Der Jude Jesus – eine Heimholung in der darstellenden Kunst

Für die Juden in Europa war Jesus als der dogmatisierte Christus lange nichts weiter als ein Symbol christlicher Unterdrückung. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kämpften Juden in Europa um gleiche Rechte und gesellschaftliche Anerkennung. Dies zwang viele, ihre jüdische Identität im Licht der neuen Bedingungen neu zu bewerten. Juden wollten nicht nur nach dem Gesetz, sondern auch de facto gleichberechtigte Bürger sein. Da sie diesen Identitätsfindungsprozess in einer christlich geprägten Gesellschaft durchlebten, stand die Beschäftigung mit Jesus bald auf dem Plan.

Einer der prominentesten jüdischen Denker seiner Zeit, Moses Mendelssohn (1729–1786), äußerte sich in seiner einflussreichen Abhandlung über die philosophischen Gründe für eine Trennung von Kirche und Staat im Jahr 1783 zu Jesus: Jesus habe nie gesagt, er sei gekommen, um die Tora aufzuheben, sondern er habe im Gegenteil nicht nur die schriftliche Tora, sondern auch die Verordnungen der Rabbiner befolgt. Wenn das so ist, dann kann er auch für Juden neu entdeckt werden.

Besonders aufregend war dieser Prozess der Annäherung an Jesus den Juden in einer Ausstellung des Israel-Museums Jerusalem 2018 zu sehen: „Jesus in Israeli Art“ zeigt eindrücklich, wie bildende Künstler im 19. Jahrhundert begannen, aus jüdischer Perspektive auf Jesus zu blicken.[1] Moritz Oppenheim, Maurycy Gottlieb, Mark Antokolsky oder auch Max Liebermann beschäftigten sich in ihrem Ringen um Anerkennung in der europäischen Kunst mit jener Gestalt, die kontrovers zwischen Judentum und Christentum steht und zugleich das Bindeglied zwischen beiden ist: Jesus von Nazareth.

Wie problembeladen diese Auseinandersetzung anfangs gewesen ist, zeigt die Erfahrung des deutschen Impressionisten Max Liebermann (1847–1935). Mit seinem Gemälde „Der zwölfjährige Jesus im Tempel“ löste er im August 1879, noch vor den antisemitischen Hetzparolen eines Adolf von Stoecker oder Heinrich Treitschke, einen Skandal aus.

Denn er zeigte den Jesusknaben in naturalistischer Weise als jungen Juden und verletzte, noch dazu als ein jüdischer Künstler, die Regeln hergebrachter christlicher Ikonographie.[2]

Liebermann vermittelte ein jüdisches Jesus-Bild, wie es zuvor Rabbiner Abraham Geiger oder auch der jüdische Historiker Heinrich Graetz vorgezeichnet hatten. Die öffentliche, von antijüdischen Ressentiments genährte Empörung war so groß, dass sich sogar der Bayerische Landtag mit dem Bild beschäftigte. Deutsches Empfinden, hieß es in der Kritik, sei durch dieses blasphemische Gemälde beleidigt worden. Der Berliner Hofprediger Adolf von Stoecker entrüstete sich so:

Bedenken Sie meine Herren von Israel, dass uns Christus gerade so heilig ist, wie Ihnen Jehova, und Sie müssen unseren Zorn, anstatt zu verdammen, ehren und anerkennen. Wie aber die Berliner Witzblätter, lauter jüdisches Geschmeiß, die christlichen Dinge verhöhnen und verspotten, oft in einer einzigen Nummer der, vier Mal, weiß jeder, der die verderblichen Blätter liest.[3]

In Folge des Sturms der öffentlichen Entrüstung übermalte Liebermann sein Bild, bevor es 1884 noch einmal in einer Pariser Ausstellung zu sehen war. Dank einer erhaltenen Skizze weiß man aber, dass Liebermann ursprünglich einen barfüßigen Knaben mit kurzem, ungekämmtem schwarzem Haar und einem stereotypisch jüdischen Profil dargestellt hatte. In der Skizze spricht der Junge selbstbewusst und mit großer Geste. Das überarbeitete Gemälde wurde dann bis zur Berliner Sezessions-Ausstellung von 1907 nicht mehr gezeigt.

