Der Holocaust, die Erinnerung und das Judentum

Die Theologie ist sich offenbar ihres Zentrums zu gewiß (Christologie; die theologische Wahrheit; die abgeschlossene Offenbarung). Jede historische Krise und mit ihr verbundenes Leid erscheinen allzu schnell aufgehoben im erlösenden Leben, Sterben und Auferstehen Christi.

Rabbi Zwi Hirsch Meisels, einer der wenigen hochangesehenen orthodoxen Rabbiner, die den Holocaust überlebten, berichtet von folgender Begebenheit, die sich in Auschwitz zutrug. Am Vorabend von Rosch HaShanah, dem jüdischen Neujahrsfest, im Jahre 1944 entschied der Kommandant von Auschwitz, nur jene Kinder männlichen Geschlechts im Alter zwischen 14 und 18 Jahren am Leben zu lassen, die groß und kräftig genug waren zum Arbeiten. Etwa 1600 betroffene Jungen, alles Überlebende vorheriger Selektionen, mußten sich auf einem zentralen Platz des Lagers versammeln. Es wurden zwei hölzerne Pfosten in der Erde verankert und eine Latte in einer bestimmten Höhe horizontal an ihnen angebracht. Die Jungen mußten nun alle einzeln unter dieser Latte hindurch gehen. Diejenigen, deren Kopf an die Latte reichte, oder gar überragte, wurden zurück in ihre Baracken geschickt. Alle anderen, die unter der Latte hindurch kamen, wurden in einer speziellen Baracke festgehalten, bewacht von Kapos. Ihre Zahl war um die 1400. Sie erhielten weder Essen noch Trinken, und es war klar, daß sie am Abend des nächsten Tages vergast werden sollten.

Am darauffolgenden Morgen, dem ersten Tag von Rosch HaShana, versuchten zahlreiche Eltern die Kapos zu bestechen, doch ihre Kinder freizulassen. Die Kapos wiesen das zurück, es sei eine genaue Zahl der Selektierten festgehalten und für jeden, der am Abend fehlen sollte, würde einer der Jungen hinzu genommen werden, die die Selektion überstanden hatten.

Unter diesen Bedingungen kam ein Jude, dessen einziger Sohn unter den für die Gaskammer bestimmten Jungen war, zu Rabbi Meisels. Der Vater hatte die Möglichkeit, die Kapos zu bestechen und seinen Sohn zu retten. Aber auch er wußte, daß dafür einer der anderen Jungen anstelle seines Sohnes würde in den Tod gehen müssen. Er fragte Rabbi Meisels um einen definitiven Rat, ob es erlaubt sei, seinen Sohn zu retten auf Kosten des Lebens eines anderen Jungen. Rabbi Meisels weigerte sich zunächst, eine Antwort zu geben. Es seien keine anderen Kollegen da, um sich – wie es der Brauch verlange – mit ihnen zu beraten und ebenfalls stünde ihm keine rabbinische Literatur zur Verfügung, um die Tradition zu befragen, wie in einem solchen Falle zu entscheiden sei. Der Vater aber bedrängte den Rabbi weiter und sprach: "Rabbi, du mußt mir eine endgültige Antwort geben, denn noch ist es Zeit, das Leben meines Sohnes zu retten".

Rabbi Meisels dachte nun, es sei vielleicht erlaubt, wenn die Kapos eventuell doch davor zurückschrecken würden, einen anderen Jungen an die Stelle des Sohnes zu setzen. Andererseits könnten die Kapos natürlich auch aus Furcht vor den Deutschen tatsächlich einen anderen Jungen ersatzweise inhaftieren. Aufgrund diesen Zwiespaltes sah sich der Rabbi letztlich nicht in der Lage, dem Vater eine eindeutige und bindende Antwort zu geben und beschwor den Vater, ihn nicht weiter mit seinen Fragen zu bedrängen. Daraufhin sagte der Vater: "Rabbi, ich habe getan, wozu die Torah mich verpflichtet. Ich habe um halachische (religiös-gesetzmäßige) Unterweisung durch einen Rabbi ersucht. Es gibt keinen anderen Rabbi hier. Wenn du mir nicht sagen kannst, daß ich meinen Sohn auslösen darf, dann ist es offensichtlich, daß du dir selber nicht sicher bist, ob das Gesetz es erlaubt. Denn wenn du sicher wärst, daß es erlaubt ist, du hättest es mir fraglos mitgeteilt. So sind für mich deine Ausflüchte gleichbedeutend mit der klaren Entscheidung, daß es mir verboten ist, so zu handeln. Mein einziger Sohn wird sein Leben verlieren in Übereinstimmung mit der Torah und der Halacha. Ich akzeptiere das Gebot des Allmächtigen in Liebe und mit Freude. Ich werde nichts tun, um ihn auszulösen um den Preis eines anderen unschuldigen Lebens, denn so lautet das Gebot der Torah".

