Und doch hat solche Rede ihre Berechtigung. Denn sie macht den übergreifenden Kontext der spezifischen evangelisch-jüdischen oder katholisch-jüdischen Begegnung präsent. Sie steht für die Erfahrung, dass der Dialog in der Regel gemeinsam katholische und evangelische Teilnehmer/innen mit jüdischen Repräsentant/innen zusammenführt. Und sie hat den Sachverhalt für sich, dass die evangelisch-jüdische Beziehung sich nicht gegen die katholisch-jüdische Beziehung oder umgekehrt ausspielen lässt. In beiden konfessionsspezifischen Beziehungen und Bemühungen gibt es analoge Entwicklungen mit Zeitverzögerungen hier und Themenverschiebungen dort. Insgesamt aber wäre die Momentaufnahme der Beziehung ähnlich, und die evangelisch-jüdischen und die katholisch-jüdischen Beziehungen kennen ein vergleichbares Voranschreiten und ein analoges Zurückbleiben.
Insofern hat die jüdische Stellungnahme zu Christen und Christentum unter dem Titel „Dabru Emet – Redet Wahrheit“ vom 10. September 2000 gute Gründe für ihre Vertrauenskundgabe zur jüdisch-christlichen Beziehung: „In den vergangenen Jahren hat sich ein dramatischer und unvorhersehbarer Wandel in den christlich-jüdischen Beziehungen vollzogen … Eine wachsende Zahl kirchlicher Gremien, unter ihnen sowohl römisch-katholische als auch protestantische, haben in öffentlichen Erklärungen ihre Reue über die Misshandlung von Juden und Judentum zum Ausdruck gebracht. Diese Erklärungen haben zudem verdeutlicht, wie christliche Lehre und Predigt reformiert werden können und müssen, um den unverändert gültigen Bund Gottes mit dem jüdischen Volk anzuerkennen und den Beitrag des Judentums zur Weltkultur und zum christlichen Glauben selbst zu würdigen“.[1] Welche Entwicklungen geben Grund zu dieser jüdischen Anerkenntnis? Was davon hat bleibendes Gewicht? Welche offenen Fragen drängen sich für die christlich-jüdische Beziehung auf? Auf diese Fragen soll die nachfolgende Skizze aus katholischer Sicht eingehen.
I. Der christlich-jüdische Dialog nach Auschwitz. Ein Stenogramm
Zu den bemerkenswertesten Entwicklungen in den Kirchen der letzten Jahr-zehnte zählt in der Tat der jüdisch-christliche Dialog nach Auschwitz. Er ist Vi-sion und Wirklichkeit zugleich. Wirklichkeit ist er als Gespräch zwischen Gre-mien und Minderheiten aus Judentum und Christentum und als Vorbereitung, Rezeption und Umsetzung von Erkenntnisgewinnen in christlicher Theologie und jüdischer Gelehrsamkeit. Noch Vision ist seine Verwurzelung bei den Mehrheiten von Judentum und Christentum. Zwischen beiden besteht eine vielfältige Asymmetrie. Diese meint nicht nur ein Ungleichgewicht in der Zahl der Mitglieder. Sie bedeutet auch in der Geschichte der Beziehung höchst unterschiedliche Lasten und nicht zuletzt in der Identität eine strukturelle Unterschiedenheit: hier eine ethnische, religiöse und landbezogene Gemeinschaft („Volk Israel“, „Glaube Israels“, „Land Israel“), dort eine Glaubensgemeinschaft aus den Völkern (Kirche als „ecclesia“). Der Dialog buchstabiert deren Verhältnis historisch, theologisch, philosophisch und auch politisch durch. Er ist gelebte Beziehung mit ökumenischer Kontur und mit einem „Tumor im Gedächtnis“[2], steht er doch im Schatten der Schoa.
Der jüdisch-christliche Dialog ist eine junge Tradition. Für sie kann man nach einer noch immer aussagefähigen Typologie von Johann Baptist Metz[3] vier Phasen unterscheiden: Aus dem Erschrecken über die Schoa erwuchs das „Stadium eines diffusen Wohlwollens, das seinerseits wenig stabil und krisenfest ist, leicht anfällig und verdrängbar“. Eine zweite Phase kann man die „der theologischen Diskussion des Übergangs ‚von der Mission zum Dialog‘ zwischen Christen und Juden“ nennen. Katholischerseits hatte es in den 1970er Jahren eine Konsensbildung in dialogwilliger Kirchenführung und Theologie gegeben: Die Absicht der Proselytenmacherei ist im Dialog ausgeschlossen.[4] Und doch ist es in den letzten Jahren infolge der Irritation besonders durch die alt-neue Karfreitagsfürbitte für die Juden im außerordentlichen Usus der Liturgie vom 4. Februar 2008 zu einer erneuten Diskussion über die Frage von Dialog und Mission gekommen. Darauf wird noch einzugehen sein. Mit dem zwar „halachisch“ gegebenen, aber „agga-disch“ weiter zu prüfenden Übergang „von der Mission zum Dialog“ haben sich in einer dritten Phase des Dialogs „Ansätze zu einem bewussten theologischen Umdenken“ ausgebildet. Sie sind in einer Vielzahl von welt- und teilkirchlichen Äußerungen seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) wie auch in zahlreichen Bemühungen der Theologie zu greifen. Sie wollen die „Lehre der Verachtung“[5] überwinden und streben eine Haltung und Lehre des Respekts gegenüber dem jüdischen Volk und Judentum an. Die Ansätze des theologischen Umdenkens leiten wie von selbst zur vierten Phase über: zu der „Einsicht nämlich der Christen in die konkrete glaubensgeschichtliche Abhängigkeit von den Juden“ oder zum Dialog „auf der Ebene ihrer je eigenen religiösen Identität“.[6]
