Der Zipfel meines Gewands

Ein orthodoxer Rabbiner reflektiert sein Verhältnis zu Christen und Christentum.

Der Zipfel meines Gewands

Tzvi Marx

 

Erstaunlicherweise sieht der Prophet Sacharja vorher, dass am Ende der Tage „zehn Menschen aus allen Sprachen der Völker“ „einen jüdischen Menschen beim Zipfel seines Gewandes ergreifen“ werden und sagen: „Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist.“ (Sach 8,23) Wenn wir dem großen mittelalterlichen Bibelkommentator Raschi folgen und diesen Abschnitt so interpretieren, dass jeder Jude von zehn Menschen aus jeder der siebzig Nationen, auf die die Bibel verweist, gefolgt wird; wenn wir weiter mit Raschi annehmen, dass jeder dieser 700 Menschen nur einen Zipfel vom Gewand eines Juden hält; und wenn wir annehmen, wie es die Rabbinen gewöhnlich tun, dass ein Obergewand vier Zipfel hat, dann würde sich Sacharja vorstellen, dass 2.800 Menschen am Mantel eines Juden ziehen! Diese Weissagung, zumindest in Raschis Interpretation, tat gewiss dem arg lädierten mittelalterlichen jüdischen Ego gut.

 

Aber wo gibt es eine Weissagung, dass ein Jude auch die Kleidung eines Nicht-Juden „ergreifen“ könnte und von einer Spiritualität lernen, die sich von seiner eigenen unterscheidet?

Raschi selbst weist in der Person des Mose, des „Lehrers“, auf ein solches Beispiel hin. Mose „lernte“ von seinem Schwiegervater Jetro, dem zum Monotheisten gewordenen heidnischen midianitischen Priester. (2. Mose 18,14-24) Anlässlich von Jetros Gottesdienst „kamen Aaron und alle Ältesten von Israel, um mit Moses Schwiegervater das Mahl zu halten vor Gott“. (2. Mose 18,12) Interessanterweise fragten sich die Weisen des Talmud, warum Mose nicht ausdrücklich als Teilnehmer des Mahls erwähnt werde. „Es wird nicht erwähnt, dass Mose gekommen sei, um mit Jetro das Mahl zu halten, weil er dabei stand und sie bediente,“ sagt Raschi.1 Weil die Bibel sagt, dass sie ihr Mahl „vor Gott“ aßen, könnten wir, so Raschi, folgern, „dass derjenige, der eine Mahlzeit genießt, an der Gelehrte teilnehmen, als einer anzusehen sei, der vom Glanz der Schechina, der Gegenwart Gottes, genieße.2 Kurz gesagt, Raschi sieht Jetro, den Nicht-Juden, als einen Gelehrten an, der die israelitische Führung inspirieren kann, Gottes eigene Gegenwart zu erfahren. Der interreligiöse Präzedenzfall für eine solche Gemeinschaft ist dauerhaft in der wöchentlichen synagogalen Toralesung festgeschrieben, die zu Ehren Jetros Paraschat Jitro heißt. (2. Mose 18-20)

 

Juden müssen keine Prophetie erfinden, um von der spirituellen Weisheit anderer zu lernen. Diese Möglichkeit gibt es in unseren eigenen heiligen Texten. Weil wir aber nicht mehr unter den Midianitern leben, ist es an uns, diese Lehre auf unsere gegenwärtige multikulturelle und multireligiöse Situation auszudehnen. In Anbetracht der Kriege, die heute um religiöse Identität geführt werden, steht mit dem Bemühen, vom Anderen zu lernen, das nackte Überleben von uns „Erdlingen“ auf dem Spiel. Mein eigenes Bemühen, den Saum von der Kleidung des Anderen zu ergreifen, zeigt nur, wie notwendig, aber auch wie schwer das Lernen dieser Lektion sein kann.