Rabbi Meisels berichtet, daß den ganzen folgenden Tag von Rosch HaShanah über der Vater umherlief, zumeist still und dann immer wieder vor sich hin murmelnd, daß er seinen einzigen Sohn geopfert habe zur Verherrlichung des Namen Gottes – kiddusch haShem, in Übereinstimmung mit dem Willen des Allmächtigen und Seiner Torah. Er betete, daß seine Entscheidung und sein Tun ebenso von Gott angenommen werden möge, wie die Bindung Isaaks durch Abraham, einem zentralen Motiv in der Liturgie von Rosch Hashanah.

Diese Episode aus dem `Königreich der Nacht" – eine der am besten verbürgten, bekanntesten und in der englischsprachigen Literatur meistzitierten Episoden – demonstriert in erschütternder Weise nicht nur die Perfidie der nazistischen Tötungsmaschinerie, sondern dokumentiert vor allem eine der für Juden und Judentum charakteristischsten und typischsten Reaktions- und Verhaltensweisen, die offenbar selbst in der Konfrontation mit einem jedes Maß übersteigenden Mordterror aktuell geblieben waren: die tiefverwurzelte Dominanz religiös geprägter Denk- und Verhaltensweisen.

Zuallermeist ist uns überhaupt nicht bewußt, daß im Rahmen der Vernichtung des europäischen Judentums der Anteil des westeuropäischen und hoch assimilierten Judentums der Zahl der Opfer nach einen geringeren Umfang einnimmt als die Zahl der jüdischen Opfer Osteuropas, die in ihrer überwiegenden Mehrheit dem traditionell-orthodoxen, und damit zutiefst religiösen Judentum des Schtetls entstammte. "Es ist geschätzt worden", schreibt der orthodoxe Rabbiner Irving Greenberg, "daß mehr als achtzig Prozent der Rabbiner, jüdischer Gelehrter und Talmud-Schüler, die 1939 noch lebten, 1945 tot waren. Neunzig Prozent des Osteuropäischen Judentums – das biologische und kulturelle Herzstück des Judentums – wurden vernichtet. Die Nazis suchten nicht bloß Juden, sondern das Judentum selbst [und damit eben auch jüdische Tradition und Religion, C.M.] zu vernichten". Wenn nun also ein beträchtlicher Teil der Juden in den Ghettos und Lagern dem traditionell-religiösen Judentum angehörten, dann ist es keineswegs verwunderlich, daß ihr Denken und Verhalten selbst unter den Bedingungen eines nie zuvor gekannten Terrors maßgeblich von traditionell-religiösen Mustern geleitet wurde.

Das jüdische Volk besitzt ein gleichermaßen reiches wie erschütterndes, nahezu beispielloses Maß an Leiderfahrungen in seiner vieltausendjährigen Geschichte. Bereits die Bücher der hebräischen Bibel, der Torah, legen ein beredtes Zeugnis ab von der oft unerträglichen Bürde eines Volkes, das den einen, allmächtigen Gott, Herrn der Geschichte, verkündet und sich selbst als das von Ihm auserwählte Volk begreift, und bei alle dem immer schon vor der schwierigen Aufgabe stand, das ihnen widerfahrene Leid mit ihrem Glauben überein zu bringen.

Insofern verwundert es nicht, daß von frühester Zeit an, die Auseinandersetzung mit dem Sinn des Leids, dem Sinn der Geschichte – wenn man will: dem Sinn einer leidvoll erfahrenen Geschichte – einen großen Raum einnimmt in den Reflexionen etwa der Propheten und später der Rabbinen.

Diese Verstehens- und Sinndeutungsmuster sind dabei – charakteristisch für das Judentum – nicht nur Reflexionen post factum, sondern zugleich religiös-ethische Handlungsanweisungen, und umgekehrt werden bestimmte religiös-ethische Verhaltensweisen zum Ausgangspunkt von Verstehen und Reflexion. Das heißt, Verstehen und Verhalten gehen hier eine kaum trennbare Symbiose ein.

