Hans Hermann Henrix
Der nie gekündigte Bund
Basis des christlich-jüdischen Verhältnisses
Einleitung
Die Rede von einem Alten und einem Neuen Bund wird von vielen Christinnen und Christen noch immer so aufgefaßt, daß es zwei Bünde Gottes gibt, die aufeinander folgen. Mit Jesus Christus wurde der Alte Bund aufgehoben, erledigt, hinfällig. Demnach wird das jüdische Volk bzw. Israel, das Gottes Partner bei seinem Alten Bund war, als eine Art Fossil einer früheren heilsgeschichtlichen Wirklichkeit verstanden, die es jetzt nicht mehr gibt. Eigentlich hätte Israel in den Neuen Bund treten müssen, indem es Jesus von Nazaret als den ihm gesandten Messias erkannte. Dies aber tat die große Mehrheit des jüdischen Volkes nicht. Also sei das jüdische Volk in einem Bundes-Vakuum: den Alten Bund gibt es nicht mehr, und den Neuen Bund erkennt es nicht an.1
Diese Vorstellung ist unterschiedlich grob oder feinsinnig ausgebildet und hat bis in die Theologie unserer Tage hinein ihre Verfechter. Und dennoch steht sie auf dem Prüfstand. Geprüft und gewogen wird sie in der theologischen Diskussion, bei der sich vor allem Exegeten hervortun und die Systematiker eher zurückhalten.
Eigentlich nicht mehr auf dem Prüfstand steht die herkömmliche These von der Überholtheit des Alten Bundes im christlich-jüdischen Verhältnis. Dort ist die Verabschiedung dieser These gleichsam das Schibboleth oder Eintrittsbillet für eine ernsthafte Beteiligung am theologischen Gespräch zwischen Christen, Christinnen und Juden, Jüdinnen. Aber dies macht die Argumentation und Klärung nicht überflüssig. Sie bleibt notwendig. Was ist die jüdische Position in der Frage des Bundes? Hat die christliche Theologie eine Möglichkeit, auf jüdisches Selbstverständnis in dieser Sache zu reagieren? Was sagen lehramtliche Äußerungen zum Bund Gottes mit Israel? In zwei Gedankengängen möchte ich den Fragen nachgehen. Ihnen stelle ich jeweils zusammenfassend einen Leitsatz voran.
1. Leitsatz
Die herkömmliche christliche Rede von einem Alten und Neuen Bund trifft auf jüdischen Widerspruch. Martin Buber formulierte ihn in seinem klassischen Zwiegespräch mit Karl Ludwig Schmidt zwei Wochen vor Hitlers Machtergreifung prazis und bündig: "Gekündigt ist uns nicht!" Bubers Herausforderung konnte sein damaliger Gesprächspartner ebensowenig aufnehmen wie die damals herrschende offizielle Kirchenlehre. Die alte These von der Überholtheit und Ablösung des Alten Bundes durch den Neuen Bund wirkt sich aber auch bis in Theologien der Gegenwart hinein aus. Erst einzelne Theologen nehmen das jüdische Selbstverständnis der Ungekündetheit des Bundes Gottes mit Israel wahr und beantworten es aus christlicher Begründung positiv.
Die Geschichte eines Gesprächs
Martin Buber, der große jüdische Denker, Deuter und Erzieher (1878-1965), hat in einer geradezu klassischen Form das jüdische Bundesverständnis dargestellt. Er tat es in seinem historischen Zwiegespräch mit dem protestantischen Neutestamentler Karl Ludwig Schmidt am 14. Januar 1933 - also zwei Wochen vor der sogenannten "Machtergreifung" Hitlers - im Jüdischen Lehrhaus in Stuttgart. Der Ordinarius für die Auslegung des Neuen Testamentes an der evangelisch-theologischen Fakultät zu Bonn hatte Buber zugestimmt: es ging bei der Frage zwischen Kirche und Judentum nicht um die damals umlaufenden völkischen und rassischen Ideen. Vielmehr ging es um die Frage "vom Bund Gottes mit seinem Volk". Diese Zustimmung zu Buber setzte Schmidt sogleich in die Klammer: er spreche "aber nun anders als Buber von einem Alten und einem Neuen Bund". Mit der Differenz vom Alten und Neuen Bund wies Schmidt das jüdische Verständnis vom Bund Gottes mit seinem Volk ab. Sieht der evangelische Theologe Karl Ludwig Schmidt doch die Bestimmung des Judentums darin, einzugehen "in die Kirche, die sich als das von Gott in Jesus Christus berufene Volk, als das wahre, geistliche Israel versteht." Hierauf antwortete Martin Buber mit der bewegenden und immer wieder lesens- und hörenswerten Schilderung der Gewißheit seines Judentums und Jude-Seins:
"Ich lebe nicht fern von der Stadt Worms, an die mich auch eine Tradition meiner Ahnen bindet; und ich fahre von Zeit zu Zeit hinüber. Wenn ich hinüberfahre, gehe ich immer zuerst zum Dom. Das ist eine sichtbar gewordene Harmonie der Glieder, eine Ganzheit, in der kein Teil aus der Vollkommenheit wankt. Ich umwandle schauend den Dom mit einer vollkommenen Freude. Dann gehe ich zum jüdischen Friedhof hinüber. Der besteht aus schiefen, zerspellten, formlosen, richtungslosen Steinen. Ich stelle mich darein, blicke von diesem Friedhofgewirr zu einer herrlichen Harmonie empor, und mir ist, als sähe ich von Israel zur Kirche auf. Da unten hat man nicht ein Quentchen Gestalt; man hat nur die Steine und die Asche unter den Steinen. Man hat die Asche, wenn sie sich auch noch so verflüchtigt hat. .. Ich habe da gestanden, war verbunden mit der Asche und quer durch sie mit den Urvätern. Das ist Erinnerung an das Geschehen mit Gott, die allen Juden gegeben ist. Davon kann mich die Vollkommenheit des christlichen Gottesraums nicht abbringen, nichts kann mich abbringen von der Gotteszeit Israels. Ich habe da gestanden und habe alles selber erfahren, mir ist all der Tod widerfahren: all die Asche, all die Zerspelltheit, all der lautlose Jammer ist mein; aber der Bund ist mir nicht aufgekündigt worden. Ich liege am Boden, hingestürzt wie diese Steine. Aber gekündigt ist mir nicht. Der Dom ist, wie er ist. Der Friedhof ist, wie er ist. Aber gekündigt ist uns nicht worden."2
Dem widersprechenden und bekennenden Wort Martin Bubers "aber der Bund ist mir nicht aufgekündigt worden" folgte im damaligen Zwiegespräch keine Antwort des christlichen Gesprächspartners mehr. Von dessen vorher dargestellten theologischen Positionen her hätte diese auch nur in der Verneinung des Buberschen Bekenntnisses bestehen können. Sie hätte sich dabei z. B. auf neutestamentliche Aussagen berufen - etwa auf den 2. Korintherbrief, wo Paulus im 3. Kapitel von der Blaßheit und Vergänglichkeit des Dienens des in Stein gemeißelten Bundes (vom Sinai) spricht und wo er den nur hier im Neuen Testament vorkommenden Begriff des "alten Bundes" benutzt (Verse 4-18). Entsprechend heißt es im 8. Kapitel des Hebräerbriefes: "Wäre ... jener erste Bund ohne Tadel, so würde nicht Platz für einen zweiten (Bund) gesucht ... Indem er (der Herr) von einem 'neuen Bund' spricht, hat er den ersten für veraltet erklärt. Was aber veraltet und überlebt ist, das ist dem Untergang nahe" (Verse 7 und 13).
