Der katholisch-jüdische Dialog als fortwährender Prozess

Die Konzilserklärung Nostra Aetate brachte 1965 die kopernikanische Wende im Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum.

Es war die Entdeckung der jüdischen Wurzeln des Christentums und des gemeinsamen geistlichen Erbes. Die Kirche bekannte sich zur jüdischen Abstammung von Jesus, Maria, den Jüngern und ersten Aposteln. Sie verurteilte Rassismus und Antisemitismus und rief zum brüderlichen Gespräch auf.

Nach Jahrhunderten der Entfremdung und der Feindschaft entfaltete sich ein Klima des Vertrauens und des gegenseitigen Respekts. Zahlreiche Dokumente zum jüdisch-christlichen Dialog wurden von 1945 bis 2018 vor allem von christlicher Seite auf nationaler und internationaler Ebene veröffentlicht. Viele dieser Botschaften sind noch an die Basis zu vermitteln. So führte die katholische Kirche in der Schweiz 2011 den Tag des Judentums ein, der alle Christen und Christinnen zur Begegnung mit der jüdischen Mutterreligion einlädt.

Nicht nur eine rückblickende Würdigung der Konzilserklärung brachte das Dokument, das am 15. Dezember 2015 von der Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum veröffentlicht und von dem Präsidenten der Kommission, Kardinal Kurt Koch, unterzeichnet wurde: „Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt“ (Röm 11,29) – Reflexionen zu theologischen Fragestellungen in den katholisch-jüdischen Beziehungen aus Anlass des 50jährigen Jubiläums von Nostra aetate (Nr. 4). Auch neue Akzente und Herausforderungen werden hier formuliert. So wird die Sonderstellung der jüdisch-katholischen Beziehungen innerhalb des interreligiösen Dialogs betont, und es werden die Themen der Heilsuniversalität Jesu Christi, des ungekündigten Bundes Gottes mit Israel sowie des Evangelisierungsauftrags der Kirche im Verhältnis zum Judentum behandelt. Zudem „wird einer Substitutionstheologie der Boden entzogen“: „Während die Kirche am Heil durch einen expliziten oder impliziten Glauben an Christus festhält, stellt sie die […] fortdauernde Liebe Gottes zu seinem auserwählten Volk Israel nicht in Frage“ (Nr. 17). Es wird betont, dass beide Religionsgemeinschaften „im Laufe der Jahre verlässliche Partner und sogar gute Freunde“ geworden seien, die auch Konflikte konstruktiv austragen (Nr. 2).

Nach der jüdisch-amerikanischen Stellungnahme Dabru Emet („Redet Wahrheit!“) vom 11. September 2000 vergingen Jahre, bis in unserer Gegenwart zwei bahnbrechende jüdisch-orthodoxe Erklärungen erschienen: Das rabbinische Dokument To Do the Will of Our Father in Heaven: Toward a Partnership between Jews and Christians (Den Willen unseres Vaters im Himmel tun: Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen) vom 3. Dezember 2015 ermutigt als erste internationale Erklärung von jüdisch-orthodoxer Seite zum jüdisch-christlichen Dialog. Das Christentum wird nicht als „Götzendienst“, sondern als Ausdruck des göttlichen Willens und als Geschenk an die Völker wahrgenommen. Die christliche Anerkennung des Alten Testaments und die Tora-Treue wie Güte Jesu werden hervorgehoben (Nr. 3). Das Verbindende wird herausgestellt: der ethische Monotheismus, die jüdische Heilige Schrift, der Glaube an den Schöpfergott, gemeinsame Werte wie Leben, universelle Liebe, Gerechtigkeit, Freiheit und Friede. Im Blick auf die moralische Verantwortung für die Menschheit sind Juden und Christen „loving partners“, „unwiderrufliche Partner“, und sie sind trotz erheblicher theologischer Unterschiede verbunden als Partner bei der Welterlösung.

Am 1. Februar 2017 folgte die jüdisch-orthodoxe Erklärung Between Jerusalem and Rome. Reflections on 50 Years of Nostra aetate (Zwischen Jerusalem und Rom. Reflexionen über 50 Jahre von Nostra aetate), die durch ihre Autoren- und Trägerschaft, die Europäische Rabbinerkonferenz und das Rabbinical Council von Amerika, eine hervorragende Bedeutung besitzt. Als erste offizielle Erklärung rabbinischer Organisationen auf internationaler Ebene bringt sie eine neue Standortbestimmung zum Christentum und zur jüdisch-katholischen Verständigung. Man plädiert für den Dialog zwischen jüdischen und christlichen Gläubigen, konzentriert sich aber auf aktuelle soziale wie ethische Herausforderungen und hebt die Unterschiede der beiden Glaubenstraditionen hervor. Gewürdigt werden die Verdienste der katholischen Kirche in der Begegnung mit dem Judentum. Das vertrauensvolle Verhältnis der beiden Religionsgemeinschaften soll der friedlichen Zusammenarbeit für die Verbesserung dieser Welt dienen. Gemeinsame Werte und Ziele sind Friede, soziale Gerechtigkeit und Sicherheit, Heiligkeit des Lebens und Achtung der Familie in einer Gesellschaft, die von Säkularismus und Extremismus bedroht ist. Trotz unüberwindbarer theologischer Lehrunterschiede sollen Juden und Katholiken als Partner, Freunde, Brüder und enge Verbündete für das biblische Ethos der Gerechtigkeit eintreten.