Die zwei zentralen traditionellen Verhaltensformen und die auf ihnen fußenden Deutungen in der Konfrontation mit dem Leid in und an der Geschichte während der zurückliegenden vieltausendjährigen Geschichte des Judentums sind dabei im wesentlichen: Kiddush haSchem, die Heiligung des Namen Gottes, die jüdische Form des Martyriums, und Mipnej Chata"enu, unserer Sünden wegen geschah..., ein biblisch begründetes Verständnis eines unmittelbaren Tat-Ergehen-Zusammenhangs. Beide dieser handlungsrelevanten und sinndeutenden Muster reichen bis in die irreale Realität der Ghettos und Lager während der Jahre 38-45 hinein, wie etwa die vorhin wiedergegebene Geschichte von Rabbi Meisels belegt. Obwohl wir mittlerweile abertausende gut dokumentierter ähnlicher Beispiele kennen, obwohl also, in einem Satz gesagt, die religiös motivierten Verhaltensweisen und religiös geprägten Verstehens- und Deutungsmuster von Juden während des Holocaust einen zentralen Aspekt des Geschehens insgesamt repräsentieren, spielt er in der Forschung hierzulande nicht die geringste Rolle, so als ob diese Dinge schlicht nicht existierten.

Die Ignoranz der Forschung gegenüber dem Phänomen religiösen Verhaltens auf jüdischer Seite in den Lagern und während des Holocaust findet leider ihre Fortsetzung in der Ignoranz gegenüber den jüdischen Deutungsversuchen und Reflexionen über den Holocaust in den Jahrzehnten nach 1945.

Begibt man sich auf die Suche nach etwas, das man den innerjüdischen Diskurs in der Folge des Holocaust nennen könnte, ein Diskurs, der zeitlich gesehen etwa am frühesten einsetzte, und zugleich einer der bedeutendsten, gewichtigsten und bis heute kontinuierlichsten und in sich geschlossensten innerjüdischen Diskurse um die Deutung und Bedeutung des Holocaust ist, dann kann man zunächst einmal die überaus erstaunliche Entdeckung machen, daß dieser Diskurs nicht ein primär politischer, historischer, philosophischer oder soziologischer, sondern ein betont geschichts-theologischer Diskurs war und ist. Das Ringen mit der "völligen Sinnlosigkeit von Auschwitz", das Nachdenken über eine mögliche Antwort auf all die bedrängenden Fragen nach der jüdischen Identität post Auschwitz und jüdischer Erinnerung an Auschwitz, die Diskussion dieser originär jüdischen Problematik einer Deutung des Holocaust nahm seinen Ausgang und findet zentralen Niederschlag in den Werken der sogenannten "Holocaust-Theologen". Ihre seit Mitte der 60iger Jahre, vornehmlich in den USA kontinuierlich veröffentlichten Arbeiten und Beiträge, hatten eine für die Wahrnehmung und Deutung des Holocaust katalysatorhafte Wirkung zunächst innerhalb des Judentums und späterhin auch in weite Teile der nicht-jüdisch, angelsächsischen Welt hinein.

In ihren Büchern – und noch viel mehr in der lang anhaltenden Debatte um sie – werden die Fragen und Probleme um eine jüdische Identität und die angemessene Form der Erinnerung formuliert und diskutiert. Namentlich zu nennen sind hierbei hauptsächlich: Ignaz Maybaum, Richard Lowell Rubenstein, Emil Ludwig Fackenheim und Eliezer Berkovits – die vier Klassiker unter den Holocaust-Deutern – und in ihrer Folge vor allem dann Arthur Allen Cohen, Irving Greenberg und – mit Einschränkungen – Mark Ellis. Skandalös ist die Tatsache, daß diese intensive, eine Unmenge an Material produzierende, nunmehr 30 Jahre währende innerjüdische Debatte um die Deutung des Holocaust und dessen Relevanz für jüdisches Geschichtsverständnis und jüdische Erinnerung im gesamten deutschsprachigen Raum bisher weder eine nennenswerte Resonanz fand, noch auch nur in Ansätzen rezipiert worden ist. So ist auch keines der umfangreichen und profunden Werke der "Klassiker" der jüdischen Holocaust-Deutung bisher in deutscher Sprache erschienen, von den zahllosen Diskussionsbeiträgen in aberdutzenden von Zeitschriften, Anthologien, auf Konferenzen und Symposien ganz zu schweigen.