Bubers Bekenntnis "aber der Bund ist mir nicht aufgekündigt worden" stehen dem Anschein nach die zitierten neutestamentlichen Aussagen entgegen; wahrscheinlich hätte der evangelische Exeget Karl Ludwig Schmidt, der im übrigen wenig später in Konflikt mit dem NS-Regime geriet und in die Schweiz auswanderte, so argumentiert. Aber auch die damalige offizielle katholische Position wäre ein abweisender Widerspruch gewesen. Dies sei mit dem Hinweis auf einen lange vergessenen Vorgang erläutert.
Die Geschichte der Amici Israel
Im Jahre 1926 war es in Rom zur Gründung einer Vereinigung "Amici Israel", d. h. "Freunde Israels", gekommen. Die Vereinigung wollte der Bekehrung von Juden zum Christentum vorarbeiten. Durch rege Werbetätigkeit gelang es der Vereinigung, mehr als 2.000 Priester, darunter zahlreiche Bischöfe und Kardinäle, als Mitglieder zu gewinnen. Eine Werbeschrift "pax super Israel" (Friede über Israel) schilderte im einzelnen, wie die Mitglieder durch Vermeidung aller die Juden kränkenden Redeweisen und durch Betonung der noch fortdauernden besonderen Erwählung Israels der Annäherung dienen könnten. So empfahl das Programm der Vereinigung, daß man den Vorzug der göttlichen Liebe zum Volk Israels und die Fortdauer (perduratio) dieser Liebe einpräge.3 Für die damalige Zeit war dies ein erstaunlicher Grundton. In der Rede von der "Fortdauer" der göttlichen Liebe zum Volk Gottes konnte man eine entfernte Entsprechung zum Verständnis Bubers vom nicht gekündigten Bund erblicken. Offensichtlich ist es dann auch diese Auffassung, die das 'Heilige Officium' eingreifen läßt. Es kommt nämlich zu einem Dekret vom 25. März 1928, das die Vereinigung der "Amici Israel" auflöst.
Dabei äußert sich das Lehramt so, daß das jüdische Volk "der Verwahrer der göttlichen Verheißungen bis Jesus Christus gewesen" sei und dieser seit und nach Jesus Christus nicht mehr ist. Es war "das einst auserwählte Volk Gottes". Wie diese Auserwählung hinfällig geworden, so ist der Bund, in dem sich die Auserwählung Gottes manifestiert, gekündigt, widerufen worden.4
Ablösungstheologie in der Dogmatik
Haben sich heutige Theologie und lehramtliche Äußerungen weiterentwickelt? Wendet man sich mit dieser Frage der katholischen Fundamentaltheologie und Dogmatik zu, so begegnet man dort der Tatsache, daß der Bundesgedanke für die dogmatisch-systematische Theologie kaum eine Rolle spielt. Das "Bundesschweigen" der systematischen Theologie ist angesichts des Gewichts des Bundesgedankens in der Bibel erstaunlich. Freilich entspricht es der sehr untergeordneten Rolle, die der Bundesgedanke etwa in der Theologie des hohen Mittelalters spielte. Der evangelische Historiker Martin Greschat erklärt den Befund damit, daß die Lehre von der Kirche die Elemente des Bundes aufsog und absorbierte: "Die Kirche als sakramentale Heilsanstalt reguliert das (in den einzelnen Bundesschlüssen unterschiedliche) Zusammenspiel von göttlicher Zusage und menschlicher Verpflichtung".5
Die bedeutendste Dogmatik katholischer Schultheologie im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Vatikanum, "Mysterium Salutis (= "Geheimnis des Heils")6, folgt einer heilsgeschichtlichen Linie, welche offen ist für die Berücksichtigung der biblischen "Bundes"-Theologie. Und doch denken die dortigen Ausführungen über Gottes Bund mit Israel noch allein an das biblische, vorkirchliche Israel. Sie wirken wie eine Vergegenwärtigung des biblischen Bundesverständnisses, die das nachbiblische Judentum vergißt. Sie erscheinen einrückbar in die herkömmlichen Theorien, wonach die Kirche Israel ersetzt oder ablöst. Dieses dogmatische Grundlagenwerk breitet zwar keine Aufkündigungs- und Substitutionstheorie aus, überwindet sie aber auch nicht durch ausdrückliche Auseinandersetzung.7 Eine sehr verwunderliche Bekräftigung der alten Ablösungstheorie findet sich freilich im von Wolfgang Beinert herausgegebenen "Lexikon der katholischen Dogmatik" aus dem Jahr 1987 und seinem Artikel zum "Bund".8 Der Autor spricht bereits in der biblischen Grundlegung von der positiven Ablösung des Sinai-Bundes und scheut auch nicht die Formulierung von einem angeblich paulinischen "Unterschied zwischen dem entarteten Alten Bund und Neuen Bund". So verwundert schließlich die freie theologische Entfaltung nicht, wenn es dort heißt: "Ekklesiologisch wechselt der Bund vom alten auf das neue Volk Gottes, also von Israel auf die Kirche; während Israel als begrenztes Volk einen eingeschränkten Heilsauftrag ausübte, ist die Kirche von vornherein in allen Völkern beheimatet und zu allen Völkern als Heilsbotin gesandt" (48).