Dieser Vorfall um Max Liebermann, immerhin ab 1920 Präsident der Akademie der Künste Berlin, macht die Schwere der Aufgabe deutlich. Der Dominanz des Christentums und seines triumphalen Anspruchs auf den Besitz der universalen Wahrheit wollten Künstler wie er ein selbstbewusstes Judentum entgegenstellen. Ein Judentum, das sich gegen Antisemitismus behaupten kann und stolz ist auf seine Einzigartigkeit. Ein Judentum, das deshalb Jesus ganz als Teil des Judentums begreifen kann - als jemand, der die Werte des Judentums für die ganze Menschheit zugänglich gemacht hat.

Und dieser Prozess ist nicht auf die Diaspora begrenzt. Maler wie Reuven Rubin (1893–1974) und zeitgenössische israelische Künstler wie Moshe Hoffman (1938–1983), Efrat Natan (*1947) und der Fotograf Adi Nes (*1966) mit seinem „Last Supper“ haben diesen Trend erstaunlicherweise fortgesetzt, sich im Kontext des Staates Israel an das Tabu Jesus gewagt und ihn als jüdischen Bruder zu begreifen versucht.

„Die Begegnung (Jesus und der Jude)“ wurde 1922 von Reuven Rubin gemalt.

Der Künstler stand im Begriff, von Rumänien nach Palästina auszuwandern, als er den Ahasver gleichenden wandernden Juden mit Jesus auf einer Bank sitzend darstellte. Kein triumphierender Jesus, beide sind gezeichnet von ihrem Leiden. Das Thema des Bildes scheint inspiriert vom neoromantischen jiddischen Dichter Itzig Manger (1901–1969) und seiner „Ballade vom Verlausten und Gekreuzigten.“ Da hadert ein Landstreicher mit Jesus: „Wer hat dir gesagt, o Jesus, sag/deine Krone sei heiliger als meine Plag?“ Und Jesus antwortet mit der Anerkenntnis, auch des Landstreichers Schmutz sei heilig, umso mehr noch seine Trauer, sein Leiden.[4]

Jesus selbst durchbricht die Art und Weise, mit der sein Leid jahrhundertelang durch die christliche Umwelt zum Leid des jüdischen Volkes umgemünzt wurde. Im gemeinsamen Leid entsteht eine Solidarität gegen Verfolgung und Antisemitismus. Amitai Mendelsohn geht in seiner Auslegung so weit, zwischen Jesu Auferstehung und der Erneuerung des Jüdischen Volkes im eigenen Staat einen symbolischen Parallelismus zu sehen. Jesus würde zum „regenerated Jew destined to take his place and thereby heal the suffering of the Diaspora!“[5]

Moshe Hoffman wurde 1938 in eine orthodoxe Familie geboren, überlebte den Zweiten Weltkrieg in Budapest und emigrierte nach Israel. 1967 entstand seine Serie „6.000.001“ mit zehn Holzschnitten.

Im ausgewählten Beispiel wird Jesus durch einen Schergen vom Kreuz abgenommen und der Deportation ins Konzentrationslager zugeführt. Er wird buchstäblich zum Opfer schlechthin, und wie bei Reuven Rubin entsteht eine solidarische Linie vom Leiden Jesu zum Leid des jüdischen Volkes. Im Kreuzestod Jesu zeigt sich für Hoffman der Tod des Göttlichen, aber auch das Vertrauen in die Berufung des Menschen zur schöpferischen Gestaltung der Welt.[6] Der Gegensatz zwischen Juden und Christen löst sich auf, die Darstellung macht aber deutlich, dass Jesus zuallererst Jude sei. Damit deckt Hoffman eindrücklich das Versagen der Menschen auf, die sich auf Jesu Lehren beziehen und doch das Volk Jesu stets missachtet und verfolgt haben. Hoffman macht deutlich: Jesu Schicksal ist zutiefst mit dem seines Volkes verbunden. Diese Beziehung ist letztlich inniger als die der Christen zu ihrem vermeintlichen Religionsgründer.

Efrat Natan ist eine Künstlerin, die bereits im Staat Israel geboren wurde, im Kibbutz Kfar Ruppin. Ihre Installation „Roofwork: Golgotha“ (1979 schließt an Reuven Rubins Deutung Jesu als Pionier und Sohn Eretz Israels an.