 

In einer geschlossenen Gesellschaft

 

Für diejenigen, die ohne Religion oder in Familien mit mehreren Religionen aufgewachsen sind, mag es offenkundig, ja natürlich sein, an der spirituellen Weisheit anderer Traditionen teilzuhaben. Das aber war nicht mein Hintergrund. Ich komme aus einer ziemlich traditionellen jüdischen Familie. Obwohl ich in den Vereinigten Staaten aufgewachsen bin, wurde ich doch in einer geschlossenen ethnischen Gemeinschaft, der Jeschiwa,, erzogen, wo schon das Wort „Jesus“ oder noch schlimmer „Christ“ mit einem Bann belegt waren. Es war sogar verboten, das Wort „Christ“ laut auszusprechen, als ob schon seine Artikulation selbst die Macht des Bösen hatte. Um nicht „Christ-mas“ sagen zu müssen, haben wir es gewöhnlich durch das ähnlich klingende und herabwürdigende krats-mech (jiddisch für scratch me) ersetzt. Als Angehöriger einer religiösen Minderheit definierte – und verteidigte – ich meine Identität teilweise dadurch, dass ich die Mehrheitsreligion, das Christentum, herabsetzte. Kurz, obwohl ich in anderer Hinsicht durch und durch Amerikaner war, war ich in meiner spirituellen Identität eher einem Hindu Separatisten, der dem Islam einen Platz in seinem Pantheon verweigert, verwandt als einem pluralistischem Amerikaner.

 

Paradoxerweise lernte ich, wie man auf das hört, was Christen zu sagen haben; nicht in dem kosmopolitischen Milieu von New York City, wo ich aufgewachsen bin, sondern in dem engen Milieu Jerusalems. Als Erwachsener wurde ich Orthodoxer Rabbiner und Theologe. 1976 wanderte ich aus zionistischen Motiven nach Jerusalem aus, und lebte über zwanzig Jahre in meiner spirituellen Heimat. „Nach Hause“ zu kommen hatte einen heilsamen Effekt und erlaubte mir die Entdeckung, dass spirituelle Welten auch außerhalb meiner eigenen existieren.

 

Den ersten Anstoß, mich anderen zuzuwenden, kann ich mir nicht selbst anrechnen. Den ersten Gedanken, die ich je hatte, mit Christen ernsthaft über Religion zu reden, verdanke ich meinem Kollegen Yehezkel Landau, der mich zu einem Vortrag über die jüdische Vorstellung von Mizwa, Gebot, vor einer Gruppe von Christen, jungen Frauen und Männern, einlud. Mein spontaner Impuls auf die Einladung war „Warum sollte ich über das, was meine Religion betrifft, zu Gojim, zu Heiden, sprechen? Wenn sie mich in Ruhe lassen, lasse ich sie auch in Ruhe, und das ist genau richtig so. Wir brauchen kein love-in.“ Das war die spontane Reaktion eines aschkenasischen New Yorkers, dessen Vorfahren tausend Jahre lang christlicher „Liebe“ ausgesetzt waren, mit dem Holocaust als Höhepunkt.

 

Als Kind drehte sich meine engste Beziehung mit dem Christentum um meine Schülerkarte, die es mir erlaubte, umsonst zur Schule zu fahren. Jeden Sonntag stieg ich gewöhnlich in den Bus und zeigte meine Karte, und jeden Sonntag sagte der irische oder italienische Busfahrer: „Die ist an Sonntagen nicht gültig.“ Und ich hatte stets meine Antwort parat: „Aber ich fahre zur Jeschiwa.“ Jeschiwas sind jüdische orthodoxe Schulen, die sich strikt an den jüdischen Kalender halten und besonders die christlichen Feiertage wie Weihnachten, Ostern und Sonntage übergehen. Das bedeutete, dass ich ständig in einer streitbaren Beziehung mit Christen stand, deren Repräsentanten die Busfahrer waren.