Beide Phänomene – jüdische Religiosität in den Lagern und während des Holocaust wie auch jüdische Theologie nach und über den Holocaust – teilen also, trotz ihrer fundamentalen Bedeutung, das gemeinsame Schicksal, von Geschichtswissenschaft und christlicher Theologie hierzulande nahezu vollständig ignoriert zu werden. Beide Phänomene stehen unabhängig hiervon natürlich auch in einem inneren Zusammenhang zueinander. Jüdische Theologie nach dem Holocaust ist nicht zu begreifen ohne die Wahrnehmung und Kenntnis jüdischer Religiosität während des Holocaust, denn für die jüdischen Holocaust-Deuter nach 1945 bilden die traditionell-religiösen Handlungs- und Sinndeutungsmuster – also Kiddusch HaSchem und Mipnej Chata"enu – den Ausgangspunkt für ihre eigenen Reflexionen. Gemäß der Einzigartigkeit des Holocaust und seiner neuen Qualität an Katastrophalität, gelangen die jüdischen Denker nach 1945 jedoch übereinstimmend zu der Einsicht, daß die traditionellen Muster – Kiddusch HaSchem und Mipnej Chata"enu – nachdem sie über tausende von Jahren hinweg ihren handlungsorientierenden und sinnstiftenden Zweck erfüllt haben, erstmals nicht mehr hinreichend Anwendung finden können auf das jüngst Geschehene. Und zu dieser Einsicht und Erkenntnis kommen sie vor dem Horizont unsagbar schwer lastender Fragen:

Kann ein Jude nach Auschwitz noch sinnvoll vom Gott der Geschichte sprechen? Wo war Gott in Auschwitz? Wo seine Gnade, sein Erbarmen, seine Liebe zu seinem auserwählten Volk, dem Volk der Juden? Was heißt Sinn der jüdischen Geschichte, Sinn jüdischer Religiosität im Fackelschein der Flammen von Treblinka, Sobibor, Majdanek, Auschwitz und wie sie noch alle heißen, diese Un-Orte, an denen das Un-Mögliche möglich, das Un-Denkbare getan, das Un-Glaubliche wirklich wurde, das Un-Vorstellbare seinen es noch übertreffenden Meister fand. Spottet das bestialische Verhalten deutscher Männer und Frauen, braver Familienväter und -mütter, allemal christlich getauft und erzogen (?!), spottet dies nicht jedem Glauben an eine göttliche Vorsehung in der Geschichte? Straft diese Orgie aus Gas und Blut, die nicht einmal vor über einer Million Kindern und Säuglingen halt machte, straft dies nicht allen jüdischen Glauben an einen in der Geschichte gegenwärtigen Gott Lügen?

"Was sind die kleinen Fragen?", schreibt Emil Fackenheim und antwortet: "Die Definitionen, Regeln, Vorschriften; die Fessel des Befehls; die Zugfahrpläne und die Bahnbeamten; die Menge und der Preis des Gases: kurz, wie es getan wurde. Was ist die "große" Frage? Warum es getan wurde." Diese "große" Frage, die Frage nach dem Warum steht hinter den geschichts-theologischen Antwortversuchen der jüdischen Holocaust-Deutungen.

Nun würde ich Ihnen gerne diese jüdischen Deutungen näherbringen, aber diese sollen heute an dieser Stelle nicht im Mittelpunkt stehen. Ich werde Ihnen also nicht von Ignaz Maybaum erzählen, wie er den Holocaust als stellvertretendes Sühneopfer der Juden für die Sünden der nicht-jüdischen Welt interpretiert. Ich werde Ihnen nicht von Richard L. Rubenstein berichten, der zu dem Ergebnis kommt, daß der Holocaust ein Beweis dafür sei, daß es Gott, so wie ihn die jüdische Tradition als Herrn der Geschichte bekennt, nicht gibt und der mit seiner jüdischen Gott-ist-tot-Theologie innerjüdisch nicht nur einen Sturm der Entrüstung auslöste, sondern mit seinem 1966 erschienen Buch "After Auschwitz" den geschichts-theologischen Diskurs spektakulär eröffnet. Und ich werde ihnen nichts sagen können über Emil Fackenheim, einem Schüler von Rosenzweig und Buber und einer der großen Philosophen des zeitgenössischen Judentums, und seiner Deutung, die zur populärsten und wirkungsreichsten innerhalb des Judentums wurde, indem er den nach jüdischer Zählweise 613 Geboten der hebräischen Bibel ein 614. Gebot hinzufügt, nämlich Hitler keinen posthumen Sieg zu verschaffen und das Bekenntnis zur eigenen jüdischen Identität und zu jüdischer Tradition als von Gott in Auschwitz offenbarten Ruf zum Widerstand gegen die Mächte von Auschwitz zu verstehen. Um diese Positionen und noch viele andere mehr, sowie deren innerjüdische Diskussion kennenzulernen, muß ich Sie für den Augenblick auf mein Buch verweisen, in dem ich mich auf über 300 Seiten bemüht habe, diese Deutungen und diesen Diskurs erstmals für ein deutschsprachiges Publikum zugänglich zu machen.

