I. Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik
Die geistige, die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik war wesentlich das Werk jüdischer RemigrantInnen, aber auch hier gestrandeter Juden, eine Gründung, die sich freilich nicht in offiziellen Gründungakten und eindeutigen institutionellen Dokumenten niederschlug, sondern in teils verängstigten, teils sehnsüchtigen, teils verschämten, teils immer wieder bezweifelten Einzelentscheidungen von KünstlerInnen, SchriftstellerInnen, Intellektuellen und PolitikerInnen.
Es war ein eher konservativer Soziologe, Clemens Albrecht, der diesem Umstand schon 1999 in einer umfangreichen, von mehreren Autoren verfassten Studie zur Geschichte der sog. „Frankfurter Schule“ prägnanten Ausdruck verlieh – im Ausblick seiner Studie würdigt er das Werk Theodor W. Adornos und Max Horkheimers:
„Als Juden, Remigranten, Sozialwissenschaftler und Linksintellektuelle gab es neben ihnen kaum andere Intellektuelle, die glaubwürdiger in der Rehabilitierung deutscher geistiger Traditionen waren. Eben weil der Faschismus für Horkheimer und Adorno kein spezifisch deutsches Phänomen ist, war die... Kritische Theorie die einzige Position, durch die ein radikaler Bruch mit dem Faschismus ohne Bruch mit der eigenen kulturellen Identität möglich war.“
Doch waren es nicht nur – hier sieht Albrecht etwas zu kurz – Horkheimer und Adorno, denen wir die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik verdanken. Die Weimarer Moderne und die Erfahrung von Verfolgung und Ausgesetztheit hat auch das Werk all jener, die die frühe Bundesrepublik geistig formten, geprägt. So ist aus dem literarischen, wissenschaftlichen und filmisch-dramatischen Werk der vor oder um 1920 Geborenen - etwa der Lyrikerin und Romanautorin Hilde Domin, des Kritikers Marcel Reich-Ranicki, des Filmautors Peter Lilienthal, der Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer und Edgar Hilsenrath, der Theaterregisseure Peter Zadek und George Tabori, der schon erwähnten Philosophen Theodor W.Adorno, Max Horkheimer und Ernst Bloch , von Michael Landmann und Werner Marx, des Soziologen Alphons Silbermann, des Publizisten Ralf Giordano, des Literaturwissenschaftler Hans Mayer sowie des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer – er setzte den ersten Auschwitzprozeß 1963/64 in Gang - die Erfahrung erzwungener Emigration, von Verfolgung und Vernichtung nächster Angehöriger nicht wegzudenken. Diese Erfahrungen prägten ihr Werk genauso tief wie die Schriften des aus Österreich stammenden Auschwitzhäftlings Jean Amery, der seine Werke nicht zufällig in der Bundesrepublik und nicht in seinem Geburtsland Österreich drucken ließ, um in Belgien zu leben, ohne indes den Willen, ein Leben nach der Folter beliebig lange fortzusetzen.
Es waren remigrierte Politologen, die der jungen Bundesrepublik ein Selbstverständnis als verfasster, pluralistischer Demokratie gaben: Ernst Fraenkel, Richard Löwenthal und Franz Neumann sowie – einem naiven Blick stets abhold – Ossip Flechtheim, der an einer demokratisch – sozialistischen Option festhielt. Aber auch eine nach 1945 wieder erstehende Wissenschaft vom Judentum verdankt zurückgekehrten Jüdinnen und Juden außerordentlich viel: eine Neugründung dieses Faches hätte es ohne Jacob Taubes und Marianne Awerbuch nicht gegeben; zu erinnern ist auch an Adolph Leschnitzer, der bereits 1955 in Berlin die erste Honorarprofessur für die „Geschichte des deutschen Judentums“ erhielt, sowie an Hans Joachim Schoeps und Joseph Wulf, an Heinz Mosche Graupe und Stefan Schwarz. Nicht übergehen will ich auch Pädagogen und Erziehungswissenschaftler: ich nenne nur Max Fürst, der uns ein anschauliches Bild der jüdischen Jugendbewegung in Weimar hinterlassen hat und an der Odenwaldschule wirkte, an Ernst Jouhy, der nach einer Tätigkeit in der französischen Resistance ebenfalls Lehrer an der Odenwaldschule und dann Professor in Frankfurt wurde – ebenso wie an Berhold Simonsohn, der nach leidvoller Haft in Theresienstadt und Jahren aktiver jüdischer Sozialarbeit als Professor in Frankfurt zum Wiederbegründer der psychoanalytischen Pädagogik in Deutschland wurde.
