 111ff.; E. Zenger, Das Erste Testament. Die jüdische Bibel und die Christen (Düsseldorf 1991) 16 u.ö.

12 Jeweils zitiert nach KJ 75f., 78, 79, 109.

13 Karfreitagsfürbitte, ebd. 57. Wie die skizzierte kirchliche Heilshoffnung mit dem Grundaxiom christlicher Lehre, daß alles Heil Heil Jesu Christi ist, zu vermitteln ist: H. H. Henrix, DasJudentum - außerhalb der Kirche, also heillos?, in: TThZ 92 (1983) 216-233.

14 Diese Skizze folgt der ausgezeichneten Studie: L. Vones, Die Vertreibung der spanischen Juden 1492. Politische, religiöse und soziale Hintergründe, in: 500 Jahre Vertreibung der Juden Spaniens, hrsg. v. H. H. Henrix (Aachen 1992) 13-64.

15 Ebd. 125-128, 128.

16 Hier ein nicht unwesentlicher Unterschied zur Gesprächslage in den Kirchen der Reformation; s. P. G. Aring in: TRE 17 (1988) 325-330.

17 S. nur: KJ 120, 126, 138, 145, 190, 257 u.ö.

18 Ebd. 155

19 Federici 9f.

20 In: Briefe und Tagebücher, Bd. 2: 1915-1919 (Den Haag 1979) 1078.

21 Vgl. die Äußerungen des Papstes in: KJ 64, 71, 72, 78.

22 Arbeitspapier "Theologische Schwerpunkte des jüdisch-christlichen Gesprächs v. 8.5. 1979, ebd. 257.

23 Daß Dialog und Verkündigung im Verhältnis zum Judentum anders als in der Zuwendung zur Völkerwelt zu werten sind, unterstreicht der Päpstliche Rat für den Interreligiösen Dialog: Dialog und Verkündigung. Überlegungen und Orientierungen zum Interreligiösen Dialog und zur Verkündigung des Evangeliums Jesu Christi (Verlautbarung des Apostolischen Stuhls 102) 10, 46.

24 So mit M. McGarrr: Contemporary Roman Catholic Understanding of Mission, in: Christian Mission - Jewish Mission 113.

Editorische Anmerkungen

Zuerst erschienen in Stimmen der Zeit, Oktober 1993. Verlag Herder Freiburg