Ablösung in progressiven Theologien
Die These von der Außerkraftsetzung und Aufkündigung des Alten Bundes wird bis in progressive Theologien hinein vertreten. Wer zum Beispiel die Grundlagenwerke der Theologie der Befreiung von Gustavo Gutierrez, Leonardo Boff, Clodovis Boff oder Jon Sobrino durchmustert, findet nicht nur Belege für eine Israel-Vergessenheit, sondern auch Äußerungen antijüdischer Polemik, die zum Gegenstand einer zum Teil bitteren und schmerzlichen Kontroverse mit jüdischen Autoren wurden.9 Die strittigen Äußerungen in Werken der Theologie der Befreiung kommen aus einer unkritisch übernommenen Tradition, derzufolge der von Gott mit Israel geschlossene Alte Bund abgelöst und erledigt sei. Die systematische Theologie der 90er Jahre bekräftigt diese Tradition nicht mehr. Aber erst zaghaft meldet sich die Problematisierung der Ablösungstradition in der gegenwartigen Systematik.
Wie im Übergang von der Phase alter Aufkündigungstradition zur zaghaften Problematisierung erscheint das vierbändige "Handbuch der Fundamentaltheologie" von 1985 bis 1988. Es ist beredt in der Fehlanzeige einer expliziten Bundestheologie. Es ist in sich widersprüchlich, wenn im zweiten Traktat zur Offenbarung einerseits Helmut Merklein sein Verständnis vom "Unheilskollektiv Israel" als Gegenüber zu Jesus entwickelt und andererseits Hans Waldenfels dem Judentum eine bleibende Wahrheitsfähigkeit gerade mit dem Hinweis auf die unwiderrufliche Liebe und Zuneigung des Bundesgottes zu Israel attestiert. Und es wirkt wie eine strukturelle Unentschiedenheit, wenn im ekklesiologischen "Traktat Kirche" Gerhard Lohfink in der mit Israel nicht identischen Kirche so etwas wie eine Notgeburt gegenüber dem Willen Jesu sieht, der die eschatologische Sammlung ganz Israels meinte, die These von der Kirche als Ersatz oder Substitution für Israel pointiert ablehnt und doch keine heilsame Schwerkraft des Alten Bundes für das Israel abseits von der Kirche wahrzunehmen vermag.10
Zaghafte Annahme eines fortbestehenden Bundes
Während die Forderung der Umkehr bei Gerhard Lohfink vorrangig an Israel adressiert gedacht scheint, veranlaßt in der Ekklesiologie des von Theodor Schneider herausgegebenen zweibändigen "Handbuchs der Dogmatik" der Bruch zwischen Kirche und Israel die Rede von "ständiger Selbstumkehr" der Kirche. Siegfried Wiedenhofer macht dankenswert klar, "daß jede Bestimmung des Verhältnisses von Judentum und Christentum theologisch falsch und praktisch gefährlich ist, die die heilsgeschichtliche Besonderheit und die bleibende religiöse Bedeutung des Judentums nicht ausdrücklich festhält. Damit ist jeder "gegen das Judentum gerichtete Selbstbehauptungswillen und Absolutheitsanspruch" der Kirche zurückgewiesen. Zur inneren Voraussetzung dieser theologischen Sicht, die sehr wohl an der Trennung und fundamentalen Differenz zwischen Kirche und Judentum festhält, gehört die Aussage, daß "Gott den Bund mit Israel nicht gekündigt hat."11
Bubers Verständnis vom Israelbund Gottes: "Gekündigt ist uns nicht", ist also nicht ohne sachliches Echo in der christlichen Schultheologie der Gegenwart geblieben. Daß dies katholischerseits wie evangelischerseits gilt, sei mit zwei Hinweisen veranschaulicht.
Neue Wege theologischen Denkens
Hans Waldenfels, Fundamentaltheologe an der katholisch-theologischen Fakultät zu Bonn, hat bereits vor zehn Jahren ein Handbuch "Kontextuelle Fundamentaltheologie"12 vorgelegt. Waldenfels' Glaubensrechtfertigung hebt besonders auf die vielfältigen Zusammenhänge und Konstellationen des heutigen Glaubens ab: zu seinem Kontext gehört die Trennung in viele Kirchen ebenso wie die Situation der Säkularisierung oder vielfältiger Ideologien und das Nebeneinander verschiedener Religionen. Mit letzteren meint der Autor aber nicht das Judentum. Aus christlicher Sicht kann man das Judentum nicht einfach in die Reihe der Weltreligionen wie Islam, Buddhismus oder Hinduismus stellen. Dies würde das besondere Band der Verbundenheit der Kirche mit dem jüdischen Volk übersehen oder verneinen. Gerade solche Verneinung will Hans Waldenfels nicht. Er beginnt seine Darstellung des Verhältnisses der Kirche zur Welt mit dem Nachdenken über die Beziehung von "Kirche und Synagoge" (388-392). Schon gleich zu Anfang gibt er seine Position zu erkennen: "Nach dem Römerbrief ist der Treuebund Gottes mit seinem Volk nicht zerbrochen; Israel ist nicht in den Stand irgendeines Volkes unter vielen anderen zurückgefallen". Folgerichtig überschreibt er den Unterabschnitt: "Ungekündigter Bund". Darin bietet er eine knappe Skizze des Israelverständnisses bei Paulus, der trotz der Weigerung der jüdischen Mehrheit, Jesus als den Christus zu glauben, an der unwiderruflichen Berufung Israels festhält. Als Summe paulinischer Theologie faßt Waldenfels zusammen: "Das jüdische Volk ist nach wie vor Gottes auserwähltes Volk. Der Bund ist nicht nur ungekündigt, sondern auch unkündbar" (so mit J. Oesterreicher: 390). Freilich haben die Aussagen Waldenfels' noch zu sehr den Charakter von Anmerkungen, die seine Theologie eigentlich nicht zentral bestimmen.