Nein, dies alles also jetzt nicht und statt dessen zwei andere, eng miteinander verbundene Schlußfolgerungen, die mit der Frage zu tun haben, warum im Judentum ein geschichts-theologischer Diskurs zum zentralen Diskurs nach und über den Holocaust wurde, und warum die christliche Theologie hierzulande diesen Diskurs nicht nur bisher weitgehend ignoriert hat, sondern auch keinen, dem jüdischen Diskurs zur Seite stehenden, genuin christlichen Diskurs geführt hat. Anders formuliert geht es erstens um den Versuch einer Definition dessen, was jüdisches Gedächtnis in seinem Kern darstellt, und zweitens um die Erkenntnis, daß man gegenüber der Zentralität und Struktur von Gedächtnis im Judentum christlicherseits von einer signifikanten Geschichtsinsensibilität und Gedächtnisarmut sprechen kann.

Nicht zuletzt im Blick auf das große Gedenkjahr 1995 und die unselige Diskussion darüber, den 8. Mai als Tag der Befreiung zu bezeichnen, drängt sich der Eindruck auf, daß für uns die Erinnerung allzu oft an ein Datum gebunden zu sein scheint, das es abzuhaken gilt, und nicht eine Quelle selbsterneuernder Vergewisserung darstellt. Gedenktage sind uns allzu oft lästiger Anlaß zur Erinnerung, statt daß die Erinnerung uns Anlaß und Bedürfnis ist, Gedenktage zu schaffen. Es gibt Völker, die brauchen Gedenktage, um sich zu erinnern, und es gibt Völker, die Gedenktage haben, weil sie sich erinnern. Im einen Fall ist die Erinnerung eine Art ungeheuerlicher Flaschengeist, dem man einmal im Jahr Ausgang zubilligt, um den Rest des Jahres guten Gewissens vor ihm Ruhe zu haben. In dem anderen Fall ist Erinnerung ein ständiger Begleiter, dem zu Ehren man einen besonderen Tag widmet. Das eine nenne ich "eine Geschichte haben", das andere "mit einem Gedächtnis leben". Das Christentum hat eine Geschichte, das Judentum lebt mit einem Gedächtnis. Damit sind die beiden Hauptprotagonisten genannt, die wir kurz genauer betrachten wollen:

1) Die jüdische Seite

Jeder – und ganz besonders auch der Historiker – der nach Judentum und jüdischer Erinnerung fragt, wird sich mit einem einzigartigen Phänomen konfrontiert sehen, nämlich dem Phänomen eines fundamentalen, symbiotischen und kaum auflösbaren Verhältnisses von geschichtlichem und religiösem Selbstverständnis im Judentum. Natürlich hängt dies mit dem Doppel-, bzw. Mehrfachcharakter des Judentums zusammen, wo ansonsten voneinander getrennte Aspekte wie Religion, Kultur, Land, Ethnizität und Nationalität in der Bezeichnung Judentum zusammenfallen. Daher wird die Bestimmung von Wesen und Funktion der Erinnerung für die Identität des Juden auf die Geschichte des Volkes Israel gleichermaßen Bezug nehmen müssen wie auf den Glauben der Religionsgemeinschaft Israels und wird diese beiden Größen in ein Verhältnis zueinander zu setzen haben. Jede religiöse Selbstdefinition im Judentum wird ihr Verhältnis zum Geschichtlichen beinhalten, und jede geschichtliche Selbstbestimmung ihr Verhältnis zum Religiösen abklären müssen. Nicht wie das Verhältnis dieser beiden Größen konkret gestaltet und begriffen wird ist dabei das allein entscheidende Spezifikum jüdischer Identität, sondern daß jede Selbstdefinition eine solche Verhältnisbestimmung zur Aufgabe hat ist der springende Punkt, der es uns zugleich erlaubt, von einer Zentralität des Gedächtnisses im Judentum zu sprechen.

Auf diesem Hintergrund erweist sich geschichtstheologisches Denken – in unserem konkreten Fall also jüdische Holocaust-Theologie – indem sie gleichermaßen auf Geschichte und Glauben reflektiert, als eine der zwei zentralen Formen und Wege, in denen jüdische Identität und jüdisches Gedächtnis sich organisiert und Ausdruck verschafft. Das zweite zentrale Organisationsprinzip jüdischen Gedächtnisses ist etwas, worauf zuletzt Yosef Hayim Yerushalmi nachdrücklich hingewiesen hat: die wesentlichen historischen Ereignisse und Erfahrungen wurden und werden innerhalb des Judentums traditioneller Weise nicht auf den Wegen der Historiographie, sondern "in den Bahnen von Ritual und Liturgie" transportiert. Den besten Beleg hierfür findet man in den jüdischen Fest- und Feiertagen, allen voran: Pessach. Und das gleiche kann man nun auch in Beziehung zur Erinnerung an den Holocaust beobachten, etwa in speziellen, neu geschaffenen Gedenkgottesdiensten der Synagoge, in denen die Erfahrung des Holocaust liturgisch zu integrieren versucht wird. Darüber hinaus gibt es gar einen speziellen, neu eingeführten Gedenktag zur Erinnerung an den Holocaust, den Yom HaShoah.