Angesichts dieser historischen Fortschritte im katholisch-jüdischen Gespräch löste Joseph Ratzingers Beitrag Gnade und Berufung ohne Reue – Anmerkungen zum Traktat „De Iudaeis“ im Sommer 2018 kontroverse Diskussionen aus. Vor allem seine Aussagen über den Bund Gottes mit Israel und seine Infragestellung einer zusammenhängenden „Substitutionstheorie“ haben internationale Reaktionen und Kritiken hervorgerufen. Allerdings hat der emeritierte Papst in seiner Richtigstellung: Nicht Mission, sondern Dialog im Dezember 2018 in absoluter Deutlichkeit erklärt, dass es keine Mission der Juden gebe, jedoch einen notwendigen Dialog über Jesus Christus.

Dabei sollte man sich an Martin Bubers mutige Stuttgarter Rede aus dem Jahr 1933 erinnern: „Wir beide, Kirche und Israel selbst, wissen um Israel, aber in grundverschiedener Weise. Grundverschiedenheit ist etwas ganz anderes als zweierlei Ansicht […]. Es ist ein grundverschiedenes Sehen oder Wissen.“ In Anerkennung dieser Grundverschiedenheit und des je eigenständigen Wissens kann ein Gespräch im gegenseitigen Respekt gelingen.

Fragen und Herausforderungen bleiben für den jüdisch-katholischen Dialog, der aber heute so gefestigt ist, dass wir dank der partnerschaftlichen Haltung und der „Lehre des Respekts“ (Jules Isaac) auch Irritationen konstruktiv und kommunikativ bewältigen werden. Die Jüdisch/Römisch-Katholische Gesprächskommission wird im Jahr 2019 diesen Diskurs im Austausch mit Kardinal Kurt Koch, mit SBK und SIG fortsetzen. Denn der Dialog ist kein Produkt, sondern immer ein fortwährender Prozess.

Literatur und Internetquellen

Jüdisch/Römisch-katholische Gesprächskommission (JRGK): Eine Wegleitung zum Tag des Judentums in der Schweiz: http://www.bischoefe.ch/fachgremien/juedisch-roemisch-katholisch/tag-des-judentums-2017/wegleitung-tag-des-judentums [07.01.19].

Rolf Rendtorff, Hans Hermann Henrix (Hg.): Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945–1985. Gütersloh 3. Auflage 2001 (1988), 39-44: Nostra aetate.

Hans Hermann Henrix, Wolfgang Kraus (Hg.): Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1985-2000. Paderborn 2000, 974-976: Dabru Emet.

Universität Bonn: Website zum christlich-jüdischen Dialog:

https://www.nostra-aetate.uni-bonn.de/kirchliche-dokumente [07.01.19].

„Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt (Röm 11,29).“: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2015/Vatikandokument-50-Jahre-Nostra-aetate.pdf [07.01.19].

Den Willen unseres Vaters im Himmel tun. Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen (2015):

http://www.jcrelations.net/Den_Willen_unseres_Vaters_im_Himmel_tun__Hin_zu_einer_Partnerschaft_zwischen_Jud.5227.0.html?L=2

[07.01.19].

Zwischen Jerusalem und Rom (2017): http://www.jcrelations.net/Zwischen_Jerusalem_und_Rom__Die_gemeinsame_Welt_und_die_respektierten_Besonderhe.5647.0.html?L=2  [07.01.2019]

Benedikt XVI.: Gnade und Berufung ohne Reue. Anmerkungen zum Traktat „De Iudaeis“, in: IKaZ 47 (2018), 387–406. Siehe: https://www.communio.de/pdf/vorabveroeffentlichung/Communio-Benedikt_XVI-2018.pdf [07.01.19].

Benedikt XVI.: Nicht Mission, sondern Dialog, in: Herder Korrespondenz 12/2018, 13–14.

Zusammenstellung von Pressereaktionen zum Artikel „Gnade und Berufung ohne Reue“ von Benedikt XVI. siehe: https://www.muenster.de/~angergun/ratzinger-communio.html [07.01.19].

Editorische Anmerkungen

Prof. Dr. theol. Verena Lenzen ist Co-Präsidentin der Jüdisch/Römisch-katholische Gesprächskommission der Schweiz (JRGK) und Leiterin des Instituts für Jüdisch-Christliche Forschung der Universitär Luzern.
Quelle: Schweizer Bischofskonferenz.