Nicht zuletzt gehört Paul Celan, der für die Lyrik im Nachkriegdeutschland bestimmend wurde, dieser deutschprachig-jüdischen Kultur an, wenngleich der aus Czernowitz stammende Dichter ein Heimatloser war und blieb. Zu erwähnen sind nicht zuletzt die Schauspieler und Regisseure Fritz Kortner, Ernst Deutsch und Ida Ehre, Therese Giehse und Kurt Horwitz. Schließlich hätte die Kultur der frühen DDR ohne die Präsenz der Schriftsteller Anna Seghers, Arnold Zweigs und Stephan Hermlins, der Publizisten Alfred Kantorowicz, des Wirtschaftshistorikers Jürgen Kuczynski und des schon erwähnten Ernst Bloch kaum je das verheißen können, was sie wenigstens für einige auch im Westen anfangs attraktiv sein ließ.
Indes: verdient ihre Erfahrung und ihr Denken wirklich das Prädikat jüdisch – wird mit solcher Kennzeichnung nicht eben das wiederholt, was rassistisches und ethnizistisches Denken auszeichnet, denn: und das dürfte die geistige Physiognomie all der oben genannten doch kennzeichnen: religiöse Juden im engeren Sinne waren sie allesamt nicht. Und gleichwohl war es die Erfahrung der Verfolgung oder eben auch der nur zufälligen Verschonung, die sich tief in das Werk der Zurückgekehrten eingeschrieben hat, eine Einschreibung, ohne die das Werk der zurückgekehrten Remigranten und Überlebenden wirklich nicht mehr als nur eine schlichte, iterative Fortschreibung der Weimarer Moderne gewesen wäre. Zwischen dieser Moderne jedoch und der Gegenwart der neugegründeten Bundesrepublik stand das Feuer: das Feuer der Scheiterhaufen, auf denen nationalsozialistische Studenten im Mai 1933 alle Zeugnisse einer humanen, progressiven Kultur, die Bücher liberaler, linker und jüdischer Autoren verbrannten, zu Asche werden liessen, das Feuer, das die Synagogen Deutschlands zerstörte, ganz zu schweigen vom Feuer der Krematorien der Konzentrations- und Vernichtungslager.
II. Rückblende und Ausblick
Erlauben Sie eine Rückblende – zunächst ins Jahr 1968.Theodor W. Adornos Vorlesung begann in der ersten Juliwoche des Jahres 1968 ungewöhnlich. Der ansonsten aller Sentimentalität abholde Philosoph bat die Studenten, sich zu einer Schweigeminute zu erheben, Fritz Bauer sei gestorben. Theodor W. Adorno, er war damals gerade 50 Jahre alt, war im Herbst nach des Jahres 1953 nach Deutschland zurückgekehrt, in ein Land, von dem er später sarkastisch sagen sollte, daß, wer im Hause des Henkers vom Strick rede, Ressentiment beweise.
Im Willen zur Aufklärung der Gesellschaft wiederum beglaubigte der in den späten vierziger Jahren nach Westdeutschland zurückgekehrte Fritz Bauer seinen ihm immer wieder zu Unrecht abgesprochenen Patriotismus. Aller entstandenen Fremdheit und aller empfundenen Anfeindung als Jude zum Trotz bekannte sich der zunächst niedersächsische, dann hessische Generalstaatsanwalt zu einem, zu seinem Deutschland, dem er treu blieb, obwohl es ihn verfolgt und drangsaliert hatte. So bezog er – der verfolgte und verjagte Jude – sich in das Kollektiv der Deutschen, auch jener, die unerträgliche Verbrechen begangen hatten, schonungslos mit ein. In einem 1965 gehaltenen Vortrag zum Thema „Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns“ stellte er unmißverständlich fest: „Bewältigung unserer Vergangenheit“ heißt „Gerichtstag halten über uns selbst, Gerichtstag über die gefährlichen Faktoren in unserer Geschichte, nicht zuletzt alles, was hier inhuman war, woraus sich zugleich ein Bekenntnis zu wahrhaft menschlichen Werten in Vergangenheit und Gegenwart ergibt.“
Theodor W. Adorno, der 1968 Bauers öffentlich gedenken wollte, hatte die Frage nach der Vergangenheitsbewältigung in Nuancen anders beantwortet. Ebenso alt wie Bauer, verbrachte er die letzten Jahre der Weimarer Republik nicht wie Bauer unmittelbar an der politischen Front, sondern wirkte seit 1927 am Frankfurter „Institut für Sozialforschung“ und habilitierte sich dort 1931 mit einer Arbeit über den christlichen Existenzdenker Kierkegaard. Trotz dieser so unterschiedlichen Herkünfte kam Adorno 1959 in einem Vortrag vor der „Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit“ zu einer ähnlichen Auskunft über die Ursachen des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen wie Bauer, als er feststellte, daß der Faschismus nicht aus subjektiven Dispositionen erklärbar sei, sondern es die ökonomische Organisation der Gesellschaft sei, die die Menschen in Abhängigkeit, Unmündigkeit und Anpassung halte. Aber sogar Adorno fiel es schwer, sich zu dem, was man als „Auschwitz“ bezeichnete, zu äußern und es gelang ihm erst 1966, in der „Negativen Dialektik“, nicht nur über Antisemitismus und Totalität im Allgemeinen, sondern über die Vernichtungslager im besonderen zu schreiben.