Aus alle dem lassen sich mehrere Schlüsse ziehen. Erstens findet das außerordentliche Problem jeder Form von Interpretation und Erinnerung an den Holocaust innerhalb des Judentums seine Ursachen nicht allein in der Schwere dieses einzigartigen Ereignisses selbst, sondern hat seine Gründe ebenso sehr in der Tatsache, daß mit dem Holocaust eine Gemeinschaft getroffen ist, die schon immer dem historischen Ereignis an sich eine Signifikanz zusprach, wie dies in keiner anderen Religion oder Kultur der Fall ist.

Analysiert man – zweitens – geschichtstheologisches Denken und rituell-liturgisches Gedenken als zwei der wesentlichen Hauptausdrucksformen jüdischen Gedächtnisses, wird man erkennen, was jüdisches Gedächtnis seinem tiefsten Wesen nach ist: ein Prozeß existenzieller Er-Innerung, die zum integralen Bestandteil der eigenen Existenz wird. Jüdisches Gedächtnis fordert dazu auf, die Vergangenheit in einem existenziell-ganzheitlichen Sinne wiederzuvergegenwärtigen, zu re-präsentieren. Als ein Teil der Gegenwart erinnere ich mich nicht an die Vergangenheit, um an ihr Teil zu haben, sondern als Teil der Gegenwart bin ich kraft der ErInnerung unmittelbarer Teil der Vergangenheit. Wiedervergegenwärtigung der (meiner) Vergangenheit ist ErInnerung an (m)eine vergangene Gegenwart.

Wenn man aber nun – drittens – dergestalt das Judentum und die für seine Identität als Kollektiv zentrale Rolle des Gedächtnisses betrachtet, eines Gedächtnisses, das sich vorzüglich in geschichts-theologischem Denken äußert und in rituell-liturgischem Gedenken darstellt, wenn man, von dieser Einsicht ausgehend, im Judentum demzufolge eine exzeptionelle und einzigartige Verknüpfung von Geschichtsverständis und Religiosität beobachten kann, und mithin als mustergültigen Entwurf für ein Gedächtnis der Welt begreift, dann scheint es mir nicht übertrieben zu sagen, daß die Vernichtung der eurologichen Juden aus dieser Perspektive betrachtet auch ein Mnemocid, ein Gedächtnismord war. Ein Versuch, das Gedächtnis der Welt in Gestalt des Judentums auszulöschen.

Zielt aber – viertens – der Angriff des Holocaust wesentlich auch auf das Zentrum jüdischer Identität – die Ebene des Gedächtnisses – muß man ihm konsequent auf eben derselben Ebene begegnen, und das bedeutet jüdischerseits gleichermaßen geschichts-theologisches Denken als auch rituell-liturgisches Gedenken.

Gleichwohl geschichtstheologische Reflexion und rituell-liturgisches Gedenken der Grammatik jüdischen Gedächtnisses entspringen, ist jüdische Erinnerung keineswegs an eine explizit religiöse Identität gebunden. Hören Sie folgende Worte:

Ich war ein Sklave in Ägypten und empfing die Thora am Berge Sinai, und zusammen mit Josua und Elijah überschritt ich den Jordan. Mit König David zog ich in Jerusalem ein, und mit Zedekiah wurde ich von dort ins Exil geführt. Ich habe Jerusalem an den Wassern zu Babel nicht vergessen, und als der Herr Zion heimführte, war ich unter den Träumenden, die Jerusalems Mauern errichteten.

Ich habe gegen die Römer gekämpft und bin aus Spanien vertrieben worden. Ich wurde auf den Scheiterhaufen in Magenza, in Mainz, geschleppt, und habe die Thora im Jemen studiert. Ich habe meine Familie in Kischinev verloren und bin in Treblinka verbrannt worden. Ich habe im Warschauer Aufstand gekämpft und bin nach Eretz Israel gegangen, in mein Land, aus dem ich ins Exil geführt wurde, in dem ich geboren wurde, aus dem ich komme und in das ich zurückkehren werde.

Diese Worte sind weder einem religiösen Pamphlet entnommen, noch stammen sie aus dem Munde eines orthodoxen Rabbiners. Diese Worte wurden vor nicht allzu langer Zeit von Ezer Weizmann, dem Präsidenten des Staates Israel gesprochen, in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 16. Januar 1996. Ein Tag, der im jüdischen Kalender als der 24. Tewet des Jahres 5756 verzeichnet ist.