Ein radikalerer Versuch
Die These vom ungekündigten, ja unkündbaren Alten Bund rückt in der Theologie des evangelischen Systematikers Friedrich-Wilhelm Marquardt aus einer Randständigkeit in das Zentrum von Dogmatik. Im einleitenden Band seiner Dogmatik "Von Elend und Heimsuchung der Theologie"13 denkt Marquardt ausdrücklich und ausführlich über die Lebensgemeinschaft der Kirche mit dem jüdischen Volk nach. Theologie denkt der "biblisch bezeugte(n) und bis heute sich weiter ereignende(n) Geschichte der Begegnungen des Gottes Abrahams, Isaaks, Jakobs und des Vaters Jesu Christi mit dem Volk Israel und allen Völkern um es herum" nach (35). Die Geschichte dieser Begegnungen ist Bundesgeschichte. Und es ist eine Geschichte. Es ist eine Einheit der Bundesgeschichte, die so voller Reichtum und Fülle ist, daß Marquardt sagen kann: "Die christliche Kirche erkennt aus der Heiligen Schrift und bekennt sich... dazu, ...Gott verbunden nur als Bundesgenosse des zwischen Gott und dem jüdischen Volk geschlossenen Bundes zu sein. So darf sie um ihrer eigenen Gottgebundenheit willen den dem jüdischen Volk nach der biblischen Verkündigung nicht gekündigten Bund bekennen. An Gottes Treue zu Israel hängt die Verheißung seiner Treue auch zur Kirche. Wäre Gottes Bund mit Israel gekündigt, dann hätte die Kirche auf Sand und nicht auf Felsen gebaut; sie wankte dann in ihren Grundfesten" (435). Kirche erscheint in solcher Theologie "erwählt nur als Miterwählte, berufen nur als Hinzugerufene, geheiligt nur als Mitgeheiligte, gottgebunden nur als Bundesgenosse des Bundes zwischen Gott und Israel" (425). Die Nichtgekündetheit des "AIten" Bundes ist so zentral gedacht, daß sie das Christsein bestimmt. "Wird ein Mensch Christ, so beruft Gott ihn damit zur Lebensgemeinschaft mit dem jüdischen Volk (374). Das sagt Marquardt nicht gleichsam "freihändig", d. h. in Absehung von Jesus Christus. Für ihn ist die christliche Lebensgemeinschaft mit dem jüdischen Volk, diese Israelbeziehung: "Christusbeziehung" (458). Christus ist der Friede zwischen Israel und den Weltvölkern, der die Feindbeziehungen zwischen ihnen umstiftet zur Gemeinschaft. Von diesen Grundgedanken ist denn auch seine zweibändige Christologie mit dem bezeichnenden Titel, "Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden"14 getragen und charakterisiert.
Marquardt hat in seinem Werk mehrfach bekannt, daß solche theologische Erkenntnis - aus biblischer Quelle begründet - in konkreten Lebensverhältnissen und im Lebenskontakt mit Juden und Judentum erwächst. Eine Theologie, die sich solchem Lebenskontakt verschließt, verschließt sich der theologischen Erneuerung des Verhältnisses zum Judentum. Ist bei dieser Frage die Kirche selbst und ihre Leitung weiter als Teile der Theologie?
2. Leitsatz
Im Nachdenken über das christlich-jüdische Verhältnis ergibt sich eine Umkehrung von Voranschreiten oder Zurückbleiben zwischen der zünftigen Theologie und der Kirche. Wurde für die Schultheologie erst ein verzögertes Innewerden der Ungekündetheit des Bundes Gottes mit Israel vorgestellt, so läßt sich für eine beträchtliche Zahl von offiziellen kirchlichen Verlautbarungen zum christlich-jüdischen Verhältnis früher und entschlossener die Aussage belegen: der Bund Gottes mit Israel ist ungekündigt. Exponent dieses breiten zwischenkirchlichen Konsenses ist Papst Johannes Paul II., der Martin Bubers Wort sachlich und sprachlich aufnimmt und sich dabei vor allem auf den Römerbrief stützt. Kirchliche Lehre heute sieht die Kirche wie auch das jüdische Volk im Bund; die Bundeswirklichkeit umgreift beide; das macht das Wesen der Ökumene aus, in der beide einander verbunden sind.
Die Kirchen und das jüdische Volk
Wie Theologie und Verkündigung den christlichen Glauben in seinen Bezügen zum jüdischen Volk und in seinen Aussagen zur jüdischen Tradition auslegen, hängt nicht zuletzt daran, ob ihre Wortführer/innen in einem Lebenskontakt mit Juden, Jüdinnen und Judentum stehen. Es ist eine Erfahrung der zurückliegenden beiden Jahrzehnte, daß Vertreter der Kirchen und Kirchenleitungen in einen solchen Kontakt mit jüdischen Gemeinden und Repräsentanten getreten sind. Bischöfe und Kirchenvertreter/innen haben bei offiziellen Gelegenheiten - wie bei einer Begegnung mit einer jüdischen Delegation oder einer gemeinsamen Versammlung im Gebet vor Gott oder bei informellen Kontakten - Einsichten gewonnen, die ein Sichfreimachen von religiösen Vorurteilen und ein theologisches Umdenken anstoßen. Entsprechende Impulse der Umkehr und Erneuerung sind in kirchliche Verlautbarungen zum christlich-jüdischen Verhältnis eingeflossen. Diese gibt es in großer Zahl und Fülle.15 Sie reichen von päpstlichen Ansprachen zu ökumenischen Richtlinien einzelner Diözesen, von vatikanischen Dokumenten zu Erklärungen nationaler Bischofskonferenzen, von Texten des Ökumenischen Rates der Kirchen zu Synodalbeschlüssen einzelner Landeskirchen. Bei der inhaltlichen Analyse "stoßen wir auf eine verblüffende, kirchen- und theologiegeschichtlich seltene Umkehrung der Verhältnisse zwischen wissenschaftlicher Theologie und Kirche. Ist in der Regel die Theologie mit ihren offenen Diskussionen 'weiter' als die Kirche mit ihren formulierten Lehrentscheidungen, so verhält sich dies im Falle der christlich-jüdischen Beziehung heute... eindeutig umgekehrt. Während wissenschaftliche Theologen sich in ihrer Mehrheit der theologischen Erneuerung des Verhältnisses zum Judentum noch verschließen, haben Kirchen sich darauf schon... festgelegt".16 Dies ist ein ökumenischer Befund zur christlichen Rede vom Bund Gottes mit Israel.
Die katholische Kirche und Israel
Für die katholische Kirche ist die theologische Wende mit der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über das Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen vom 28. Oktober 1965 eingetreten. In diesem grundlegenden Konzilsdokument ist zwar die These vom ungekündigten Bund Gottes mit Israel noch nicht eigens ausgesprochen, aber doch bereits kräftig vorbereitet, wenn es dort heißt: "Die Kirche hat auch stets die Worte des Apostels Paulus vor Augen, der von seinen Stammverwandten sagt, daß 'ihnen die Annahme an Sohnes Statt und die Herrlichkeit, der Bund und das Gesetz, der Gottesdienst und die Verheißungen gehören...'". Wie sehr dem Konzil an der präsentischen Formulierung des Römerbriefes, aus dem es zitiert (Röm. 9,4-5), liegt, geht aus einer weiteren Erinnerung an den paulinischen Brief hervor: Die Juden bleiben auch angesichts ihrer Nichtannahme des Evangeliums "immer noch von Gott geliebt um der Väter willen; sind doch seine Gnadengaben und seine Berufung unwiderruflich".17
Als eine der ersten nachkonziliaren Synoden in der katholischen Kirche griff die Synode der Erzdiözese Wien mit ihrer Erklärung vom 23. Oktober 1970 das Konzilswort auf, als sie sagte: "Existenz und Geschichte des Judentums sind (nach Röm. 9-11) für die Christen ein Heilsmysterium, daher müssen die Christen die Existenz auch des heutigen Judentums heilsgeschichtlich verstehen... Mit sicherem Glauben halten wir fest, daß der Neue Bund in Christus die Verheißungen des Alten Bundes nicht außer Kraft gesetzt hat".18
Die Aufmerksamkeit für das heutige Judentum und die Anerkennung des Fortbestandes des Alten Bundes erbitten die pastoralen Handreichungen der französischen Bischofskonferenz "Die Haltung der Christen gegenüber dem Judentum" vom 16. April 1973: "Nach der biblischen Offenbarung hat Gott selbst dieses Volk zur Existenz berufen, hat es erzieherisch geleitet und hat ihm seinen Plan kundgemacht; er hat mit ihm einen ewigen Bund geschlossen (Gen. 17,7) und hat es zum Gegenstand einer Berufung gemacht, die der Apostel als unwiderruflich bezeichnet (Röm. 11,29)... Selbst wenn der Bund für die Christen in Jesus Christus erneuert wurde, muß das Judentum dennoch vor allem als eine religiöse Realität betrachtet werden, nicht als eine Reliquie einer ehrwürdigen und abgetanen Vergangenheit, sondern als eine durch die Zeiten hindurch fortdauernde lebendige Realität".19 Hier geschieht nicht eine Aneignung des biblischen Bundesverständnisses, die Israel und Judentum um den Bund bringt und gleichsam bund-los macht. Vielmehr wird die Ewigkeit seines Bundes hervorgekehrt und die Unwiderruflichkeit seiner Bundesberufung festgehalten. Dies wird unter dem Aspekt der Erwählung wiederholt: "Im Gegensatz zu dem, was eine alte, aber sehr anfechtbare Exegese vorgegeben hat, kann man aus dem Neuen Testament nicht ableiten, daß das jüdische Volk seiner Erwählung verlustig gegangen sei. Die gesamte Schrift lädt uns im Gegenteil ein, im Bestreben des jüdischen Volkes, dem Gesetz und dem Bund treu zu bleiben, ein Zeichen der Treue Gottes zu seinem Volk zu erblicken". Das Weiterbestehen des Alten Bundes wirft aber die Frage auf, in welchem Verhältnis denn der Neue Bund dazu steht. Die französische Handreichung geht auch auf die Frage kurz ein: "Der erste Bund ist durch den Neuen Bund nicht hinfällig geworden. Der erste Bund ist die Wurzel und die Quelle des Neuen Bundes, sein Fundament und seine Verheißung".
In zahlreichen Aussagen aus den Teilkirchen der katholischen Kirche20 hat sich eine kirchliche Glaubenseinsicht eingestellt und bekräftigt, die dem jüdischen Selbstverständnis von der Ungekündetheit des Bundes vernehmbar Echo gibt. Für sie lassen sich auch zahlreiche Aussagen aus den Kirchen der Reformation anführen21. Man kann also von einem breiten ökumenischen Konsens über die Ungekündetheit des "AIten" Bundes sprechen - bis hin zu Papst Johannes Paul.
Johannes Paul II
Während seiner ersten pastoralen Reise durch Deutschland traf Johannes Paul II. am 17. November 1980 im Dommuseum zu Mainz mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland und der deutschen Rabbinerkonferenz zusammen. In seiner Ansprache betonte der Papst: Beim wohlwollenden Dialog zwischen Juden und Christen, der in Deutschland "vor dem dunklen Hintergrund der... versuchten Ausrottung des Judentums in diesem Lande" einen ganz besonderen Stellenwert habe, "geht es nicht nur um die Berichtigung einer falschen religiösen Sicht des Judenvolkes..., sondern vor allem um den Dialog zwischen den zwei Religionen".22 Der Papst skizziert drei Dimensionen dieses Dialogs zwischen dem jüdischen Volk und der Kirche. Die wesentliche Dimension nennt er an zweiter Stelle: "Eine zweite Dimension unseres Dialogs - die eigentliche und zentrale - ist die Begegnung zwischen den heutigen christlichen Kirchen und dem heutigen Volk des mit Mose geschlossenen Bundes." Der Papst äußert sein Interesse am heutigen jüdischen Volk ganz unzweideutig. Ihm liegt am Dialog auf der Ebene der je eigenen religiösen und heutigen Identität von Judentum und Kirche. Er geht deutlich über eine Rückschau auf das biblische Israel hinaus und will keinen Dialog der Ungleichzeitigkeit - etwa zwischen der Kirche von heute und dem Israel der Bibel oder der Zeit Jesu. Ein Dialog der Zeitgenossenschaft ist das Leitbild des Papstes. Das heutige jüdische Volk ist nach seinem Wort das Volk des Bundes. Und diesen Bund qualifiziert er in der Nennung einer ersten Dimension des Dialogs folgendermaßen: "Die erste Dimension dieses Dialogs, nämlich die Begegnung zwischen dem Gottesvolk des von Gott nie gekündigten (vgl. Röm. 11, 29) Alten Bundes und dem des Neuen Bundes, ist zugleich ein Dialog innerhalb unserer Kirche, gleichsam zwischen dem ersten und zweiten Teil ihrer Bibel." Buber sagte: "Der Bund ist mir nicht aufgekündigt worden". Der Papst hat die darin liegende Herausforderung aufgenommen, wenn er die Redewendung vom "Gottesvolk des von Gott nie gekündigten Alten Bundes" gebraucht.