Für Adorno bedeutete „Auschwitz“ bekanntlich das Scheitern aller Kultur, eine zutiefst schockierende Einsicht, die ihn gleichwohl nicht davon abhalten konnte, über die Ursachen dieses unvordenklichen Verbrechens nachzudenken. Adorno, das läßt sich seinem 1966 gehaltenen Rundfunkvortrag „Erziehung nach Auschwitz“ entnehmen, muß – und sei es auch nur über entsprechende Zeitungslektüre – den Verhandlungen des Prozeßes gefolgt sein. Der für seine Verhältnisse optimistische Schluß dieses Vortrages erwähnt Namen der Angeklagten mit einer gewißen Geläufigkeit: „Ich fürchte“ so schließt der Vortrag „durch Maßnahmen einer noch so weit gespannten Erziehung wird es sich kaum verhindern lassen, daß Schreibtischmörder nachwachsen. Aber daß es Menschen gibt, die unten, eben als Knechte das tun, wodurch sie ihre eigene Knechtschaft verewigen und sich selbst entwürdigen; daß es weiter Bogers und Kaduks gebe, dagegen läßt sich durch Erziehung und Aufklärung ein Weniges unternehmen.“
Im Vergleich dazu war Fritz Bauer von größerem Zutrauen erfüllt und zwar genau deshalb, weil er – anders als der weltläufige Adorno - eben nicht nur den von ihm unter dem Druck des Kalten Krieges als „verwaltete Welt“ oder „ökonomische Organisation“ bezeichneten Kapitalismus im Allgemeinen untersuchte, sondern sich auf die deutsche, auf seine deutsche Geschichte einließ. In einer Ansprache vor evangelischen Theologen unternahm er sogar den Versuch, Mut gegenüber der Obrigkeit ausgerechnet unter Rückgriff auf Martin Luther zu begründen:
„In Jerusalem“ so Bauer „sitzt sicher ein Teil deutscher Geschichte und vielleicht auch deutscher Gegenwart auf der Anklagebank, nämlich ein bestimmtes obrigkeitsstaatliches Denken und Handeln der Beamten und Bürger, eine blinde Staatsgläubigkeit und Staatsvergötzung, knechtselige Unterwürfigkeit, Angst vor der Obrigkeit und Überheblichkeit nach unten und Aggressivität, Herden- und Hordenmentalität. Formalismus und Technokratentum.“
Theodor W. Adorno und Fritz Bauer... Es waren – um nur zwei von vielen Namen zu nennen – zufällig überlebende, einzelne, vereinzelte und auch einsame Remigranten, die – wie der Politologe Clemens Albrecht zu Recht behauptet - die Bundesrepublik Deutschland intellektuell gegründet haben. Die jüdischen Remigranten aber, die diesem Staat, dem demokratischen Rechtsstaat, unserer Republik, sein heutiges, humanes Selbstverständnis, gaben, sie litten alle an Deutschland und konnten doch nicht von ihm lassen. Adorno und Bauer – sie waren keineswegs die einzigen, die der Bundesrepublik den Weg nach Westen, in eine demokratische Zukunft ebneten.