Diese streitbare Haltung begleitete mich sogar bis auf die Kanzel, als ich Rabbiner in einer kleinen entlegenen Stadt in der Nähe von New York war. Ich gehörte der interkonfessionellen Vereinigung von Geistlichen in dieser kleinen Stadt an, und wir pflegten uns kollegial in der verschiedenen Gebetshäusern zu versammeln. Ich konnte zugestehen, dass die meisten christlichen Geistlichen recht freundlich waren, aber noch immer fragte ich mich in meinem Hinterkopf, wie offen ich zu diesen Gojim sein konnte. Jahrhunderte von Kreuzzügen, Inquisitionen, Pogromen und der Schoa waren tief in meinem Bewusstsein verankert. Ich bin 1942 in Frankreich geboren worden und nur Glück, Schicksal oder Gottes Vergesslichkeit können dafür verantwortlich sein, dass ich, meine Eltern und Brüder überlebt haben. Das Leiden meines Volkes war Teil meiner Wahrnehmung des Misstrauens. „Respektiere ihn, aber misstraue ihm“, wie es der Talmud sagt.

 

Spirituell engagierte Mitreisende

 

Als mich also mein Freund Yehezkel Landau bat, zu einer Gruppe von Christen über Theologie zu sprechen, mich bat das Misstrauen zu überwinden und wirklich das Innerste meiner Glaubensüberzeugungen mitzuteilen, zögerte ich. Dann ging ich doch. Ich war schließlich in Israel, nicht in New York. Niemand lenkt in Jerusalem Busse am Schabbat! Dann war Landau auch mein Freund, und einen Freund enttäuscht man nicht. Ich machte mich auf den Weg und machte eine Erfahrung, die meine Wahrnehmung veränderte. Zu meiner Überraschung war diese christliche Gruppe an jeglichem Jüdischen unter der Sonne interessiert. Mizwa, Tora, Schabbat, Kiddusch, Halacha – alles meine Themen! Und diese Christen wollten darüber etwas wissen, und über das Land Israel und über den Staat Israel, und wie das alles zusammengehört. Sie wollten mich nicht bekehren; sie wollten nicht über Jesus diskutieren; sie wollten nicht über das „Neue“ Testament reden, sondern ausschließlich über den Tanach und die „Fünf Bücher Mose“. Ich war außer mir vor Freude.

Jehezkel war damals als Studienleiter für das religiöse Bildungsprogramm in Nes Amim, der christlichen Siedlung im Norden Israels verantwortlich, einer christlichen Siedlung, die die Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Land bezeugt, indem sie am Leben des wiedererstandenen Israel und seinem Volk teilnimmt. Er lud mich ein, auch dort Vorlesungen zu halten. Und wieder traf ich Christen, aus Holland, Deutschland, den Vereinigten Staaten, Schweden und England, die nicht nur als Freiwillige in Israel arbeiteten, sondern auch jüdische Themen studierten und alles darüber wissen wollten. So begann eine Zeit, in der ich Christen unterrichtete, die ehrlich an jüdischen dingen interessiert waren, nicht weil sie dabei waren zum Judentum zu konvertieren, sondern weil sie die alte Tradition respektierten, die die Grundlage ihrer eigenen war.

 

Als diese Christen die Hand ausstreckten um meine Kleidung zu berühren und von meinem Unterricht zu lernen, konnte ich endlich meine Furcht vor ihnen aufgeben. Endlich konnte ich anfangen – anfangen – Christen als spirituell engagierte Mitreisende auf dem Weg des Lernens zu sehen. Aber auch mit diesem Bewusstsein sah ich den Weg immer noch als Einbahnstraße an: ich war der Lehrer und die Christen die Schüler.

 

Ein christlicher Lehrer

 

Es brauchte eines christlichen Lehrers und Theologen, Paul van Buren, um mir zu zeigen, wie viel ich vom Christentum lernen musste.