Blickt man in die junge Dialoggeschichte, so drängt sich eine Vielzahl von Themen und Inhalten für die dialogische Konsensprobe und Dissensklärung auf. Es melden sich Aspekte der jeweiligen Selbstdefinition im Blick auf den anderen, christlicher- bzw. kirchlicherseits besonders in den 1960er und 70er Jahren, jüdischerseits korporativ erst mit dem letzten Jahrzehnt.[7] Innerhalb der christlichen Theologie gelten die Bemühungen weithin der Frage, inwiefern das geschichtliche Gegenüber von Kirche und Judentum auch ein heilsgeschichtliches Miteinander bzw. Gegenüber ist und was dieses für das Kirchenverständnis wie die Gotteslehre, für die Christologie wie die Eschatologie, für die Bibelwissenschaft wie die Moraltheologie bedeutet und austrägt. Hier ist es zu unterschiedlichen Öffnungen der Teildisziplinen für die Herausforderungen durch den Dialog gekommen.[8] Vor 30 Jahren war nicht zu erwarten, dass neben den exegetischen Disziplinen z.B. die Li-turgiewissenschaft beharrlich der Beziehung zwischen kirchlicher und synagogaler Liturgie nachgeht.[9] In der Dogmatik ist das Echo auf die jüdischen Einwürfe zur Inkarnation durch Emmanuel Levinas und zur Inkarnationschristologie durch Michael Wyschogrod aufmerksam und konstruktiv.[10] Und die Zahl der Dissertationen in der Fundamentaltheologie und Dogmatik zu Aspekten christlicher Theologie „im Angesicht des Judentums“ ist eindrucksvoll.[11] Zu ethischen Fragen ist es dagegen im deutschsprachigen Bereich noch nicht zu einem kontinuierlichen Fachgespräch zwischen christlichen Moraltheolog/innen und jüdischen Gelehrten gekommen; erst in jüngster Zeit gibt es Ansätze dazu.72 Eine internationale Herausforderung bleiben die immer wieder aufbrechenden antijüdischen Stimmungen angesichts je aktueller Verschärfungen des israelisch-palästinensischen Konflikts.
II. Eigene Beziehungen: Johannes Paul II. sowie Benedikt XVI. und die Juden
Für die Beziehung zwischen der katholischen Kirche und dem Judentum beginnt mit der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra Aetate“ vom 28. Oktober 1965 eine neue Zeitrechnung; sie hat Auswirkung auf die Haltung anderer Kirchen zum jüdischen Volk entfaltet. Die Rezeption der Konzilserklärung war intensiv. Johannes Paul II. führte sie zur Reife und vertiefte sie.13 Das wurde auch jüdischerseits anerkannt. Nehmen jüdische Frauen und Männer die Welt von Christentum und Kirchen wahr, dann geschieht dies nicht selten in einer doppelten Engführung der Aufmerksamkeit – zum einen auf die katholische Kirche und zum anderen eben auf die Persönlichkeit und das Wirken des jeweiligen Papstes.
So verwunderte es nicht, dass viele Juden in Israel und der ganzen Welt an der Trauer um den verstorbenen Papst Johannes Paul II. Anteil genommen haben. Der Papst blieb bis zu seinem Tod am 2. April 2005 jenen visionären An¬liegen treu, die sich schon bald nach seiner Wahl am 16. Oktober 1978 gezeigt hatten. Er erstaunte durch eine Weite des theologischen Horizonts im Blick auf das jüdische Volk und Judentum, z.B. bei seinem ersten Pastoralbesuch in Deutschland vom November 1980. In der Mainzer Begegnung mit dem Zentralrat und der Rabbinerkonferenz am 17. November prägte er ein Wort, das eine lange kirchliche Tradition korrigierte, für die der Bund Gottes mit Israel als veraltet, überholt, abgetan oder erledigt galt. Demgegenüber sprach der Papst in Mainz von „dem Gottesvolk des von Gott nie gekündigten (vgl. Röm. 11,29) Alten Bundes“. Das Mainzer Wort bildete in den nachfolgenden Jahren des Pontifikates ein Hauptmotiv in seinen Ansprachen zum Verhältnis von Kirche und jüdischem Volk, die man folgendermaßen zusammenfassen kann:
Der mit Mose geschlossene Alte Bund ist von Gott nie gekündigt worden. Das jüdische Volk steht nach wie vor in einer unwiderruflichen Berufung und ist immer noch Erbe jener Erwählung, der Gott treu ist. Es ist geradezu das „Volk des Bundes“. Es hat im Blick auf sein Leiden in der Schoa eine Sendung vor allen Menschen, vor der ganzen Menschheit und auch vor der Kirche. Die heilige Schrift der Kirche kann nicht getrennt werden von diesem Volk und seiner Geschichte. Die Tatsache, dass Jesus Jude war und sein Milieu die jüdische Welt war, ist nicht ein einfacher kultureller Zufall. Wer diese Bindung lösen und durch eine andere religiöse Tradition ersetzen wollte, würde die Wahrheit der Menschwerdung des Sohnes Gottes selbst angreifen. Die jüdische Religion ist für die Kirche nicht etwas „Äußerliches“, sondern gehört in gewisser Weise zum Inneren der christlichen Religion. Zu ihr haben die Kirche und Christen Beziehungen wie zu keiner anderen Religion. Die Juden sind „unsere bevorzugten Brüder und, so könnte man gewissermaßen sagen, unsere älteren Brüder“. Der Antisemitismus ist eine Sünde gegen Gott und die Menschheit. Diese Aussagen haben in den großen Gesten von Johannes Paul II. ihren eigenen Kommentar erhalten, vor allem mit seinem historischen Besuch der römischen Synagoge vom 13. April 1986 und dem Besuch Israels und Jerusalems vom 21. bis 26. März 2000. Dank des Pontifikats von Johannes Paul II. erhielt die katholisch-jüdische Beziehung eine neue Qualität. Dieses Vermächtnis war eine der gewichtigsten Herausforderungen für seinen Nachfolger Benedikt XVI.