Indes: Wie konnte, wie sollte sich 1945 die sich selbst mit einem Prophetenwort als „Shearit ha Plejta“ bezeichnende, zufällig im Westen Deutschlands gestrandete Gruppe von Überlebenden und Entwurzelten, Menschen, denen diese deutsch-jüdische Tradition zum großen Teil völlig fremd gewesen ist, zu dieser deutsch-jüdischen Tradition verhalten, welche Chance hatten Juden im Nachkriegs-deutschland überhaupt, ein symbolisch artikuliertes Selbstverständnis zu entwickeln und damit auch einen Beitrag zur Kultur der Bundesrepublik im allgemeinen zu schaffen? Die Frage ist falsch gestellt: Tatsächlich haben Jüdinnen und Juden haben die Kultur der nachnationalsozialistischen Bundesrepublik von ihren ersten Tagen an geformt, auch wenn sich die Verfolgung unauslöschlich in ihr Werk eingeschrieben hat.
Auch wäre die Kultur der frühen DDR andererseits ohne Anna Seghers und Arnold Zweig, ohne Alfred Kantorowicz und Ernst Bloch nicht das geworden, was sie wenigstens für einige auch im Westen attraktiv machte.
Von ihnen allen, die ich nannte könnte freilich noch gelten, daß sie gar kein Teil der bundesrepublikanischen bzw. der DDR Kultur, sondern „lediglich“ letzter Ausdruck, ja Nachklang der deutsch-jüdischen Kultur der Vorkriegszeit gewesen sind. Die nach dem Krieg vor allem in der Bundesrepublik entstandene jüdische Gemeinschaft hat – ich deutete es an - mit dem Vorkriegsjudentum nichts mehr zu tun. In ihren Anfängen aus wenigen deutsch-jüdischen Überlebenden und vor allem aus in die Westzonen versprengten polnisch-jüdischen Überlebenden der Vernichtungslager, sogenannten displaced persons, zusammengesetzt, verfügte sie - wenn Überhaupt - über die Traditionen eines orthodoxen bis assimilierten, von allgemeiner weltlicher Bildung schon alleine aufgrund der zerstörten Bildungsbiographien weit entfernten polnischen Judentums, dessen Sprache auch noch in Deutschland oft genug jiddisch war. Die Kinder dieser Generation waren es, die die erste originäre Welle jener Kultur schufen, die nicht mehr als deutsch im Allgemeinen, sondern als Kultur der bundesrepublikanischen Juden gelten darf.
Wir aber, die wir heute von den Anstrengungen Adornos und Bauers, von Hilde Domin und Margarete Susman zehren, können nur noch schwer nachvollziehen, welch seelischen Schmerz die Remigranten in diesem Lande zu erdulden hatten und wie sehr ihnen dabei die eigene Existenz unheimlich wurde, so unheimlich, daß sie sich gelegentlich als Gespenster fühlten: „Zur Vergeltung“ so schreibt Adorno über die „Schuld des Verschonten“ in der „Negativen Dialektik“ „suchen ihn Träume heim wie der, daß er gar nicht mehr lebte, sondern 1944 vergast worden wäre, und seine ganze Existenz danach lediglich in der Einbildung führte, Emanation des irren Wunsches eines vor zwanzig Jahren Umgebrachten.“
Gleichwohl: Es war ein deutscher Jude, der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der – wie erwähnt - den von ihm initiierten Franfurter Auschwitzprozeß unter die Devise „Gerichtstag halten über uns selbst“ stellte und mit ihm freiheits- und menschenfeindliche Traditionen deutscher Kultur überwinden wollte. Dabei war es keineswegs selbstverständlich, daß sich ein erst im KZ inhaftierter, dann in die Emigration vertriebener deutscher Jude knapp zwanzig Jahre nach dem Ende des Mordens zum politischen Kollektiv der Deutschen – eben zu „uns“ - bekannte. Patriotisch handelte in diesem Sinne nicht nur Fritz Bauer, sondern auch die Philosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, der Religionswissenschaftler Hans Joachim Schöps, die Dichterin Hilde Domin, die Philosophin Margarete Susman, der Theatermann Fritz Kortner sowie die Politiker Herbert Weichmann, Jeannette Wolff und Josef Neuberger; Jüdinnen und Juden allesamt, die sich nicht von Hitler vorschreiben lassen wollten, ob sie Deutsche sind oder nicht. Sie alle haben, mehr oder minder ausdrücklich, für den Aufbau einer demokratischen Kultur und Gesellschaft in Deutschland Unschätzbares geleistet. Auch die wenigen bekennenden jüdischen Intellektuellen der DDR, z.B. die Philologenfamilie Simon, der Autor Stefan Heym, der verstorbene Historiker Helmuth Eschwege, aber auf ihre Weise auch Victor Klemperer, sowie die Jüngeren: die Soziologin Irene Runge, der Philosoph Vincent von Wroblewsky und dem seinerzeit zwischen Ost und West oszillierenden Wolf Biermann haben dieses land vor und nach seiner Vereinigung geprägt.
