Der Holocaust und die Palästinensische Tragödie

Beide Völker haben ein nationales Unglück ertragen müssen: Die Juden wurden während der Schoa umgebracht, während die Palästinenser von der Katastrophe der Entwurzelung aus ihrer Heimat überwältigt wurden. Dennoch sind die beiden Ereignisse nicht vergleichbar.

Kalman Yaron und Horst Dahlhaus

Der Holocaust und die Palästinensische Tragödie

Der Status von Jerusalem und die Zukunft der palästinensischen Flüchtlinge, die jetzt auf der Tagesordnung stehen, sind die schwierigsten Themen, wenn es um eine dauerhafte Friedenslösung zwischen Juden und Arabern geht, die wohl oder übel nebeneinander im gleichen Land leben müssen. Da die Jerusalemfrage noch besonderer Erläuterungen bedarf, wollen wir sie bei anderer Gelegenheit behandeln. Hier wollen wir einige politische und moralische Abwägungen versuchen — so objektiv, wie es bei diesem gewichtigen Thema möglich und angemessen ist.

Während der Zionismus das Ergebnis von Verfolgung und KZs ist, war der palästinensische Nationalismus ein Ergebnis des schmerzhaften Zusammenstoßes mit dem Zionismus. Beide Völker haben jeweils ein nationales Unglück ertragen müssen: Die Juden wurden während der Shoa umgebracht, während die Palästinenser von der Katastrophe der Entwurzelung aus ihrer Heimat überwältigt wurden.

Die Gründung des Staates Israel im Mandatsgebiet Palästina und der unmittelbar folgende bewaffnete Kampf zwischen Juden und Arabern um den Besitz dieses Landes verursachten eine verhängnisvolle historische Verklammerung zwischen beiden. Sie sind nicht nur über das gleiche Land miteinander verknüpft, um das sie sich bereits über hundert Jahre bekämpft haben, sondern sie sind auch dazu verurteilt, nebeneinander zu leben. Die Bindung an das gleiche Land macht die beiden zerstrittenen Partner zu einer Notgemeinschaft — oder, anders ausgedrückt, zu Blutsbrüdern. Es ist geradezu eine Ironie der Geschichte, dass die Palästinenser nun die frühere Rolle der wandernden Juden übernommen haben, wie sie in den Versen des Poeten Mahmud Darwish zum Ausdruck kommt: »Meine Heimat ist mein Koffer.«

Die Palästinenser halten sich selbst für »die Opfer der Opfer« (also Opfer der Juden), aber sie weigern sich, ihre eigene Verantwortung für ihr Unglück zu übernehmen. Sie erinnern sich nicht daran, dass sie die UNO-Entschließung von 1947 abgelehnt haben, Palästina in zwei Staaten — einen jüdischen und einen arabischen — zu teilen. Sie hätten diesen Vorschlag dem Preis vorziehen sollen, den sie sowohl für ihre gegenwärtige Lage als auch für ihren künftigen Status zu zahlen haben. 1948, als die Araber überzeugt waren, die jüdische Gemeinschaft leicht unterwerfen zu können, riefen sie dazu auf, »die Juden ins Meer zu treiben«. Die Juden schütteln ihre Verantwortung ebenso ab, wenn sie die ganze Schuld für das Elend der Palästinenser auf die Schultern der Araber bürden, während sie vor ihren eigenen Missetaten die Augen verschließen. Man kann hier jedoch kaum zwischen Guten und Bösen unterscheiden, denn sowohl Juden als auch Araber sind Opfer der Umstände, aber auch ihrer Fehleinschätzungen. Sie wurden Opfer ihrer jeweiligen Selbstgerechtigkeit und Böswilligkeit beim Überschreiten der moralischen Grenzlinien und haben dabei dem anderen mehr Unrecht zugefügt, als für das eigene Überleben nötig gewesen wäre.

Die meisten Araber bestreiten die Wahrheit des Holocaust an den Juden, einige rechtfertigen ihn sogar. Der Rektor der palästinensischen Universität von Bir-Zeit bemerkte in einem TV-Gespräch: »Die Deutschen warfen die Juden aus ihrem Land hinaus, nachdem sie Fremdkörper in Europa geworden waren, aber wir, die hier geborenen Palästinenser, wurden von den zionistischen Fremdlingen aus unseren Häusern vertrieben.« Araber, die zugeben, dass die Juden unter den Nazis gelitten haben, weisen darauf hin, dass die Palästinenser nicht verpflichtet seien, den Preis für die Verbrechen anderer zu zahlen.