Die Beziehung von Papst Benedikt XVI. zu Juden und Judentum steht unter dem Argwohn, sie sei ambivalent. Unterzieht man diese Beziehung der näheren Analyse, so fällt ein freundlicher Beginn auf. Nach der Wahl von Joseph Kardinal Ratzinger zum Papst am 19. April 2005 äußerten jüdische Sachwalter des Dialogs eine gute Zuversicht, die sie auf ihre Kenntnis von Persönlichkeit und Gesten des neu Gewählten stützten. In seinen Schriften der 1990er Jahre war ein auffälliges Interesse an der Beziehung aufgetreten. Er räumte einmal ein, dass erst die Herausforderungen infolge des geschichtlichen Umschwungs von 1989 ihm zum Anlass wurden, „konkret in den Dialog (mit dem Judentum) einzutreten“.14 Seine ersten großen öffentlichen Gesten setzte Papst Benedikt XVI. mit den Besuchen der Kölner Synagoge vom 19. August 2005 und des Konzentrationslagers Auschwitz am 28. Mai 2006. Und 2007 überraschte sein Buch „Jesus von Nazareth“ mit einem ausgeführten literarischen Dialog mit Rabbiner Jacob Neusner.15 Aber es hat sich auf die positiven Zeichen dieser Beziehung mit der Karfreitagsfürbitte 200816 und noch mehr mit der Aufhebung des Bannes der vier Weihbischöfe der Priesterbruderschaft St. Pius X. vom 21. Januar 2009 ein schwerer Raureif gelegt. Der Israelbesuch von Benedikt XVI. vom 11. bis 15. Mai 2009 stand unter der doppelten Ungunst des Nachklangs der Kontroverse um die Piusbruderschaft und der Präsenz des Gazakrieges von 2008/2009 in der Öffentlichkeit Israels. So konnte dieser Besuch für die öffentliche Wahrnehmung die Beziehung noch nicht aus dem Schatten des Argwohns herausführen. Und doch war dieser Besuch als Symbol Ausdruck der Überzeugung, der Glaube Israels sei das Fundament des christlichen Glaubens. Diese Überzeugung erhielt ihre Bekräftigung in der Geste und in der Ansprache des Besuchs der jüdischen Gemeinde Roms durch Benedikt am 17. Januar 2010. Der Papst setzte mit seiner Ansprache17 bedeutsame Akzente: Das Zweite Vatikanische Konzil führte auf den „unwiderruflichen Weg des Dialogs, der Brüderlichkeit und der Freundschaft“. Benedikt machte sich die Vision seines Vorgängers zu eigen: Dessen Kennzeichnung des jüdischen Volkes als „Volk des Bundes“ wiederholte er besonders in der Beteuerung seiner persönlichen „Nähe und Liebe zum Volk des Bundes“. Den Bund qualifizierte er als den „Bund des Mose“. Dass dieser ungekündigt ist, bedurfte nicht mehr der ausdrücklichen Versicherung, sondern kam darin zum Ausdruck, dass für Benedikt „der jüdische Glaube schon Antwort auf die Offenbarung Gottes im Alten Bund“ ist.18 Einen so dichten Zusammenklang von Symbol und Aussagen gab es zwischen Johannes Paul II. und Benedikt XVI. zuvor nicht. Benedikts römische Ansprache ist eine zentrale Achse zum Verständnis seiner Beziehung zum jüdischen Volk und Judentum. Sie ist für die Piusbruderschaft eigentlich unakzeptabel. Wenn diese konsequent zur antijüdischen Komponente ihrer Frömmigkeit und Theologie19 steht, müsste sie die Verhandlungen mit Rom abbrechen und so Papst Benedikt aus der „Geiselhaft“ befreien, in die er mit der Aufhebung des Banns gegen die Piusbruderschaft abseits eigener Absicht geraten ist. Die katholisch-jüdische Beziehung wird im weiteren Pontifikat von Benedikt XVI. möglicherweise nicht frei von Irritationen und Spannungen bleiben. Aber der Umgang damit hat mit der römischen Aussage des Papstes einen Schlüssel konstruktiver Bearbeitung. Das gibt Raum für eine nüchterne Zuversicht im katholisch-jüdischen Verhältnis.20
III. Perspektiven der Beziehung
Perspektiven der Beziehung von Christentum und Judentum bilden sich an Schwerpunkten aktueller theologischer Diskussion ab. Diese sind hier von einem beträchtlichen Einvernehmen ohne Leugnung der jeweiligen Andersheit gekennzeichnet und schließen dort neuralgische Punkte nicht aus. Bei den jeweiligen Klärungen und Bearbeitungen tritt eine immer selbstverständlicher werdende Kollegialität von jüdischen und christlichen Gelehrten hervor. Diese Kollegialität ist eine verheißungsvolle Grundperspektive der Beziehung, was sich an einigen aktuellen Diskussionsthemen unterschiedlich verifizieren lässt.