Und wir? Wir, die heute sechzig- und siebzigjährigen, was hatten wir vor diesem allzu beeindruckenden Panorama noch beizutragen? Die deutsche, unsere heutige Situation zeichnet sich dadurch aus, daß jüdischer Kultur entweder etwas unaufhebbar Museales oder das Zeichen des Epigonalen anzuhaften scheint. Tatsächlich dürfte es uns heutigen jedoch auch ohne den Aderlass von Entrechtung, Vertreibung und Vernichtung durch die Nationalsozialisten schwer fallen, das Niveau und die Intensität dessen zu erreichen, was gemeinhin als deutsch-jüdische Symbiose bezeichnet wird und durch die schon erwähnten Namen von Dichterinnen und Schriftstellern wie Heinrich Heine, Rahel Varnhagen, Berthold Auerbach, Jakob Wassermann oder Kurt Tucholsky, von Malern wie Lesser Ury oder Max Liebermann, von Philosophen wie Hermann Cohen, Franz Rosenzweig oder Martin Buber in seinem Reichtum und seiner Fülle nur unzureichend gekennzeichnet ist.
Gleichwohl: auch diese Generation jüdischer Intellektueller hat ihren beitrag erbracht:angefangen bei dem Polemiker Henryk Broder über die Historiker und Soziologen Dan Diner, Michael Bodemann, Julius Schoeps sowie Michael Wolffsohn, den Regisseuren Benjamin Korn und Aryeh Zinger bis zu den Schrifstellerinnen Barbara Honigmann, Viola Roggenkamp, Irene Dische, Ester Dischereit sowie der aus Bagdad stammenden Mona Yahia bis zu Intellektuellen wie Cilly Kugelmann, Edna Brocke, Salomon Korn und Rachel Salamander, aber auch zu populären Autoren wie Rafael Seligmann und Lea Fleischmann - wir waren bei allen bedeutsamen Debatten der alten Bundesrepublik über ihr Verhältnis zur nationalsozialistischen Vergangenheit mit dabei, wir haben mit wechselnden Interventionen – von der Zeit der Studentenrevolte bis zum Aufstieg der Grünen – unsere nichtjüdischen Generationsgenossen begleitet und immer wieder provoziert..
Dabei zehrten wir von der Marginalität eines nonkonformistischen Blicks auf unser oft erstarrtes jüdisches Milieu und eine von uns wesentlich als verlogen erfahrene deutschen oder auch jüdischen Gesellschaft. Doch auch wir, wie unsere nichtjüdischen Generationsgenossen unter den Intellektuellen hatten unsere Zeit und heute lässt sich das Wirken einer jüngeren Generation jüdischer Intellektueller beobachten. So sind es heute sind die Vierzigjährigen, unter ihnen Literaten und Journalisten wie Maxim Biller und Richard Schneider, wie der Leiter des Instituts fÜr Jüdische Geschichte an der Universität München, Michael Brenner, der Duisburger Geschichtsprofessor Stefan Rohrbacher, der Heidelberger Religionsphilosoph Daniel Krochmalnik oder die feministische Publizistin Elisa Klapheck dabei, im kritischen Blick auf die deutsch-jüdische Geschichte neue Fundamente zu legen.
Heute steht die in sich vielfältige jüdische Gemeinschaft vor der Herausforderung, unter Rückbesinnung und Neuinterpretation der vor allem religiösen Quellen des Judentums, das Selbstverständnis der pluralistisch gewordenen Bundesrepublik mitzugestalten. Ohne Aufgabe der emotionalen Beziehung zum Staat Israel Israel sowie agesichts eines über die Generationen denn doch nachlassenden Traumas, und im nicht mehr ganz so sicheren Bewusstsein, auch ohne ethnischen Konnex zur deutschen Gesellschaft zu gehören, bildet sich heute eine jüdische Kultur, die schon alleine deshalb nicht genau zu beschreiben ist, weil die sowjetisch – jüdischen Immigranten, ihre höchst eigentümlichen Erfahrungen noch kaum artikuliert haben.