Vielleicht kann man angesichts des Leides der Palästinenser auch wirklich nicht von ihnen verlangen, sich in das Schicksal ihrer Feinde einzufühlen. Es ist aber auch eine Tatsache, dass die Araber nicht nur den Holocaust mit großer Befriedigung wahrgenommen, sondern sogar mit den Nazis in deren Bemühen zusammengearbeitet haben, zu einer »Endlösung« der Judenfrage zu kommen. Der Großmufti (das religiöse Oberhaupt der Moslems) von Jerusalem, Haj Amin al-Husseini, ging so weit, die moslemischen Truppen in Bosnien zu mobilisieren, um Hitler bei seinem Versuch zu unterstützen, das jüdische Volk zu ermorden.

Der palästinensische Anspruch, als »Opfer der Opfer« zu gelten, ist in diesem Zusammenhang natürlich mehr als abwegig. Ein moralisches Dilemma besteht auch darin, dass sowohl die Juden als auch die Araber keineswegs saubere Hände haben. Den besiegten Palästinensern kam allerdings die Gnade ihrer Unfähigkeit zugute, die Juden zu besiegen, sodass sie sich Sympathien als Benachteiligte erwerben konnten. Die Juden dagegen haben versagt, als sie das Unrecht zuließen, das sie an den Palästinensern begingen, die mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln für ihr Land gekämpft hatten, sogar noch nach dem israelischen Sieg.

Auch wenn die Anklage gegen Israels brutales Vorgehen nicht ganz bestritten werden kann, so ist doch der Vergleich von Gaza und Hebron mit Treblinka und Auschwitz mehr als böswillig. Die Millionen Juden, die von den Nazis vernichtet wurden, hätten ohne jeden Zweifel ihr Schicksal gern gegen das der Palästinenser eingetauscht. Es muss auch noch einmal daran erinnert werden, dass die Juden ja mit keiner Spur die Existenz des deutschen Volkes bedroht hatten, die Araber dagegen offen zu einem Vernichtungskrieg gegen die Juden aufgerufen haben. Trotz der unentschuldbaren Grausamkeiten, die beide Seiten einander angetan haben, sind die Israelis nie für eine Politik der Auslöschung der Araber eingetreten, während diese ganz offen dazu aufgerufen haben, »die Juden zu schlachten«.

Die Leiden der beiden Völker können auf keinen Fall verglichen werden, auch wenn jedes einzelne Opfer auf jeder Seite eine kleine Schicksalswelt in sich darstellt. Das Elend der Palästinenser in den Flüchtlingslagern — so traurig es gewiss ist — kann jedoch auf keiner Skala gegen die industriemäßige Vergasung und Verbrennung von 6 Millionen Juden in den Todeslagern der Nazis aufgewogen werden. Die Entwurzelung von mehr als 700.000 Palästinensern aus ihrem Land (etwa die Hälfte der damaligen arabischen Bevölkerung) — vor allem während des Krieges von 1948 — ist eine Wunde, die bis heute nicht geheilt ist. Allerdings waren nicht nur Juden für das Unglück der Palästinenser verantwortlich, sondern diese selbst, indem sie ihre Brüder aufriefen, das Land bis zu einer kurz bevorstehenden Befreiung zu verlassen. Die Massenauswanderung der Araber aus ihren Wohnorten wurde gefördert von den lokalen Autoritäten, die als erste Palästina verließen und so die palästinensische Gesellschaft entmutigten. Die Massenflucht aus Palästina wurde noch verschlimmert durch die üblen Massaker des Irgun (einer rechtsextremen jüdischen Terrorgruppe) gegen die hilflosen Bewohner des Dorfes Deir-Yasin. Aber die meisten Palästinenser wurden während des Krieges von 1948 von israelischen Soldaten aus ihren Häusern verjagt, weil sie befürchteten, dass sich eine zahlreiche arabische Bevölkerung im jüdischen Staat mit der Zeit zu einer fünften Kolonne entwickeln könnte.