1. Ein neues Verhältnis zur jüdischen Lesetradition der Bibel Israels
Die jüdische Stellungnahme „Dabru Emet“ sagte in ihrer zweiten These: „Juden und Christen stützen sich auf das gleiche Buch – die Bibel (das die Juden ‚Tenach’ und die Christen das ‚Alte Testament’ nennen)“.21 Die Bibel Israels ist ein Gemeinsames und zugleich Trennendes zwischen Judentum und Christentum. Beide beginnen mit der Tora im engeren Sinn bzw. dem Pentateuch. Und die jüdische Bibel und die Luther-Bibel des Alten Testaments haben den gleichen Textbestand, den das Alte Testament in der katholischen Tradition durch die sieben Schriften Tobit, Judit, 1 und 2 Makkabäer, Weisheit Salomos, Jesus Sirach und Baruch erweitert. Das Trennende besteht mit dem Abschluss durch die „Schriften“ in der jüdischen Bibel und durch die „Propheten“ im christlichen Alten Testament und so in der Differenz der Folge der Einzelschriften, besonders aber in der je verschiedenen Lesegemeinschaft und Kommentartradition. So ruft das Verhältnis von Text und Lesegemeinschaft nach Klärung des Grundverhältnisses zwischen der jüdischen und der christlichen Lesart der Bibel. Kann die katholische Kirche und Theologie ein positives Verhältnis zur jüdischen Leseweise und Kommentartradition der Bibel Israels gewinnen? Diese Frage galt Jahrhunderte lang als irrelevant, hat aber durch ein erstaunliches Dokument aus der katholischen Kirche eine unerwartete Aktualität erfahren.
Die Bibel zeigt ihren Charakter als Heilige Schrift, wenn sie als Grundurkunde der Gemeinschaft des Glaubens gelesen, verkündet und ausgelegt wird.[22] Durch das gottesdienstliche Lesen bzw. Verkünden und Auslegen wird die jüdische oder christliche Gemeinschaft zur Gemeinschaft des Glaubens bzw. äußern sich beide als solche. Es gibt „keinen Text ohne eine Gemeinschaft, die den Text zu seinem Sein kommen lässt. Im Interpretieren von Texten interpretiert sich die Gemeinschaft auch selbst, wodurch sie sich selbst findet und zu gleicher Zeit erfindet.”[23] Der wechselseitige Findungsprozess von Text und Rezeptionsgemeinschaft geschieht ausgeprägt im Gottesdienst. Und: Die Vorstellung von einem individuellen Gegenüber des/der Einzelnen zur Bibel als einem Gemeinsamen ist im gewissen Sinn eine Abstraktion. Es gibt Aufstörungen aus dem individuellen Bezug zur Bibel. Sie kommen von der je eigenen Lese- bzw. Interpretationsgemeinschaft des/der Einzelnen her. Sie haben sich in der langen Geschichte des Verhältnisses von Kirche und Israel ausgewirkt. Neben freundlichen gemeinsamen Lektüren der gemeinsamen Bibel etwa bei Origines oder Hieronymus hat es von der Zeit der Kirchenväter an eine polemische Zurückweisung der jüdischen Auslegung der Bibel Israels gegeben.
In einer grundsätzlichen Hermeneutik kann man zum Verhältnis von Text und Interpret sagen: Ein „Text” ist ein Text nur innerhalb einer kommunikativen Beziehung. Anders: „Text und Interpret sind wechselseitig voneinander abhängig – der Interpret benötigt den Text und ist durch ihn gebunden, aber der Text wird nur bedeutungsvoll, sofern er gedeutet wird”.[24] So kann man von einer „Brücke zwischen den alten Texten und uns“ sprechen, die wir als Juden und Christen schlagen.[25] Der wechselseitige Zusammenhang von Text und Interpretation bzw. Leben des Textes löst nicht das bleibende Gegenüber des Textes auf. Dieses wurde innerchristlich im 16. Jahrhundert mit dem reformatorischen „sola scriptura“, also dem Ruf „allein die Schrift“ gültig eingeschärft. Authentische Schriftauslegung ist nur auf der Basis des Schrifttextes selbst möglich. Es bleibt beim Gegenüber des Textes zu seinen Auslegungen. Aber die Erhebung des Textsinnes schließt die Tätigkeit des Interpreten nicht aus. Vielmehr kann man die Tätigkeit des Interpreten in der Schriftauslegung zugleich eine „Selbstauslegung” der Schrift nennen.
Die Bibel Israels ist aus der Gemeinschaft Israels hervorgegangen. Und die Kommentierung dieser Bibel durch das Leben, die Verkündigung und das Geschick Jesu von Nazareth hat eine neue Gemeinschaft hervortreten lassen: die Gemeinschaft der jungen Kirche. Beide Sachverhalte besagen, dass es zwischen dem Text der Bibel Israels und der Lese- oder Lebensgemeinschaft der Bibel eine zweifache Bewegung gibt. Sie gilt jüdisch und christlich: Beide Gemeinschaften setzen sich selbst in eine Beziehung zur Bibel – hier zur Bibel Israels, dort zu der einen Bibel des Alten und des Neuen Testamentes –, indem sie die Schrifttexte liturgisch-gottesdienstlich verkünden und hören, im Studium lesen und interpretieren und sie im Leben zur Wirkung kommen lassen. Aber dies ist nicht die einzige Bewegung zwischen Gemeinschaft und Bibel. Beide Gemeinschaften werden ihrerseits gebildet und begründet durch die Bibel. Sie erfahren die Schrifttexte als „heilige Texte”. Durch das gottesdienstliche Lesen und Auslegen werden ihre Gemeinschaften Gemeinschaften des Glaubens bzw. sie vollziehen und äußern sich als solche. Wenn das Verhältnis zwischen Text und Interpret als so eng zu begreifen ist und nicht zuletzt auf die Gemeinschaft zielt, dann entsteht eine gemeinschaftsspezifische Auslegungs- und Kommentartradition. Dies bedeutet für die Bibel Israels eine doppelte Auslegungstradition in Judentum und Christentum und zieht die Frage nach sich, wie denn deren jeweilige Bibel und die Lesetraditionen dieser Bibel zueinander stehen.