In der Bekräftigung der Ungekündetheit des Alten Bundes wird der theologische Grund des Interesses der Kirche am jüdischen Volk - am "heutigen Volk des mit Mose geschlossenen Bundes" - sichtbar. Die "Bande zwischen der Kirche und dem jüdischen Volk gründen sich eben"- wie der Papst in einer weiteren Ansprache sagte - "auf den Plan des Bundesgottes" (Ansprache an Delegierte nationaler Bischofskonferenzen für die Beziehungen mit dem Judentum am 6. März 198223. Das Interesse ist also von theologischer Qualität. Es hat pastorale Wirkung, weshalb die Vatikanischen "Hinweise für eine richtige Darstellung von Juden und Judentum in der Predigt und in der Katechese der katholischen Kirche" vom 24. Juni 1985 unter Aufnahme des päpstlichen Wortes vom nie gekündigten Bund sagen können: "Es geht also darum, sich eine stets lebendige Wirklichkeit, die zur Kirche in enger Beziehung steht, seelsorglich angelegen sein zu lassen. Der Papst hat diese bleibende Wirklichkeit des jüdischen Volkes in seiner Ansprache an die Vertreter der jüdischen Gemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland am 17. November 1980 in Mainz mit einer bemerkenswerten theologischen Formulierung dargestellt: '... das Gottesvolk des von Gott nie gekündigten Alten Bundes...'".24
Es hat um das päpstliche Wort des von Gott nie gekündigten Alten Bundes in römischen Kreisen Irritationen gegeben. Diese haben Johannes Paul II. nicht von seiner theologischen Linie abdrängen können. Vielmehr hat er seine Position der Ungekündetheit des Alten Bundes bei nachfolgenden Begegnungen mit Repräsentanten jüdischer Gemeinschaften wiederholt und bekräftigt.25 Vielleicht war es diese päpstliche Hartnäckigkeit, die den Katechismus der Katholischen Kirche von 1993, der in den Aussagen zu Israel und Judentum eine eigenartige Ambivalenz zeigt, lapidar feststellen läßt: "der Alte Bund ist nie widerrufen worden" (Nr. 121; vgl. auch Nr. 839).26
Das päpstliche Wort vom "Gottesvolk des von Gott nie gekündigten Alten Bundes" ist weit mehr als eine bloße Bekundung des guten Willens. Es ist theologisch wohl bedacht und steht sehr zentral in einem Geflecht von Aussagen päpstlicher Israellehre: Der mit Mose geschlossene Bund ist nie gekündigt worden; Gott hat niemals aufgehört, sein Volk zu lieben; das jüdische Volk steht nach wie vor in einer unwiderruflichen Berufung und ist immer noch Erbe jener Erwählung, der Gott treu ist. Dies sind die zentralen Aussagen und Kategorien päpstlicher Israellehre.27 Sie sind eindeutig und aktualisieren vor allem paulinische Aussagen des Römerbriefs (Kapitel 9-11). Und dennoch gibt es ein Problem. Es ist das Problem der Spannung zu anderen Aussagen des Neuen Testaments - etwa zu 2. Kor. 3 und Hebr. 8.
Das Problem neutestamentlicher Texte
Der Text von 2. Kor. 3 ist vom Überbietungsmotiv bestimmt. Der "Neue Bund" überbietet den "Alten" an Herrlichkeit (Verse 6-11). Bedeutet solche Überbietung auch das Ende des "Alten Bundes"? Manche Übersetzung des Verses 14 behauptet das, z. B. die Einheitsübersetzung: "Bis zum heutigen Tag liegt die gleiche Hülle (d. h. die Hülle, die Mose sich nach dem Heruntersteigen vom Sinai aufs Gesicht gelegt hatte: Exodus 34, 29-35) auf dem Alten Bund, wenn daraus vorgelesen wird und es bleibt verhüllt, daß er (= der Alte Bund) in Christus ein Ende nimmt." Luther dagegen übersetzte: Die Hülle, "welche in Christo aufhöret". Demzufolge nimmt nicht der Alte Bund selbst, sondern die Hülle über dem Alten Bund ein Ende. Das bedeutet: "So leuchtet im 'neuen Bund' der 'alte Bund' unverhüllt in Gottes aus ihm strahleitsr Herrlichkeit. Er ist also auf keine Weise abgetan oder am Ende oder könnte vergessen werden. Der 'neue Bund' ist nichts anderes als der enthüllte, nicht mehr verdeckte 'alte Bund'"."28
Dem Alten Bund scheint der Hebräerbrief am eindeutigsten das Testat des Endes auszusprechen: "Indem er von einem neuen Bund spricht, hat er den ersten für veraltet erklärt. Was aber veraltet und überlebt ist, ist dem Untergang nahe" (Hebr. 8, 13). Der Hebräerbrief teilt also nicht die Zuversicht des Römerbriefes, wonach die Gnadengaben - darunter auch die Gabe des Bundes - unwiderruflich sind (Röm. 11, 29). Andererseits konstruiert er nicht einen einfachen, kontradiktorischen Gegensatz zu Paulus. Die Beziehung zwischen den beiden Bünden umspielt er mit dem platonisch erscheinenden Gegenüber von Abbild bzw. Schatten und der Sache selbst. Und das bedeutet nicht bloßen Gegensatz, sondern auch ein Element positiver Entsprechung zwischen dem ersten und zweiten Bund.29
Es ist ein innerneutestamentlicher Pluralismus von Positionen zum Bund Gottes mit Israel nicht zu leugnen. Das bedeutet eine Offenheit, in die hinein der Papst das Wort vom nie gekündigten Alten Bund spricht. Dabei stützt er sich sachlich und sprachlich besonders auf den Römerbrief. Wenn Johannes Paul II. in seinen Grundaussagen über das Verhältnis der Kirche zum jüdischen Volk den Römerbrief aktualisiert und das jüdiorde Volk auf der Ebene seiner heutigen Identität als ein eigenes Element des Bundes, der göttlichen Liebe und Erwählung neben der Kirche sieht, dann deutet er die heilsgeschichtliche Situation in einer Weise, die herkömmliche Traditionen überwindet: Die Kirche und das jüdische Volk sind unterwegs vor Gott. Beide stehen im Bund. Sie haben auf unterschiedliche Weise Anteil an diesem Bund. Die Bundeswirklichkeit umgreift beide. Das macht das Wesen der "Ökumene" aus, in der sie verbunden sind. Gott will offenbar diese Situation des Gegenübers von Kirche und jüdischem Volk, die von der Teilnahme an der Bundeswirklichkeit umgriffen wird.30
Juden und Christen als Bundespartner?