Es gab allerdings nie eine jüdische Verschwörung auf der Grundlage eines detaillierten, auf lange Sicht angelegten zionistischen Generalstabsplanes für einen arabischen Transfer, wie es die Araber behaupten. Diese Argumentation vernachlässigt völlig die ganz ungereimten Maßnahmen des israelischen Militärs gegen die palästinensische Bevölkerung. Das kann etwa mit den Aufforderungen der israelischen Behörden (zum Beispiel Haifas Bürgermeister Abba Hushi) an die Araber im Ort belegt werden, nicht in ihren Häusern zu bleiben. Die Spontaneität der palästinensischen Flucht unterstreicht auch die Tatsache, dass etwa 160.000 Araber nach dem Sieg der Israelis im Lande blieben, dass es ihnen über die Jahre gut ging und dass sie nun die Millionengrenze überschritten haben.

Die Zahl der palästinensischen Flüchtlinge lag 1997 bei etwa acht Millionen. Die Bevölkerung von Westbank und Gazastreifen beträgt über 2,5 Millionen, während die Araber in Israel gerade über eine Million ausmachen. Vier Millionen Palästinenser sind zerstreut über den Mittleren Osten — die größte Anzahl von Palästinensern außerhalb der Grenzen Palästinas hat sich in Jordanien angesiedelt, während Libanon, Syrien, Saudi-Arabien sowie Nord- und Südamerika auch hohe Quoten von arabischen Flüchtlingen aufgenommen haben.

Letzten Endes ist die Kommerzialisierung des Elends der palästinensischen Flüchtlinge zu Propagandazwecken nicht weniger abstoßend als die Missetaten der Israelis. Arabische Heuchelei zeigt sich in dem 52 Jahre andauernden Flüchtlingsproblem, das schon vor vielen Jahren mithilfe des Reichtums der wohlhabenden arabischen Ölstaaten hätte gelöst werden können, wenn sie gegenüber dem Unglück ihres Volkes nicht so teilnahmslos gewesen wären. Die großherzige Aufnahme von mehr als zwei Millionen jüdischen Flüchtlingen in Israel hätte den Arabern als geeignetes Beispiel menschlicher Solidarität dienen können.

Juden und Araber sind beide ganz offensichtlich nicht unschuldig. Das Gemetzel in der jüdischen Gemeinde durch die Bewohner Hebrons schon 1929 — lange bevor das palästinensische Flüchtlingsproblem entstand —‚ das Massaker von 1948 an palästinensischen Frauen und Kindern in Deir-Yasin durch jüdische Fanatiker, die Zerstörung von mehr als 350 arabischen Dörfern durch die Israelis und — auf der anderen Seite: Jordanien machte das jüdische Viertel in Jerusalems Altstadt einschließlich 52 Synagogen absichtlich dem Erdboden gleich. Auch die Ermordung der israelischen Athleten während der Olympischen Spiele von 1972 in München muss noch erwähnt werden; Baruch Goldsteins Maschinengewehrfeuer auf moslemische Gottesdienstbesucher in der Hebroner Machpela- Höhle von 1994 und die gnadenlose Massentötung von unschuldigen israelischen Bürgern in den Straßen und Bussen von Tel Aviv und Jerusalem — nur wenige Beispiele wechsel- seitiger Schandtaten.

Die Juden, die den bitteren Kelch bis zur Neige geleert haben, dürfen jedoch die Wunden, die sie den Palästinensern zugefügt haben, nicht übersehen. Sie müssen ihnen einen fairen territorialen Kompromiss anbieten und sie bei der Lösung des Flüchtlingsproblems in einer Weise unterstützen, die Israels Sicherheit nicht gefährdet. Die Palästinenser dagegen müssen sich für ihren Teil mit der Anwesenheit von Juden im gleichen Land abfinden, indem sie auf ihre Weise die sich bedroht fühlenden Juden zu verstehen versuchen.

Um die Vision von Frieden in die Worte vom Amos Oz zu fassen: »Dies ist unglücklicher- weise die Heimat von zwei Völkern, zum Zusammenleben verurteilt, jedoch werden weder Gott noch Engel vom Himmel herabsteigen, um zwischen den beiden Rechtsansprüchen zu schlichten.« Die Existenz beider begründet die schwierige und herausfordernde Aufgabe, in diesem von beiden geliebten Land Seite an Seite miteinander zu leben.

Editorische Anmerkungen

Quelle: "...denn er ist wie du", Themenheft 2001, hrsg. v. Deutscher Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR), Bad Nauheim.