Christliche Verkündigung und Auslegung der Schrift hat über viele Jahrhunderte hin die jüdische Auslegungstradition aggressiv und polemisch kritisiert, zurückgewiesen und diffamiert.[26] Die gegenläufige jüdische Reaktion hatte auch ihre Polemik. Und für Kirche und christliche Theologie ist die Frage dringlich, ob sie ein positives Verhältnis zur jüdischen Auslegungstradition gewinnen können. Darauf hat die Päpstliche Bibelkommission in ihrem Dokument „Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“ vom 24. Mai 2001[27] mit ausdrücklicher Aufmerksamkeit reagiert. Das Dokument geht von der Grundthese aus, dass das unverzichtbare Alte Testament „aus sich heraus einen ungeheuren Wert als Wort Gottes“ besitzt (Nr. 22/43). Es überrascht mit der Mahnung: Es gibt eine jüdische und christliche Auslegungstradition und Leseweise des Alten Testamentes, die sich ihr Recht nicht gegenseitig streitig machen dürfen.
Das Dokument geht vielfach auf das nachbiblische, aktuelle, gegenwärtige jüdische Traditionsverständnis ein. Darin kommt ein hermeneutischer Grundentscheid des Dokumentes zum Tragen: Es bedenkt die heilige Schrift des jüdischen Volkes und die christliche Bibel nicht nur in ihrem historischen Verhältnis zueinander. Der Bibelkommission steht der Sachverhalt sehr prägnant vor Augen, dass die biblischen Texte solche literarischen Texte sind, die von ihren Gemeinschaften als „heilige“ und „kanonische“ Texte verstanden werden. Diese lesen denselben Text, entdecken aber in ihrem Rückbezug darauf Akzente und Aspekte, welche eine andere Gemeinschaft so nicht gelesen und verstanden hatte. Zwischen Text und Lesegemeinschaft entsteht also eine Dimension von Sinn, der zwischen dem Text und einer anderen Lesegemeinschaft nicht gegenwärtig ist. Deshalb geht es dem vatikanischen Dokument auch um das Gegenüber der nachbiblischen jüdischen und christlichen „Leseweisen“ der Bibel. Es mahnt die Christen: sie „können und müssen zugeben, dass die jüdische Lesung der Bibel eine mögliche Leseweise darstellt, die sich organisch aus der jüdischen Heiligen Schrift der Zeit des Zweiten Tempels ergibt, in Analogie zur christlichen Leseweise, die sich parallel entwickelte. Jede dieser beiden Leseweisen bleibt der jeweiligen Glaubenssicht treu, deren Frucht und Ausdruck sie ist. So ist die eine nicht auf die andere rückführbar“ (Nr. 22/44). Diese Aussage ist eine Grundkorrektur der traditionellen Polemik gegen die jüdische Tradition und hat eine doppelte Tragweite für Exegese und Theologie. Sie ist zunächst in der innerchristlichen Ökumene daraufhin weiter zu prüfen, inwiefern sie auf das traditionelle Verständnis der Beziehung von Schrift und Tradition einwirkt und ob von ihr her ein neues Licht auf eine klassische Kontroverse zwischen den Kirchen der Reformation und der katholischen Kirche fällt.[28] Weiterhin hat die Anerkennung, dass die jüdische Leseweise ein Treueakt zum biblischen Glauben ist, ihr Gewicht auch für die Weise, wie die Theologie insgesamt ihre Aussagen und Einsichten gewinnt, begründet und auslegt. Wenn die jüdische Leseweise der Bibel als Frucht und Ausdruck der Treue von Glaubenssicht zu verstehen ist, dann ist die Frage unabweislich, ob nicht auch die jüdische Kommentartradition zur Bibel zu den Quellen der Erkenntnisbildung in der christlichen Theologie gehört und zu den loci theologici, und zwar zu den „fremden“ theologischen Lernorten zu zählen ist. Wie sehr solche Hoffnung berechtigt ist, zeigen nicht nur wissenschaftliche christlich-jüdische Auslegungen der Bibel[29], sondern auch eine in Gang seiende Diskussion der Exegese zum Beginn christlicher Auslegungsgeschichte und damit zum Anfang des Christentums. Diese hat in den Slogans vom third quest – the parting of the ways – new perspective on Paul ihre leitenden Stichworte, die hier nicht weiter aufzuschlüsseln sind.[30] Die wissenschaftliche Diskussion der Exegese, Theologie und Judaistik zu diesen Stichworten ist von einer erstaunlichen ökumenischen Kollegialität christlicher und jüdischer Fachleute geprägt.[31]
2. Eine erneut aufgebrochene Kontroverse zu Mission und Dialog
Ein langjähriger Konsens in der katholischen Theologie und Kirche ging darauf: Die Absicht der Proselytenmacherei ist im Dialog ausgeschlossen.[32] Nun hat sich jedoch eine Infragestellung dieses Konsenses eingestellt, schien er doch mit der 2008-Karfreitagsfürbitte für die Juden angefragt. Viele äußerten unverhohlen den Argwohn, mit der Fürbitte könnte sich eine Wende der Kirche weg vom katholisch-jüdischen Dialog ohne missionarischen Hintersinn hin zur Betonung der notwendig bleibenden Konversion von Juden zum Glauben an Jesus Christus anbahnen. So fragten auch die jüdischen Mitglieder des Gesprächskreises „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken ihre katholischen Kolleg/innen im Kreis. Der Hinweis, der Gesprächskreis habe sich schon mehrfach deutlich zu diesem Problem gemeldet, löste den Klärungsbedarf nicht auf. Manche Mitglieder hielten das ZdK-Papier „Theologische Schwerpunkte“ von 1979 für klar und unüberholt. Dort heißt es z.B.: „Im gegenseitigen Sich-Befragen (von Katholiken und Juden) kann sich ... durchaus ein Stück Anerkennung der Heilsbedeutung des anderen Weges aussprechen.“ Die erhebliche Divergenz in der Einstellung zu Jesus nötige „weder Juden noch Christen, die fundamentale inhaltliche Klammer des einen rufenden Gotteswillens aufzulösen. Von daher ist es Juden und Christen grundsätzlich verwehrt, den anderen zur Untreue gegenüber dem an ihn ergangenen Ruf Gottes bewegen zu wollen ... Der tiefste Grund liegt ... darin, dass es derselbe Gott ist, von dem Juden und Christen sich berufen wissen. Christen können aus ihrem eigenen Glaubensverständnis nicht darauf verzichten, auch Juden gegenüber Jesus als den Christus zu bezeugen. Juden können aus ihrem Selbstverständnis nicht darauf verzichten, auch Christen gegenüber die Unüberholbarkeit der Tora zu betonen“.[33] So erfolgreich dieser Text in seiner Wirkungsgeschichte war, er erledigte die Klärungsbedürftigkeit von 2008 ebenso wenig wie der Ausruf „Judenmission darf es nicht mehr geben!“ im ZdK-Dokument „Juden und Christen in Deutschland“ von 2005. Dieses Dokument hatte u.a. gesagt: „Wenn Gott nach den Worten des Paulus je verschieden Juden und Nichtjuden in sein Erbarmen einschließt, dann müssen wir heute dankbar anerkennen, dass weder die einen noch die anderen vom Heil ausgeschlossen sind. Gott ist es, der selbst den Weg und das Verständnis des Evangeliums erschließt. Deshalb vertritt der Gesprächskreis mit großem Nachdruck die Überzeugung, dass es eine Judenmission nicht geben darf.“[34]
Eine erneute Auseinandersetzung mit der Frage war mit der Karfreitagsfürbitte 2008 für den Gesprächskreis also angezeigt. Sie führte zur Erklärung „Nein zur Judenmission – Ja zum Dialog zwischen Juden und Christen“ vom 9. März 2009.[35] Die Erklärung wird mit einer gemeinsamen katholisch-jüdischen Position eingeführt. Für beide Seiten gelte, „dass der Verzicht auf die Judenmission sehr wohl zulässt, ja fordert, dass Christen vor Juden und Juden vor Christen von ihrem Glauben Zeugnis geben. Ohne dieses gegenseitige Zeugnis wäre ein religiöser und theologischer Dialog nicht möglich“ (8). In einem zweiten Teil erläutern die jüdischen Mitglieder, warum aus ihrer Sicht eine Judenmission nicht akzeptabel ist, während die katholischen Mitglieder nach einer historisch begründeten Zurückweisung der Judenmission eine Analyse der neutestamentlichen Stellen vorlegen, welche theologische Gründe gegen die Judenmission benennt. Es habe die Kirche mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil besonders „die Kapitel 9-11 im Römerbrief des Paulus neu zu lesen begonnen“ (14). In dieser neuen Sicht hat die Aussage „Unwiderruflich sind die Gnaden(gaben) und die Berufung Gottes“ (Röm 11,29) zentrales Gewicht gewonnen und dies nicht zuletzt durch Papst Johannes Paul II., der mehrfach vom „niemals gekündigten Alten Bund“ sprechen konnte (15). Die paulinisch gestützte Grundthese fungiert im Text wie eine Leselenkung für die theologische Prüfung von Lukasevangelium und Apostelgeschichte, aber auch vom Matthäus- und Johannesevangelium. Das Schlussplädoyer hält als katholisch-jüdischen Konsens fest: „Gemeinsam sagen wir im Gesprächskreis Ja zum Dialog zwischen Juden und Christen und Nein zur Judenmission“ und fügen an: „Wann, wie und ob sich Juden und Christen auf ihrem Weg zum ‚Reich Gottes’ begegnen, bleibt ein uns Menschen verborgenes Geheimnis Gottes“ (21).