Die ironische und fiebrige Großstadtprosa des Berliner Kultautors Wladimir Kaminer etwa könnte uns bei einer zweiten Lektüre vielleicht doch mehr über zeitgenössisches Judentum denn über die nach postmoderne Popszene im wiedervereinigten Berlin lehren.
Wenn nicht alles täuscht, wird die Zukunft jüdischer Kultur auf der Schnittstelle stets schmerzhaften Eingedenkens an die unwiederbringlichen Verluste der Shoah sowie einer unter vielen Stimmen ganz unterschiedlicher ethnischer und religiöser Gruppen in der Immigrationsgesellschaft der Bundesrepublik liegen. Damit könnte jüdische Kultur auf einzigartige Weise die schuldhafte, nationalsozialistische Vorgeschichte der Bundesrepublik mit ihrer hoffentlich liberalen, weltoffenen, wenn auch gewiß nicht konfliktfreien Zukunft verbinden. Ein Beispiel dafür sind – und damit will ich enden – die aus der exsowjetischen Immigration kommenden Autorinnen wie Olga Grasnjowa, Jg. 1984 J.g. 1970, Katia Petrowskaja und Elena Gorelik, Jahrgang 1981. Mich hat von diesen drei Frauen Katja Petrowskaja am meisten beeindruckt. Die Schriftstellerin und Publizistin Katja Petrowskaja wurde 1970 in Kiew geboren, lebt heute als Mutter einer Tochter in Berlin und erhielt im vergangenen Jahr einen der wichtigsten Literaturpreise für deutsche Literatur, den vor allem dem literarischen Nachwuchs gewidmeten „Ingeborg Bachmann Preis“. Ihr Buch „Vielleicht Esther“ stellte eine literarische Spurensuche dar, ein Gedächtnisabenteuer, das die Autorin in das verzweigte Gewebe einer jüdisch-polnisch-russisch-österreichischen Familie durch das „Jahrhundert der Extreme“ – so der Historiker Eric Hobsbawm – und durch die von einem anderen Historiker, Timothy Snyder, beschriebenen „Bloodlands“, also durch die von Hitler und Stalin gepeinigten Länder der Ukraine und Weißrußlands führt. So wird ihr Buch zur Schilderung einer geschichtlichen Erfahrung, aber auch zum Nachdenken darüber, was es heißen kann, Geschichte zu erfahren:
„Als Lida, die ältere Schwester meiner Mutter, starb, habe ich begriffen, was das Wort Geschichte bedeutet. Mein Verlangen zu wissen war reif, ich war bereit gewesen, mich den Windmühlen der Erinnerung zu stellen, und dann ist sie gestorben.... Was mir blieb: Erinnerungsfetzen, zweifelhafte Notizen und Dokumente in fernen Archiven. Statt rechtzeitig Fragen zu stellen, hatte ich mich am Wort Geschichte verschluckt. War ich nun erwachsen, weil Lida tot war? Ich fühlte mich der Geschichte ausgeliefert.“
Wir, die jüdische Gemeinschaft, mitsamt ihren marginalen Intellektuellen stehen indes heute vor einer neuen Situation. Mit dem im Jahr 2002 erfolgten Abschluß des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland sowie vor allem mit der im selben Jahr vollzogenen Einweihung der neuen Wuppertaler Synagoge durch den israelischen Staatspräsidenten Katzav und den ehemaligen Bundespräsidenten Rau ist das deutsche Nachkriegsjudentum endlich vom deutschen Staat, vor allem aber von sich selbst anerkannt worden. Unausweichlich stellt sich daher jetzt die Frage, ob man sich weiterhin als fleischgewordenes Denkmal des Holocaust oder als kulturell kreative Minderheit verstehen will. Mit dieser Frage stehen die Juden in Deutschland nicht allein. Es scheint, als befinde sich nicht nur das deutsche, sondern auch das europäische, das nordamerikanische, ja sogar das israelische Judentum heute, bald sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Massenvernichtung sowie mehr als sechzig Jahre nach der Gründung des Staates Israel in einer Phase dramatischer Veränderungen – vom Zionismus zum Postzionismus.