2) Die christliche Seite

Was sind die Gründe für das Schweigen der Kirchen und christlicher Theologie nach dem Holocaust bezüglich ihrer eigenen Schuld und Verantwortung, aber auch bezüglich der religiösen Implikationen des Holocaust selbst? Warum finden wir innerhalb des Christentums – ausgenommen von einigen wenigen Theologen vor allem in den USA und England – keinen vergleichbaren Diskurs über die Gottes-(und: Religions-)frage nach und im Angesicht von Auschwitz? Und, last but not least, warum nimmt die christliche Theologie in Europa, insbesondere in den deutschsprachigen Ländern, keine Notiz vom jüdischen Ringen um Gott und Religion nach dem Holocaust, warum steht sie in skandalöser Weise dem jüdischen Diskurs ignorant bis indifferent gegenüber?

Hält man sich einige der zentralen Faktoren vor Augen, die christlichen Glauben und Theologie von jüdischer Religiosität unterscheiden – exklusiver Absolutheitsanspruch, missionarisches Sendungsbewußtsein, eine in Jesus Christus abgeschlossene Offenbarung, Erlösungsverständnis, dogmatischer Grundcharakter und Primat der Orthodoxie – und setzt diese Faktoren in Beziehung zu solchen Kategorien wie Geschichtsbewußtsein, Erinnerung und Gedächtnis, so bedeutet dies für den christlichen Standpunkt:

Das für die Geschichte der Menschheit einzig wichtige und zentrale – und damit auch das einzige der Erinnerung werte! – Ereignis fand in Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi statt. Damit ist kein historisches Ereignis überhaupt vorstellbar, das dieses an Bedeutung und Gewicht zu übertreffen in der Lage sein könnte. Mit Kreuz und Auferstehung sind Mensch und Welt erlöst, das Reich Gottes auf Erden hat seinen Anfang genommen. Jenseits aller politischen, sozialen und historischen Realitäten, die durch ihre Vergänglichkeit sich auszeichnen – theologisch gesprochen: jenseits und unabhängig der realen und konkreten Verfaßtheit der Schöpfung – hängt das ewige Heil meiner Seele allein von der Annahme und Zustimmung, das heißt dem Glauben, in diese und nur in diese Wahrheit ab. Die in diesem Kontext zu sehende Absatz- und Abgrenzungsbewegung des frühen Christentums vom Judentum wird somit wesentlich auch zu einer Abwendung vom diesseitsorientierten und diesseitssensibilisierten Judentum – theologisch formuliert: eine Abwendung vom schöpfungsorientierten Judentum. Mit dem Ausbleiben der Parusie setzte christlicherseits ein Prozeß der Spiritualisierung ein, dessen Gestus auf die individuelle Erlösung im Jenseits gerichtet war. Der exklusiv vorgetragene Absolutheitsanspruch produzierte wiederum Dogmatismus und schließlich Feindschaft zuerst gegenüber dem Judentum und späterhin gegenüber aller Andersgläubigkeit und allen Andersgläubigen.

Von dieser Perspektive aus betrachtet war der Kampf des Christentums gegen das Judentum immer auch zugleich ein Kampf gegen solche Kategorien wie Erinnerung und Gedächtnis. Vor allem liegt hier eine der Ursachen für jene von Johann B. Metz für das Christentum konstatierte "Verblüffungsfestigkeit gegenüber den Katastrophen und Abgründen der Geschichte".

Denn die Sensibilität christlicher Theologie und Kirche gegenüber dem Bruch und Brüchigen in der Geschichte, den Krisen und Unsicherheiten des Lebens ist entsprechend schwach ausgeprägt. Die Theologie ist sich offenbar ihres Zentrums zu gewiß (Christologie; die theologische Wahrheit; die abgeschlossene Offenbarung). Jede historische Krise und mit ihr verbundenes Leid erscheinen allzu schnell aufgehoben im erlösenden Leben, Sterben und Auferstehen Christi.

Das Reich christlicher Theologie ist die Antwort, nicht die Frage. Noch einmal Metz:

Das Christentum verlor sehr früh seine ursprüngliche Leidempfindlichkeit. ... Immer wieder nahm die christliche Gottesrede die Züge eines machtpolitischen Monotheismus an, ... Doch die biblische Gottesrede spricht eigentlich von einem pathischen Monotheismus, sie ist eine Gottesrede mit leidempfindlicher Flanke, eine Gottesrede, die durch die ebenso unbeantwortbare wie unvergeßliche Theodizeefrage konstitutionell "gebrochen" ist, die nicht eine Antwort, sondern eine Frage zuviel hat für alle Antworten, sie ist eine Gottesrede, für die die Geschichte nicht einfach Siegergeschichte ist, sondern vor allem Leidensgeschichte, eine Gottesrede, die sich geschichtlich in der memoria passionis [die Erinnerung an das Leid] konzentriert, ohne die auch die christliche memoria ressurectionis [die Erinnerung an die Auferstehung] zum reinen Siegermythos geraten würde.