Das Unterhemd in ihrer Kreuzesgruppe verweist als billiges Kleidungsstück des Alltags auf das sozialistische Ethos physischer Aufbauarbeit unter großer Entbehrung. Jesus und seine Jünger werden in ihrem einfachen Lebenswandel und ihrer Kritik am Materialismus des israelitischen Establishment zur Zeit des Zweiten Tempels quasi zu Vorbildern für die frühen Zionisten, die der Dekadenz Europas den Rücken zukehren, um in Mühsal und Schweiß den jüdischen Staat aufzubauen. Efrat Natan liest die Askese der zionistischen Pioniere und ihr Streben nach Reinheit und Aufrichtigkeit spirituell. Sie untermauert das durch ein Gedankenspiel, in dem sie das hebräische gufiyah (Unterhemd) als guf-yah (Gottes Leib) auffasst. So entsteht eine Verbindung zwischen dem inkarnierten Gott und dem Unterhemd in ihrer Kreuzigungsgruppe.[7]

Der Fotograf Adi Nes knüpft an solche Anleihen christlicher Ikonografie an und beschreitet dennoch neue Wege. Sein bekanntestes Werk „Das letzte Abendmahl“ (1999) lehnt sich offensichtlich an Leonardo da Vincis „Abendmahl“ in Mailand an.

Nes verwendet das Thema und moduliert seine Aussage. In seinem Werk zieht die zentrale Figur eines Soldaten mit Zigarette in der Linken nicht alle Aufmerksamkeit auf sich, wie im Bild Leonardos. Keiner der anderen Soldaten schaut ihn auch nur an. Das Werk entstand 1999, vier Jahre nach der Ermordung Yitzhak Rabins, drei Jahre nach der Wahl Benjamin Netanjahus zum Ministerpräsidenten und ein Jahr vor dem Ausbruch der Zweiten Intifada. Adi Nes greift den Moment vor fatalem Verrat in der Abendmahlsszene auf und deutet damit das Lebensgefühl einer Generation junger israelischer Soldaten, die ihr letztes Mahl einnehmen, bevor sie von ihrer Regierung in den Kampf geschickt werden. Der Soldat im Zentrum sei deshalb isoliert dargestellt, so die in Berlin lebende israelische Kunsthistorikerin Doreet LeVitte-Harten, weil sein Schicksal bereits besiegelt sei: der Tod. Die ihn Umgebenden haben ihn bereits aus ihrem Gedächtnis gelöscht.[8] Diese israelischen Soldaten, der Stolz der Nation, wirken orientierungslos und verloren.

Der gefallene Soldat im Schoß seines trauernden Kameraden (1995) hat gar nichts Heroisches, die Pietà-Szene konzentriert sich ganz auf die Realität des Sterbens in einer politisch verfahrenen Situation.

Diese sind nur einige Beispiele einer ganzen Reihe von Belegen, wie sich jüdische und israelische Künstler fast schockierend freimütig christlicher Motive bedienen. Jesus ist hier schon längst der jüdische Bruder geworden, der nicht wie Jahrhunderte zuvor gegen sein Volk gerichtet wird, sondern in einem Akt der künstlerischen Heimholung als Projektionsfläche jüdischer Identitätsbewältigung dienen kann.

Auch ganz aktuell in Deutschland kann man die künstlerische Auseinandersetzung mit Jesus aus jüdischer Perspektive finden. Die deutsch-jüdische Künstlerin Ilana Lewitan (* 1961) stellt mit ihrem Werk „Adam, wo bist Du?“ 2020 die Frage: „Stellen Sie sich vor, Jesus hätte im Dritten Reich gelebt. Was wäre mit ihm geschehen?“