Paul van Buren, ein erfahrener anglikanischer Theologe, quälte sich mit der Frage, wie Christen in Anbetracht ihrer zweitausendjährigen Lehre der Verachtung für Juden weiterhin ihrer eigenen Tradition ins Auge sehen könnten. Als er auf den Skandal des Kreuzes in Auschwitz stieß, wurde er nachdenklich: „Ich sah das Kreuz zum ersten Mal in seiner ganzen schrecklichen Wahrheit.“ Wie konnte er seine Religion, eine Religion, die Liebe predigte, mit den Tatsachen ihrer Geschichte in Einklang bringen?

Van Buren hielt sein Ringen in einem Manuskript fest, das er A Christian Theology of the People Israel3 nannte, und setze es dem Urteil einer sehr gebildeten und kritisch eingestellten Gruppe von Forschern und Theologen aus, die den inneren Kern des Shalom Hartman Instituts for Advanced Jewish Studies in Jerusalem bildeten. Zu dieser Zeit hatte ich das Glück dem Institut anzugehören. Unter dem Vorsitz von David Hartman verbrachte die Gruppe einen Monat damit, gemeinsam mit van Buren sein Manuskript durch kritische Anmerkungen und Analysen auseinander zu nehmen. In seiner nüchternen und zurückhaltenden Neu-England-Haltung nahm er alles auf und antwortete mit Gegenrede oder Korrekturen, die letztendlich in seine Christologie integriert wurden. Diese Erfahrung wurde zum Gründungsereignis des Osher Center for Religious Pluralism am Hartman Institut, deren Kodirektoren van Buren und Hartman wurden. Bis heute studieren Juden, Christen und jetzt auch muslimische Theologen, Wissenschaftler und andere gebildete Persönlichkeiten, jährlich die religiösen Texte der anderen.

Die ersten Konferenzen zu organisieren, war nicht einfach, weil wir wirklich nicht wussten, wie wir miteinander sprechen sollten. Wir diskutierten, was zu diskutieren sei. Wir veranstalteten eine Konferenz über „Interpretation“, nur um das herauszufinden, was ich die 14. hermeneutische Regel nenne – eine Wortspielerei nach Rabban Gamaliels berühmten Dreizehn Regeln zur Erläuterung der Tora – nämlich dass „es nie einen Text gegeben hat, der einer guten Interpretation im Weg stand“.

 

"Gefährliche" Texte

 

Nachdem wir einen Monat lang Interpretationen von Interpretationen interpretiert hatten, wurde uns deutlich, dass unsere Gespräche vage blieben, teilweise weil wir dazu neigten, um die Themen, die gegenseitigem Respekt und Anerkennung im Wege standen, nur herum zu tanzen. So entschieden wir uns, van Burens Beispiel zu folgen und uns auf das zu konzentrieren, was wir „gefährliche“ Texte nannten. Das sind die Texte in unserer jeweiligen Tradition, die keine anderen spirituellen Wege zulassen, die Möglichkeit eines anderen spirituellen Weges gefährden und – grundsätzlich oder durch Taten – die Toleranz gegenüber einem anderen Weg gefährden. Wir entschieden uns, diese gefährliche Texte zu identifizieren und zu prüfen, wie unsere Traditionen mit ihnen umgehen könnten, wenn wir daran interessiert sind einen religiösen Weg und ein Glaubensleben zu fördern, deren Integrität nicht von der Annullierung eines anderen Religions- oder Glaubensweges abhängt.

 

Einer der für Juden schwierigsten Texte ist zum Beispiel eine Zeile aus dem Johannesevangelium: „ Niemand kommt zum Vater, denn durch mich.“ (Joh 14,6) Jahrhundertelang ist diese Zeile als Lehrsatz christlicher Exklusivität gebraucht worden, der Juden, Muslime und alle anderen, die nicht durch Jesus zu Gott kommen, ausschließt. Wie soll man mit solch einem Vers umgehen? Ich war am Anfang sehr einfältig. Ich erinnere mich van Buren gefragt zu haben, ob ein Fragezeichen anstelle eines Punktes das Problem lösen könnte, indem es das Dogma zu einer stilistischen Frage macht. Etwa so: „Kommt niemand zum Vater, der nicht durch mich kommt?“ Absurd! Natürlich kann die Lösung bei solch gefährlichen Texten nicht die Frage einer neuen Zeichensetzung sein. Unsere Aufgabe war, eine Art und Weise des Denkens über diese Texte zu entwickeln, die für die Gemeinschaft der Gläubigen, die diese Texte als heilig ansieht, glaubwürdig sein würde. Anstatt hermeneutische Taktiken auszuprobieren, versuchten wir diese Zeile von Johannes wieder in ihren Kontext zu setzen. Hat Johannes nicht auch berichtet, dass der christliche Messias gesagt habe: „Ich bin nicht gekommen, dass ich die Welt richte, sondern dass ich die Welt rette.“ (Joh 12,47) Hier war es aus dem Inneren christlicher Theologie offenkundig, dass eine exklusive, dogmatische Lektüre von 14,6 nicht in die weitere Perspektive von Johannes passt. Wir haben daraus gelernt, dass formale Lösungen, durch substantielle Argumente gestützt werden müssen.

Wir haben auch gelernt, dass die Intention einer Aussage eben so wichtig ist wie ihre Substanz. Jacob Katz, ein jüdischer Historiker, der ausführlich über die Geschichte der Jüdisch-Christlichen Beziehungen im Mittelalter geschrieben hat, bringt das Argument, dass „tief empfundene Überzeugung sich als stärker erweist als das geschriebene Wort“ um die Einstellung einer Gruppe zur anderen zu verändern.4 Zum Beispiel hatten antike jüdische Texte eine Vielzahl von Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden verboten. Aber der Talmudist des 14. Jahrhunderts Rabbi Menachem ha-Meiri war in der Lage jahrhundertealte Verbote mit dem Argument wegzuwischen, dass die alten Regeln sich nur auf Götzendiener bezogen und „nichts zu tun haben mit dem gegenwärtigen Christentum“. Katz erklärt, dass glaubwürdige Theologie nicht nur von einem Text abhängt, sondern auch von der Kreativität der Interpreten und – am Wichtigsten – von der Offenheit einer Gemeinschaft für neue Ideen. Wenn Gemeinschaften bereit sind den Anderen zu akzeptieren, dann können sie neue Wege im Verstehen ihrer theologischen Texte finden.

 

Sich dem Anderen öffnen

 

Im Lauf dieser Diskussionen sah ich ein, dass meine Aufgabe nicht nur darin bestand, Christen in Judentum zu unterrichten, sondern mich auch selbst christlichen Lehren zu öffnen. Wie konnte ich lernen, neue Ideen aufzunehmen, und meine Vorurteile gegenüber der christlichen Theologie und den tiefsitzenden Argwohn, den ich gegenüber dem Christentum selbst empfand, zu überwinden? Ich machte es mir zur Gewohnheit Paul van Buren bei seinen Besuchen in Jerusalem als erster zu treffen, so dass meine persönlichen Fragen zum Christentum ein offenes Ohr bei ‚meinem‘ christlichen Fachmann fanden. Paul hat mich mit seinem differenzierten Zuhören oder seiner Weigerung, in die Falle einseitiger Wahrnehmungen zu tappen, nie enttäuscht.

 

Die irritierendste Entdeckung bei diesen Gesprächen war für mich, dass Paul überhaupt nicht an der heiligen theologischen Kuh, die mit dem Begriff ‚Dialog‘ geadelt wird, interessiert war. Er war am ‚Monolog‘ interessiert – er wollte sein Christentum treiben, wollte Klarheit über dessen religiöse Forderungen an sich selbst und seine Gemeinschaft, über den Zusammenhang des Christlichen mit der Existenz, über seine Begriffe für die göttliche Dimension und seine Beziehungen zur Moderne. Aber er konnte sein Christentum nicht aufrichtig oder vollständig ‚treiben‘, wenn er es nicht in der Gegenwart, oder besser in Hörweite von Juden tat, die ihr Judentum ebenso ernst nahmen, wie er sein Christentum. Er brauchte diese Kontrolle, um nicht in die zerstörerischen religiösen Irrtümern zu fallen, die seiner Meinung nach die Christenheit geplagt hatten, seitdem der originale Paulus im 2. Jahrhundert missverstanden wurde – zu andauernden Leid für Juden und Schande für Christen. Diesen Irrtum wollte der heutige Paul zurechtrücken. Um den Rest konnte er sich nicht kümmern, um es frei zu sagen, egal ob Juden nun seinem spirituellen Weg zustimmten oder nicht. Er suchte kein ‚Siegel‘ dafür, dass das Christentum in jüdischen Begriffen verständlich ist, nur ein kaschrut – ein Brauchbarkeitssiegel für jüdisches Überleben unter der christlichen Auslegung der christlichen Tradition.