Und damit die Siegesgewißheit christlicher Theologie in Anbetracht einer leidvollen Geschichte und Welt sich ihrer Brüchigkeit, ihres im doppelten Sinne des Wortes fraglichen Charakters neu bewußt wird, anempfiehlt Metz nicht zu vergessen, "das alles Reden über Gott aus der Rede zu Gott stammt, daß die Sprache der Theologie am Ende nichts anderes ist und nicht anderes sein kann als reflexive Gebetssprache."

Dieses hier von Metz unter dem Leitstern einer memoria passionis angemahnte Ineinander von theologischer Reflexion, die im Gebet mündet und von der sie ihren Ausgang nimmt, die mehr Fragen an Gott hat, als Antworten für den Menschen parat hält, die sich dem Leid der Menschen und dem Verlauf ihrer Geschichte wachen Auges zuwendet, ohne mit theologischen Besitzständen den Schrei der gequälten Kreatur und Schöpfung zu übertönen - diese Haltung scheint mir paradigmatisch im Judentum vorgezeichnet. In welch substanzieller Weise jüdischerseits dabei Geschichte, ihr Erzählen und das Nachdenken über sie, wie sehr Erinnerung, Gedächtnis und Geschichtssensibilität aus jüdischer Sicht gleichsam eine Jakobsleiter bildend Himmel und Erde miteinander verknüpfen, belegt eine der eindrucksvollsten und tiefsinnigsten Geschichten der jüdischen Literatur, mit der ich schließen möchte.

Wenn der Großrabbi Israel Baal-Schem-Tow sah, daß dem jüdischen Volk Unheil drohte, zog er sich für gewöhnlich an einen bestimmten Ort im Walde zurück; dort zündete er ein Feuer an, sprach ein bestimmtes Gebet, und das Wunder geschah: Das Unheil war gebannt.

Später, als sein Schüler, der berühmte Maggid von Mesritsch, aus den gleichen Gründen im Himmel vorstellig werden sollte, begab er sich an denselben Ort im Wald und sagte: Herr des Weltalls, leih mir dein Ohr. Ich weiß zwar nicht, wie man ein Feuer entzündet, doch ich bin noch imstande, das Gebet zu sprechen. Und das Wunder geschah.

Später ging auch der Rabbi Mosche Leib von Sasow, um sein Volk zu retten, in den Wald und sagte: Ich weiß nicht, wie man ein Feuer entzündet, ich kenn" auch das Gebet nicht, ich finde aber wenigstens den Ort, und das sollte genügen. Und es genügte: Wiederum geschah das Wunder.

Dann kam der Rabbi Israel von Rizzin an die Reihe, um die Bedrohung zu vereiteln. Er saß im Sessel, legte seinen Kopf in beide Hände und sagte zu Gott: Ich bin unfähig, das Feuer zu entzünden, ich kenne nicht das Gebet, ich vermag nicht einmal den Ort im Walde wiederzufinden. Alles, was ich tun kann, ist, diese Geschichte zu erzählen. Das sollte genügen. Und es genügte.

Was immer Juden - gläubige wie ungläubige - während der Jahre 1938 bis 1945 getan, gebetet oder an Geschichten erzählt haben mögen: Es genügte nicht, die Bedrohung wurde nicht vereitelt, kein Wunder geschah. Davon erzählen die Überlebenden, daran erinnern sie – auch uns – unaufhörlich, hiervon handeln ihre Geschichten. Indem sie solches aber tun, liefern sie einen Beleg dafür, daß selbst die Erinnerung an eine solche Katastrophe ebenfalls jenen Gesetzen und Regeln gehorcht, wie sie seit Jahrtausenden für das jüdische Gedächtnis gültig sind.

Literatur

Johann-Baptist Metz: Wie rede ich von Gott angesichts der säkularen Welt?, in: Die Gottesrede von Juden und Christen unter den Herausforderungen der säkularen Welt, hrsg.v. Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Dokumentationen Heft 103, Bonn 1996

Christoph Münz: Der Welt ein Gedächtnis geben. Geschichtstheologisches Denken im Judentum nach Auschwitz, Gütersloh (2. Aufl.) 1996.

Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor! Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, Berlin 1988.

Editorische Anmerkungen

Copyright beim Autor.
Vortrag gehalten an der Universität Salzburg.