Bischof Gerhard Ludwig Müller kritisierte als Vorsitzender der Ökumene-Kommission der Bischofskonferenz die ZdK-Erklärung[36] und hielt ihr entgegen, dass „vom universalen Heilswillen Gottes“ nicht unabhängig von seiner „geschichtlich-eschatologischen Vergegenwärtigung in Jesus Christus“ gesprochen werden kann. Er konstatierte eine „Verkürzung der katholischen Glaubenslehre von der Verwirklichung des universalen Heilswillens in Jesus Christus und dessen einziger Heilsmittlerschaft und der daraus folgenden Heilsnotwendigkeit der Kirche und der Taufe“. Die Erklärung ist besser als ihr Ruf in der bischöflichen Darstellung. Sie ist ein gemeinsamer katholisch-jüdischer Text und unterscheidet die jeweiligen jüdischen und katholischen Passagen deutlich voneinander. Manche der gemeinsamen katholisch-jüdischen Aussagen sind als Aussagen aus der innerkatholischen Kammer gelesen und kritisiert worden. Solche Kritik verkennt das spezifische Genus gemeinsamer katholisch-jüdischer Aussagen. Inhaltlich lässt sich der katholische Aussageteil dahingehend zusammenfassen, dass er mit jener Doppelaussage kongruent ist, mit der Kardinal Walter Kasper die Fürbitte 2008 gedeutet hat: Die katholische Kirche kennt „keine organisierte und institutionalisierte Judenmission.“ Und: Die Kirche legt das Wann und das Wie des Heils des jüdischen Volkes ganz in Gottes Hände.[37] Diese Doppelaussage kann auch als konsensfähig für die deutschen Bischöfe gelten. Während die ZdK-Erklärung besonders die Ungekündetheit des Alten Bundes akzentuiert, betonen die Bischöfe die universale Heilsbedeutung Jesu Christi und der Kirche. Zwischen beiden besteht eine Spannung, die weiter zu bearbeiten der Theologie aufgegeben ist.[38]
Aber diese „Aporie“ ist „ein Signal für eine Position, die soteriologisch Spielräume für ein Heil über das Christus-Bekenntnis hinaus eröffnet.“ Denn die „Einmaligkeit und Universalität des Heils in Jesus Christus“ stellt „keine Ausschlusskategorie dar, sondern muss als positive Qualifizierung des Christus-Bekenntnisses gelesen werden“.[39] Oder anders gesagt: „Wie es einen Gott gibt, so auch nur ein Heilsangebot, einen Heilsweg – mit verschiedenen komplementären Möglichkeiten der Menschen, daran zu partizipieren“.[40] Die Ungekündetheit des Bundes Gottes mit Israel ist Bürge für die jüdische Partizipation am Weg des Heils. Ob die Prüfung der skizzierten Spannung und Aporie darauf hinauslaufen wird, dass Ps 62,12 „Eines hat Gott gesagt, zweierlei habe ich gehört“ – ein Wort, das schon Emmanuel Levinas als einen gewissen Rückhalt für Franz Rosenzweigs außerordentliche „philosophische Möglichkeit, die Wahrheit in den beiden Formen von Judentum und Christentum zu sehen“, betrachtete[41] – eine ähnliche Funktion erhält, wie sie viele Jahre von 1 Petr 3,15 als Programmwort der Fundamentaltheologie ausgefüllt wurde? Die entsprechende Bearbeitung kann nicht in einer hermetisch abgeschlossenen innerchristlichen Kammer verlaufen. Die christliche Theologie gewinnt, wenn sie bei ihrer Reflexion auf jüdische Stimmen als ein locus theologicus achtet, ohne ihre Eigenständigkeit und Verantwortung für ihre Aussagen aufzugeben.[42] Sie praktiziert so den Respekt vor der Berufung des Anderen und vertieft die gewachsene ökumenische Kollegialität zwischen christlichen und jüdischen Gelehrten. Diese bietet die Chance, aufbrechende Kontroversen und Störungen in der Beziehung von Christentum und Judentum auch dann zu thematisieren, wenn das Theologische zurücktritt und Verschärfungen im israelisch-palästinensischen Verhältnis Reaktionen, Positionen und Problemreflexionen auslösen.
3. Die christlich-jüdische Beziehung in der Spannung von Religion und Politik
Je neu aufbrechende Verschärfungen im israelisch-palästinensischen Verhältnis reklamieren für die Theologie und den christlich-jüdischen Dialog wie von selbst eine Theologie des Landes. Die christliche Kenntnisnahme der grundlegenden Bedeutung des Landes für das jüdische Selbstverständnis ist noch nicht solche Theologie des Landes.[43] Sie ist noch keine Antwort auf die Frage, ob bzw. wie sich die biblisch verbürgten Verheißungen, an denen der Glaube Israels festhält, auf konkrete politische Gegebenheiten beziehen lassen. Die historisch-politischen Gegebenheiten und die theologischen Aspekte sind nur mit großer Wachheit behutsam in Beziehung zu setzen. Und solche Behutsamkeit ist erst recht in Zeiten kriegerischer Verschärfung des Nahost-Konflikts vonnöten.
Der Israel-Palästina-Konflikt wird besonders bei solchen Verschärfungen kontrovers und heftig diskutiert – so beim Israel-Libanon-Krieg vom 12. Juli bis 8. September 2006 oder Gaza-Krieg vom 27. Dezember 2008 bis 18. Januar 2009.[44] Durch die israelische Militäraktion gegen die „Solidaritätsflotte“ bzw. das Schiff „Mavi Marmara“ in der Frühe des Montagmorgens vom 31. Mai 2010 wurde die Debatte nicht zuletzt unter dem Eindruck eines Verlustes an strategischer Kompetenz von Israels Militär[45] mit den fatalen Folgen sowohl von neun Toten als auch für das Ansehen Israels erneut befeuert.[46] Die Politik des Staates Israel ist nach den Grundsätzen des internationalen Rechts zu verstehen und nicht unter die Forderungen eines ethischen Übermaßes zu stellen. Beides scheint zunehmend unter engagierten Katholiken missachtet. Das langjährige Bild von Israel als Heimstatt der Juden und ihrer Nachfahren, die der Schoa entronnen sind, ist teilweise dem Bild vom aggressiven Besatzerstaat gewichen. Manche Äußerung harscher Israelkritik ist nicht frei von judenfeindlicher Grundeinstellung.