Die christlich-theologische Anerkennung einer Teilnahme sowohl Israels wie auch der Kirche an der Wirklichkeit des Bundes mit Gott hat eine lange Tradition in der christlichen Verkündigung und Theologie überwunden, derzufolge der Alte Bund Gottes mit Israel gekündigt und abgetan sei. Sie wirft aber zugleich neue Fragen auf, die in einer aktuellen Diskussion engagiert verhandelt werden: Der Alte und der Neue Bund dürfen nicht in der Fluchtlinie einer Aufeinanderfolge im Sinne einer Ablösung und Ersetzung einander zugeordnet werden. Wie aber ist dann ihr Verhältnis zueinander näherhin zu bestimmen? Während der zitierte französische Text von 1973 das Verhältnis mit mehreren Bildern umspielt (Wurzel, Quelle, Fundament), besagt der Neue Bund für die Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland 198031, daß "die Kirche durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit seinem Volk (Israel) hineingenommen ist". Redet aber die Bibel Israels so vom "Bund", daß er nicht nur die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk Israel meint, sondern für eine Hineinnahme der Völker offen ist? Haben wir einen einzigen "Bund", bei dem Israel die Priorität hat und der auf die Kirche ausgeweitet wird durch Hineinnahme, Einpflanzung oder Hinzuberufung? Oder haben wir doch das Gegenüber von zwei Grundtypen des Bundes, deren Differenz und Unterschiedlichkeit so tief reicht, daß sie die Rede von dem einen Bund problematisiert?
Wie die in Gang seiende Diskussion vor allem der alttestamentlichen Exegeten auch weiter akzentuiert werden mag, ihre Voraussetzung ist und bleibt: Der Bund Gottes mit Israel ist nicht gekündigt.32
Schluß
Zum Schluß sei zur Aussage Martin Bubers zurückgelenkt. Bubers Wort "der Bund ist mir nicht aufgekündigt" war ein Wort der Entgegnung, des Widerspruchs, des "Aber" zu der christlichen These von der Bestimmung des Judentums, in die Kirche einzugehen. Bubers Beharren auf der Ungekündetheit des Bundes stellte also eine Kirche infrage, die den Bund nur bei sich sieht. Das päpstliche Wort und die christlich-theologische These vom nie gekündigten Alten Bund, welche Bubers Wort sprachlich und sachlich aufnehmen, haben nun ihrerseits das Element der Infragestellung Israels bei sich. Ihre innere Voraussetzung ist ja, daß die Kirche im Bund ist; Gott hat in seiner Barmherzigkeit durch Christus Jesus aus "Fernen" "Nahe" gemacht (vgl. Eph. 2, 13) und die Völker in den Bund Israels hineingenommen. Davon aber weiß die jüdische Tradition nichts. Sie erkennt die Hereinnahme der Kirche in den Bund Gottes mit Israel nicht an. Sie sieht die Christen lediglich in den Bund Gottes mit Noach einbezogen.33 Sie vermag den Abrahams- und Sinaibund nur beim Volk Israel und nicht auch bei der Kirche zu sehen. Das ist durch die inneren Voraussetzungen der christlichen Anerkennung des nie gekündigten Alten Bundes infragegestellt. Die Glaubensgewißheit der Kirche, daß sie im Bunde Gottes steht, enthält eine Problematisierung des Bundesverständnisses Israels. Sie sollte Christen allerdings nicht zu einem Abringen und Abtrotzen jüdischer Zustimmung verleiten.34 Kirchliche Bundesgewißheit hat ihre Bewährungsprobe darin, daß sie auch im Blick auf jüdische Zurückweisung des kirchlichen Bundesversständisses daran festhält: der Bund Gottes mit Israel ist ungekündigt.
Dies sei in ein Bild übersetzt, das zu Bubers Wort zurückkehrt. Ich sehe vor mir Martin Buber auf dem jüdischen Friedhof zu Worms. Bei ihm stehen ein katholischer Dogmatiker und ein evangelischer Theologe. Alle drei schauen hinüber zum Dom. Martin Buber sagt zu seinen Gefährten: "Der Dom ist, wie er ist. Der Friedhof ist, wie er ist. Aber gekündigt ist uns nicht worden." Seine christlichen Begleiter antworten: "Du sagst es: Israel ist von seinem Herrn und Gott nicht gekündigt worden."
Anmerkungen
1) vgl. N. Lohfink, Der niemals gekündigte Bund. Exegetische Gedanken zum christlich-jüdischen Gespräch, Freiburg 1989, 21.
2) Zitiert nach: Theologische Blätter 12 (1933) 272f. Das Zwiegespräch ist ebenfalls dokumentiert (und kommentiert) durch P. von der Osten-Sacken, Begegnung im Widerspruch, in ders. (Hg)., Leben als Begegnung. Ein Jahrhundert Martin Buber (1878-1978). Vorträge und Aufsätze, Berlin 1978, 116-144. Siehe auch die dort angegebene Literatur und: H. H. Ben-Sasson, Artikel "Disputations and Polemics", in: Encyclopaedia Judaica. Volume 6 (Jerusalem 1978), 79-103. Sowie G. Sauer, Eine gemeinsame Sprache der Hoffnung?: Evangelische Theologie 42 (1982) 152-171.
3) Vgl. P. Lenhardt, Auftrag und Unmöglichkeit eines legitimen christlichen Zeugnisses gegenüber den Juden, Berlin 1980, 102.
4) Zitiert nach: S. Mayer, Neueste Kirchenrechts-Sammlung. Erster Band 1917-1929, Freiburg 1951, 230. Vgl. AAS 20 (1928) 103f; J. Levie, Décret de suppression de l'Association des "Amis d'Israel: Nouvelle Revue Théalogique 55 (1928) 532-537.
5) So nach M. Greschat, Der Bundesgedanke in der Theologie des späten Mittelalters: ZKG 81 (1970) 44-63, 45.
6) J. Feiner und M. Löhrer (Hg.), Mysterium Salutis. Grundriß heilsgeschichtlicher Dogmatik. Band I bis V, Zürich, Einsiedeln, Köln 1965 bis 1976.
7) Diese Auseinandersetzung folgt dann wie im Stenogramm durch D. Wiederkehr in: M. Löhrer / Chr. Schütz / D. Wiederkehr (Hg.) Mysterium Salutis. Ergänzungsband - Arbeitshilfen und Weiterführungen, Zürich/Einsiedeln/Köln 1981, 253f.
8) G. Kraus, Artikel "Bund", in: W. Beinert (Hg.), Lexikon der katholischen Dogmatik, Freiburg 1987, 46-49, Zitat 48.
9) Zum hier angesprochenen Problem siehe nur das Themenheft "Jews, Christians and Liberation Theology" in: Christian Jewish Relations 21 (1988) Nummer 1 sowie H. H. Henrix: Erbe und Auftrag 66 (1990) 198f; H. Brandt, Die Benutzung des Judentums in der Befreiungstheologie: Ökumenische Rundschau 39 (1990) 424-439 und H. Goldstein, Hermeneutik der Befreiung. Theologie der Befreiung und Antijudaismus (unveröffentlicht, 1994).