 

Auf jüdischer Seite teilte David Hartman diese Einseitigkeit, was vielleicht der Grund ist, dass die Chemie zwischen beiden stimmte. Auch er war nicht am ‚Dialog‘ interessiert, sondern am ‚Lernen‘. Er gründete sein Institut in Jerusalem aus der festen Überzeugung, dass die Errichtung des Staates Israel es notwendig mache, die Bedeutung der jüdischen Tradition in allen ihren Aspekten zu überprüfen. Eine Tradition, die im kulturellen Kampf einer Minderheit dazu diente in der Diaspora zu überleben, konnte nicht einfach für eine Mehrheit, die Einfluss auf andere ausübt, übernommen werden. Macht war das neue Thema. Juden mussten nun die Fähigkeit zur Transformation gewinnen, um uns aus den Grenzen zu befreien, die wir uns in der Vergangenheit selbst als Verteidigungsmaßnahme auferlegt hatten, um unser Überleben zu sichern. Vordringlich waren auf dieser Tagesordnung die Beziehungen des Judentums zu anderen Kulturen und Religionen, darunter das Christentum. Davids wichtigste Botschaft in dieser Hinsicht war „Travel light!“ Damit meint er: Sprich nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst. Maße dir nichts an, was außerhalb deiner eigenen Kompetenz und Erfahrung liegt. Wenn du also etwas über das Christentum erfahren willst, frage einen Christen; stülpe deine aus deinen apologetischen Bedürfnissen erwachsenen Ideen nicht anderen über. Er schreibt:

Die Existenz anderer Glaubensweisen in ihrem eigenen Recht anzuerkennen, muss keine Verletzung der Verpflichtungen unserer eigenen Glaubensbindung sein. Die bloße Gegenwart eines Anderen in seiner Würde macht die Verpflichtung unseres Schöpfungsbewusstseins größer...

Unsere Erinnerung an das Leiden muss das tiefe Gefühl von Isolierung, das wir in unserer Geschichte empfunden haben, in neue Energien verwandeln, um das würdevolle Gedeihen von Fremden innerhalb unserer eigenen nationalen Gemeinschaft zu feiern. (Pluralismus in der jüdischen Tradition).

 

Wir wussten, dass unsere Arbeit Erfolg haben würde, als wir Coos Schoneveld, den Direktor des Internationalen Rates von Christen und Juden in das Institut einluden, um seine Weise, sein Christentum zu leben, vorzustellen. Er gab seiner Rede den Titel: „Warum ich Jesus Christus liebe“. Und er begann sie im Kern mit diesen Worten:

Wenn ich in ihr Bet Midrasch eingeladen werde, um meine Vision von Jesus Christus mitzuteilen, dann habe ich das Gefühl, dass Sie wirklich zu Hause angekommen sind. Nur zu Hause können Sie sich selbstbewusst genug fühlen, entspannt genug um einen Fremden einzuladen, einen Christen obendrein, damit er ohne Vorbehalt sein Herz öffnet. Danke.

Orthodoxe, konservative, liberale und säkulare Israelis saßen dabei, hörten zu, erbaten Klarstellungen – keine Rechtfertigungen, vielmehr Einblick in seine Weise der Spiritualität. In diesem Augenblick war wirklich der Messias gekommen.