Von jüdischen Frauen und Männern wurde z.B. die öffentliche Diskussion in den Tagen des Israel-Libanon-Krieges 2006 mit einem Wechselbad der Gefühle verfolgt und mitgeführt. Im Gespräch oder Mailaustausch mit ihnen begegnete damals ihre Empfindung, erneut allein gelassen zu werden. Denn auch Christen, die sich viele Jahre als Freunde des jüdischen Volkes und Israels erklärten, äußerten Kritik. Eine entsprechende Auseinandersetzung ergab sich z.B. in einem Mailaustausch der damaligen Tage. An diesem Austausch ließen John Pawlikowski, Professor für Sozialethik am Catholic Theological Seminary Chicago, Ruth Langer, jüdische Direktorin am Zentrum für jüdisch-christliches Lernen am Boston College, und Michael Signer, Rabbiner und Professor für jüdisches Denken und jüdische Philosophie an der Notre Dame University, ihre jüdischen und christlichen Freunde und Kollegen Anteil nehmen. Pawlikowski meinte unter Hinweis auf die katholische Tradition vom gerechten Krieg, im Zentrum der aktuellen Kontroverse stünde nicht die Frage des Rechts zum Krieg. Das Recht, sich mit militärischen Mitteln im Fall der Bedrohung zu verteidigen, würde für Israel angesichts des mehrmonatigen Raketenbeschusses durch die Hisbollah anerkannt. Es sei vielmehr die Frage des Rechts in der Kriegsführung, die von israelischer Seite nicht erklärt werde. Aber von einem Kriterium des „Rechts im Krieg“ könne man – so Ruth Langer in ihrer Entgegnung – nur sprechen, wenn beide Konfliktparteien einer ähnlichen ethischen Position folgten; sonst würde es zum Desaster. Die Rücksichtnahmen auf die Grenzen „gerechter Kriegsführung“ seien in Gaza und im Libanon stets als Schwäche und somit Begründung erneuter Attacken verstanden worden. Die Anwendung des Kriteriums des Rechts in der Kriegsführung – so die Gegenantwort von Pawlikowski – könne nicht von der moralischen Qualität oder dem Fehlen einer solchen auf eines der beteiligten Gegner abhängen. Die Fragen darum, wie eine kollektive Bestrafung moralisch zu bewerten ist, dürften nicht weiter vernachlässigt werden, wenn die Kluft zwischen Christen und Juden nicht größer werden soll. Beim Festhalten an der Notwendigkeit der Vermeidung einer kollektiven Bestrafung gebe es eine Grenze – so Ruth Langer –, wenn militärische bzw. terroristische Basen unter Zivilisten installiert werden. Und während es – so Michael Signer – Christen schwer fiele, die fast „inkarnatorische“ Beziehung von Juden zu Israel zu verstehen, so fällt es Juden schwer, die Unterscheidung zwischen einem Recht auf Krieg (als Grund und Auslösung von Krieg) und einem Recht im Krieg, zwischen dem jus ad Bellum und dem jus in Bello zu verstehen.
Solange jedoch um das Maß und die Grenze militärischer Intervention bzw. des Kriegsrechts gerungen wird, ist die Kritik Israels gegenüber der Gefahr gefeit, antiisraelisch oder antijüdisch zu sein. Genauere Kenntnis, konkretere Aufmerksamkeit und beharrlichere Wachheit im Blick auf beide Seiten eines Konflikts sind auf der Ebene des politischen Urteils vonnöten. Die Gefahr, Israel in seiner Existenz und Sicherheit zu delegitimieren, zu dämonsieren und mit einem Übermaß des Ethischen zu beurteilen, und so die Linie zum Antisemitismus zu überschreiten, ist im Blick zu behalten. Im israelisch-palästinensischen Konflikt steht nicht israelisches Unrecht gegen palästinensisches Recht, sondern beiderseits Recht gegen Recht, Unrecht gegen Unrecht, Gewalt gegen Gewalt, Verzweiflung gegen Verzweiflung, Hoffnung gegen Hoffnung. Dies aber erscheint wie vergessen, wenn sich ein Reflex immer wieder neu meldet und Vergleiche zwischen der Politik Israels und der Unpolitik des nationalsozialistischen Deutschlands zieht. Solcher Vergessenheit könnte entgegenwirken, wenn in Deutschland katholische Moraltheologen und jüdische Halachisten in einen Austausch über das ethische Dilemma kriegerischer Verschärfung im gegenwärtigen Nahen Osten eintreten würden. Hier gibt es gegenüber der nordamerikanischen Dialogsituation einen deutlichen Nachholbedarf.
Schluss
Die Beziehung zwischen Judentum und Christentum hat eine Entwicklung genommen, welche nach der Schoa nicht zu erwarten war. Das Zweite Vatikanische Konzil war eine Zeitenwende, die als Vermächtnis für das Pontifikat von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. wirkte und zum offiziellen Dialog zwischen Kirchen und Judentum führte. Die christlich-jüdische Beziehung ist praktizierte Wirklichkeit im Gespräch zwischen Einzelnen als persönliche Begegnung. Sie gibt vielfältige Veranlassung für den theologischen Austausch, bei dem das Zeugnis des Anderen in seinem Wahrheitsanspruch wahrgenommen sein will. Im wissenschaftlichen Diskurs jüdischer und christlicher Frauen und Männer zeigt sich das Fortschreiten in der Beziehung besonders durch eine stabile Kollegialität. Diese ermöglicht die freimütige und argumentative Auseinandersetzung angesichts religiöser Irritationen und politischer Kontroversen. Die Beziehung zwischen Judentum und Christentum ist ein gewiss störanfälliges, aber mittlerweile krisenerprobtes Miteinander. Sie ist besonders in Situationen der Bedrängnis und Bedrohung als Solidarität zu bewähren. Sie gibt Raum für eine gemeinsame Bezeugung einer Verantwortung für die Völker, und zwar im Sinne einer Inpflichtnahme durch den Gott Israels, der der Schöpfer und Herr der Welt ist.