10) W. Kern / H. J. Pottmeyer / M. Seckler (Hg.), Handbuch der Fundamentaltheologie, 1 bis 4, Freiburg 1985 bis 1988 (H. Merklein, in: 2, 145-174; H. Waldenfels, in: 2, 246-248; G. Lohfink, in: 3, 49-96). In den von G. Lohfink vorgezeichneten Linien verbleibt auch Medard Kehl, der die Ungekündetheit des Alten Bundes deutlich unterstreicht, aber zugleich eine starke Finalität auf den Christus-Bund herausarbeitet: Die Kirche. Eine katholische Ekklesiologie, Würzburg 1992.
11) Th. Schneider (Hg.), Handbuch der Dogmatik. Band 1 und 2 Düsseldorf 1992. Die Ekklesiologie S. Wiedenhofer findet sich in Band 2, 47-154, seine Skizze vh="6quot;Judentum und Kirche" 118f. Gegenüber den pragnanten Aussagen Wiedenhofers wirken die Reflexionen J. Werbicks eigenartig zaudernd und schwankend; möglicherweise hängt dies am Entscheid für den Volk-Gottes-Begriff als ekklesiologischer Leitkategorie für die Reflexionen zum Verhältnis von Kirche und Israel: Kirche. Ein ekklesiologischer Entwurf für Studium und Praxis, Freiburg 1994, 45-75, 80-84, 97 u. ö.
12) H. Waldenfels, Kontextuelle Fundamentaltheologie, Paderborn 1985.
13) F.-W. Marquardt, Von Elend und Heimsuchung der Theologie. Prolegomena zur Dogmatik, München 1988; siehe die ausführliche Würdigung dieser Dogmatik bei H. H. Henrix, Vom Dialog zur Dogmatik: Kirche und Israel 4 11989) 66-72.
14) F.-W. Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Eine Christologie. Band 1 und 2, München 1990 und 1991.
15) Vgl. nur den Dokumentationsband im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz: R. Rendtorrf / H. H. Henrix (Hg.), Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945 bis 1985, Paderbom/München 1989, 746 Seiten.
16) So mit F.-W. Marquardt, Von Elend und Heimsuchung, 396.
17) Zitiert nach: R. Rendtorrf / H. H. Henrix, 42.
18) Ebenda,141.
19) Ebenda, 151, die nachfolgenden Zitate: 152f.
20) Vgl. nur die Texte ebenda,157,159,161,163,176, 207f, 222.
21) Vgl . nur ebenda, 431, 502, 508, 569, 594, 617.
22) Text ebenda, 74-77, Zitate 75f.
23) Ebenda, 77-80,78.
24) Ebenda, 92-103, 94. Siehe den Versuch der Einführung und Analyse zu diesem Vatikanischen Dokument durch H. H. Henrix in: Hinweise für eine richtige Darstellung von Juden und Judentum in der Predigt und in der Katechese der katholischen Kirchen - 24. Juni 1985 (Arbeitshilfen 44), Bonn o. J. (1986), 12-44.
25) So bei seiner Ansprache an die Repräsentanten der jüdischen Gemeinden Australiens am 26. November 1986 in Sydney (siehe: Information Service N. 64, 1987, 70f) oder an die jüdische Gemeinde von Brasilia am 15. Oktober 1991 (siehe: L'Osservatore Romano. Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 4 vom 8. November 1991, S. 11).
26) Katechismus der Katholischen Kirche, München u. a. 1993, 68 und 250. In Spannung zu dieser Aussage stehen freilich andere Aussagen des Katechismus vgl. nur Nr. 580, 710 oder 762 (S. 179, 218 oder 229). Der neue Katechismus hat jüdischerseits ein doppeltes Echo von Anerkennung und Kritik erfahren, siehe nur: L. Klenicki, Der Katechismus der katholischen Kirche mit jüdischen Augen gelesen: Una Sancta 49 (1994) 246-255.
27) Vgl. auch die Analyse der Israellehre von Papst Johannes Paul II. durch E. Fisher, Pope John Paul II's Pilgrimage of Reconciliation: A Commentary on the Texts, in: Pope John Paul II, On Jews and Judaism 1979-1986, Washington 1987, 7-19.
28) So mit N. Lohfink, 53. Vgl. auch F. Mußner, Traktat über die Juden, München 1979, 220f.
29) So mit N. Lohfink, 55-58. Vgl. auch E. Zenger, Das Erste Testament. Die jüdische Bibel und die Christen, Düsseldorf 1991,106ff.
30) So mit N. Lohfink,108.
31) R. Rendtorff / H. H. Henrix, 594.
32) An dieser Diskussion sind insbesondere beteiligt: F. Crüsemann, N. Lohfink, F. Mußner, R. Rendtorff, E. Stegemann und E. Zenger. Siehe die Beiträge und Literaturhinweise: E. Zenger, Der Neue Bund im Alten. Zur Bundestheologie der beiden Testamente (Quaestions disputatae 146), Freiburg 1993; Kirche und Israel 6 (1991) Heft 2 sowie 9 (1994) Heft 1.
33) Diese jüdische Tradition stellt J. J. Petuchowski in seinem Beitrag, "Bekannte und unbekannte Gottesbünde" vor, in: A. Falaturi / J. J. Petuchowski / W. Strolz (Hg.), Universale Vaterschaft Gottes, Freiburg 1987, 13-31. Dieser 1991 verstorbene jüdische Autor wollte die Tradition für eine neue Interpretation öffnen und für seine jüdische Theologie des Christentums umsetzen: "Ohne die ewige Verbindlichkeit des Sinaibundes zu leugnen, kann doch der Jude anerkennen, daß schon die Bibel selbst in der Geschichte vom Noahbund einen Gottesbund mit der gesamten Menschheit darstellte ... Der Sinaibund hat für die jüdische Glaubensgemeinschaft den Noahbund ergänzt, aber nicht aufgehoben. Könnte man nicht in gleicher Weise von dem Kalvarienbund sprechen, der für einen bestimmten Teil der Menschheit den Sianibund zugänglich gemacht hat, ohne ihn damit für Israel aufzuheben?" (28).
34) So mit C. Thoma, Artikel "Bund", in.: J. J. Petuchowski / C. Thoma, Lexikon der jüdisch-christlichen Begegnung, Freiburg 1989, 5640,60.