 

Das eigene Gewand richtig tragen

 

Meine eigener Weg hat mich seit den Tagen am Hartman-Institut weit geführt. 1990/91 verlies ich Israel, um in Holland eine Dissertation bei Yehuda Aschkenasy zu schreiben. 1996 kehrte ich in die Niederlande zurück und habe seitdem als eine Art freischaffender Theologe und Judaist gearbeitet und bin als Direktor verantwortlich für das Folkertsma Talmud Institut in Hilversum. Meine Arbeit hat mich mit den Lehrhäusern in den Niederlanden in Verbindung gebracht, meist bestehen sie aus Christen, die aus unterschiedlichen Gründen mehr über das Judentum wissen wollen. Besonders interessant sind für mich die Lehrhäuser der Geistlichen – Protestantische Pfarrer und katholische Priester. Sie gewinnen einen neuen Blick auf jüdische Quellen und die Bibel, wie sie durch eine jüdische Brille gesehen wird. Meine Methode ist offen; ich gebrauche keine anderen Methoden als bei jüdischen Studenten. Während ich nach Judaistischem „ausgeforscht“ werde, „forsche“ ich sie gleichzeitig nach Christlichem aus.

Diese außerordentlich reiche interreligiöse Erfahrung hat mich, mehr denn je, davon überzeugt, dass jede religiöse Tradition das Bemühen eines Teils der Menschheit widerspiegelt und einen spirituellen Zugang zu Transzendenz, Glauben, Ethik und einer höheren Berufung artikuliert. Wir brauchen Zugang zu den Bemühungen der anderen, so dass wir die Punkte, an denen die Bemühungen unserer Gruppe andere blockieren, verstehen und korrigieren können. Auch müssen wir offen sein für Ideen, die unsere eigenen Bemühungen stützen können. Aber unser Mittelpunkt bleibt unsere eigene Bemühung, nicht die der anderen. In unserer Leben haben wir nicht genug Zeit, um jeden Umhang einer anderen Spiritualität anzuprobieren. Es gibt kaum genug, um anzufangen unseren eigenen zu tragen.

 

In einem vielleicht, könnte man sagen, ist Sacharchas Bild übertrieben: Man kann schwerlich die Kleidung eines anderen tragen. Oder der Prophet war im Grunde sehr bedacht: Nur den Zipfel des Gewands eines anderen zu ergreifen, heißt nicht den ganzen Mantel anzuprobieren. Wir haben das messianische Zeitalter erreicht, wenn wir gelernt haben, wie wir unsere eigenen Kleider richtig tragen, und auch gelernt haben, wie wir uns ausstrecken müssen, um den Zipfel der Anderen zu berühren.

 

 

 

Anmerkungen
  1. Raschi zur Stelle, basierend auf der Mechilta, einem rabbinischen Kommentar zu Schemot (2. Mose) aus dem 2. Jahrhundert. Raschis Pentateuchkommentar, übersetzt von Rabbiner Dr. Selig Bamberger, 3. Aufl. Basel, 1975, 193.
  2. Raschi z. St., basierend auf Berachot 64a, s.o.
  3. Paul M. van Buren, A Theology of the Jewish-Christian Reality. Part 1: Discerning the Way; Part 2:A Christian Theology of the People Israel; Part 3: Christ in Context. 1980-1988. Leider ist nur der erste Band ins Deutsche übersetzt: Eine Theologie des christlich-jüdischen Diskurses. Darstellung der Aufgaben und Möglichkeiten. München 1988.
  4. Jakob Katz, Exclusiveness and Tolerance. Studies in Jewish-Gentile Relations in Medieval and Modern Times. 123.

 

Editorische Anmerkungen

Dr. Tzvi Marx ist Orthodoxer Rabbiner und Direktor des Folkertsma Instituts für Talmud und Jüdische Studien in Hilversum, Niederlande.

Quelle: Begegnungen. Zeitschrift für Kirche und Judentum Nr. 3, 2004