Für sie ist das Kreuz nicht zuerst christliches Symbol, sondern das, was es ursprünglich gewesen ist: ein Tötungswerkzeug der Römer. Ähnlich den Gaskammern der Nazis im 20. Jahrhundert. Damit löst sich ihr Jesus aus der gewohnten Rezeption. Sie macht sich gar kein Bild von ihm, sondern deutet ihn nur körperlich an in der Hülle der Häftlingskleidung mit dem gelben Stern, die er als Jude getragen hätte auf dem Weg in den Tod. Sie verknüpft auf diese Weise zwei Zeitstränge miteinander: den Beginn seines Wirkens und die Folge christlichen Antisemitismus. Ilana Lewitans Darstellung spitzt zu: Jesus kann man gar nicht ohne sein Judesein verstehen. Ihr Jesus richtet seine Arme klagend auf. Ihr Jesus fragt nicht: „Wo ist Gott?“ Sondern er fragt ganz jüdisch: „Gott, wo ist der Mensch?“ Damit deckt sie das Versagen der Menschen auf, die sich auf Jesu Lehren beziehen, z. B. das Liebesgebot, und doch das Volk Jesu missachten und verfolgen. Sie macht deutlich: Jesu Schicksal ist zutiefst mit dem seines Volkes verbunden (Staatliches Museum Ägyptischer Kunst München, Ausstellung 31.3. bis 25.10.2020).

Dies sind nur wenige Beispiele einer Jesusrezeption darstellender jüdischer Künstler. Sie machen deutlich, wie emotional die Entdeckung eines lang verloren geglaubten Familienmitglieds sein kann und welche Fragen dies für die christliche Gefolgschaft Jesu aufwirft.

Der Schriftsteller Amos Oz hat diese Annäherung sehr schön in Worte gefasst: „Ich verliebte mich in Jesus, in seine Vision, seine Zärtlichkeit, seinen herrlichen Sinn für Humor, seine Direktheit, in die Tatsache, dass seine Lehren so voller Überraschungen stecken und so voller Poesie sind.“[9] Amos Oz ist der Großneffe Joseph Klausners (1874–1958), eines der Pioniere der modernen jüdischen Jesus-Forschung.[10] Amos Oz berichtet, wie er von Klausner inspiriert worden ist:

Als kleiner Junge besuchte ich eine äußerst traditionelle orthodoxe jüdische Schule in Jerusalem. Wir wurden angewiesen, jedes Mal, wenn wir an einer Kirche oder einem Kreuz vorübergingen, unsere Augen abzunehmen und in die entgegengesetzte Richtung zu schauen [...]. Onkel Joseph aber sagte, das dürfe ich niemals tun: ‚Sieh ganz genau hin, denn Jesus war einer von uns, einer unserer größten Visionäre.‘ Ich war schockiert.[11]

Man kann sagen: in der jüdischen Kunst ist die Beschäftigung mit dem Juden Jesus zum Ausdruck einer neuen Freiheit und eines neuen Selbstbewusstseins geworden, das sich der Dominanz des Christentums und seines triumphalen Anspruchs auf den Besitz der universalen Wahrheit entgegenstellt. Man will sich als eigenständige Stimme Gehör verschaffen, man ist in die Rolle eines gleichwertigen Gesprächspartners hineingewachsen.


(Bei obigem Beitrag handelt es sich um das Vorwort von Walter Homolka aus nachfolgend angezeigtem Buch)

Walter Homolka:
Der Jude Jesus – Eine Heimholung
mit einem Vorwort von Prof. Jan-Heiner Tück

Rabbiner Walter Homolka beschreibt in seinem Buch die wichtigsten jüdischen Perspektiven auf Jesus. Trotz der christlichen Unterdrückung, die Juden im Namen Jesu jahrhundertelang erfuhren, setzten sie sich seit jeher mit Jesus auseinander. Homolka diskutiert das wachsende jüdische Interesse am Nazarener seit der Aufklärung und wie Juden Jesus heute sehen, im religiösen sowie kulturellen Kontext. Das Buch zeigt: Im Zentrum der Beschäftigung mit dem Juden Jesus steht das Ringen des Judentums um Authentizität und Augenhöhe. Jesu Verankerung im Judentum bietet eine Herausforderung für Christen heute und die Chance auf fruchtbaren jüdisch-christlichen Dialog.

Herder-Verlag
Freiburg 2020
256 Seiten
Euro 22,-

Editorische Anmerkungen

Rabbiner Walter Homolka ist Professor für Jüdische Theologie an der Universität Potsdam und Rektor des Abraham Geiger Kollegs. Der Chairman der Leo Baeck Foundation ist Direktor des Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerks.