Der 17. Januar als Tag des Judentums: Italienische Erfahrungen

„Wir empfehlen den Kirchen, dem Beispiel einiger Kirchen in Italien und Deutschland zu folgen und einen Tag zu bestimmen, der dem Dialog mit dem Judentum und der Begegnung mit dem lebendigen jüdischen Glauben gewidmet ist. In ähnlicher Weise sollten Tage und Anlässe gefunden werden, um die Beziehungen zu anderen Religionen zu pflegen und zu verlebendigen.“[1]

 Dieser Gedanke aus den Handlungsempfehlungen (Punkt 2.3) der Zweiten Europäischen Ökumenischen Versammlung in Graz (23. bis 29. Juni 1997) unterstreicht die ökumenische Bedeutung, die dem Dialog zwischen Christen und Juden (und Muslimen) beigemessen wird. Der Antrag war von der Katholischen Bischofskonferenz Italiens (CEI) eingebracht worden (vgl. FrRu 4[1997]195-197).

Maria Vingiani und Jules Isaac

Am Anfang dieses Prozesses stand Maria Vingiani. In Neapel geboren, kam sie als junges Mädchen nach Venedig, studierte Literatur in Padua und promovierte 1947 über die Kontroversen zwischen Katholiken und Protestanten im 18. Jahrhundert und ihre Aufnahme in den apologetischen Positionen der Gegenwart. In dieser Arbeit fand Maria Vingiani den Ausgangspunkt für ihr ökumenisches Engagement. Auch als kommunale Kulturreferentin in Venedig (1955-1959) wußte sie ihr ökumenisches Interesse mit ihrer neuen Aufgabe zu verbinden. Sie nahm Kontakte zu Kirchen in den Ländern des Ostblocks auf, in denen freie Religionsausübung verboten war. Auf ihren dienstlichen Reisen brachte sie auf geheimnisvollen Wegen Briefe des Patriarchen von Venedig, Angelo Roncalli, zu Kardinälen und Bischöfen, die in Hausarrest lebten (u. a. Josef Beran, Erzbischof von Prag, Stefan Wyszynski, Erzbischof von Gnesen).

In diese Jahre fielen auch erste Überlegungen, ein Segretariato attività ecumeniche (SAE)[2] zu gründen, das sie dann 1964 realisieren konnte.[3] Von der SAE sind seither zahlreiche ökumenische Initiativen ausgegangen. Heute ist sie eine über ganz Italien verbreitete Laienorganisation, die den interkonfessionellen und interreligiösen Dialog durch Seminare, Schriften und Diskussionsveranstaltungen sucht und fördert. Ohne die SAE ist die italienische Ökumene nicht mehr zu denken. Als Angelo Roncalli am 28. Oktober 1958 zum Papst gewählt wurde und als Johannes XXIII. am 25. Januar 1959 (letzter Tag der Gebetswoche für die Einheit der Christen) ein Konzil ankündigte, schrieb Maria Vingiani an ihren ehemaligen Patriarchen: „Wenn das Konzil ein ökumenisches Konzil sein wird, höre ich mit der Politik auf und komme nach Rom, um mich in den Dienst der Kirche zu stellen.“ Zehn Tage später kam die Antwort durch Monsignore Loris Capovilla: „Kommen Sie, der Papst erwartet Sie!“

Der erste Kontakt zwischen Maria Vingiani[4] und Jules Isaac fällt in das Jahr 1957. Isaac, nur durch ein Wunder der Schoa entgangen, ist einer der Wegbereiter des jüdisch-christlichen Dialogs und einer der bedeutendsten Vorreiter gegen jede Art von Antisemitismus.[5] Sein Buch „Jesus und Israel“ (1948, vgl. FrRu XXIII[1971]10-16) fand nicht nur in Frankreich große Aufnahme. Maria Vingiani war beeindruckt von der herausragenden Persönlichkeit Isaacs. Auf seine Anregung hin gründete sie in Venedig bereits eine „Gesellschaft für jüdisch-christliche Freundschaft“. Später schrieb sie:

        „Als Roncalli Papst wurde, verstand Isaac sofort, daß er auf den, der wenige Jahre zuvor bei der Einweihung einer Schiffahrtslinie Venedig-Haifa meinte, ,das sei schon eine gute Sache, aber eine Verbindung zwischen Rom und Jerusalem sei die bessere‘, daß er auf ihn als Papst ... all seine Hoffnung setzen konnte.“

Isaac bereitete ein Schriftstück über die „Notwendigkeit einer Reform der christlichen Unterweisung Israel betreffend“ vor, sandte es Johannes XXIII. und bat um eine Audienz. Dieser schien nichts im Wege zu stehen, doch bei seinem Eintreffen in Rom am 8. Juni 1960 wurde sie ihm verweigert. Das von Isaac vorbereitete Dokument war war nicht in die Hände des Papstes gelangt. Fünf Tage später, am 16. Juni 1960, gelang es Isaac, mit Hilfe des französischen Botschafters beim Heiligen Stuhl und auf Vermittlung von Maria Vingiani, eine halbstündige Audienz bei Johannes XXIII. zu bekommen. Neben dem genannten Dokument überreichte er dem Papst eine Abhandlung darüber, wie man in christlicher Katechese über die Juden spricht sowie einen Auszug aus dem Trienter Katechismus, der beweise, daß die gegen die Juden erhobene Anschuldigung des Gottesmordes nicht zur heilen Tradition der Kirche gehöre.[6] Isaacs Bemühungen resultierten im Dokument ,Nostra aetate‘, Absatz 4, das bis heute maßgeblich die Beziehungen zwischen der römisch-katholischen Kirche und dem Judentum bestimmt.

Die italienische Bischofskonferenz (CEI)

Die starke Ausrichtung auf den jüdisch-christlichen Dialog begleitete die SAE auch in den kommenden Jahren. Wegen ihres Engagements wurde Maria Vingiani in das Sekretariat für Ökumene und Dialog der CEI berufen. Hier brachte sie den Vorschlag ein, den 17. Januar in ganz Italien als einen Tag des Dialogs und der Begegnung mit dem Judentum zu begehen. Bei einem Treffen zwischen Monsignore Alberto Ablondi, Bischof von Livorno und damaliger Präsident des Sekretariats für Ökumene und Dialog der CEI, und Elio Toaff, dem Oberrabbiner von Rom, beklagte sich letzterer über einen wachsenden Antisemitismus, der in der Unwissenheit vieler Christen dem Judentum gegenüber begründet läge. Es wäre eine Initiative notwendig, so fügte er hinzu, Christen jüdische Glaubensinhalte und Werte nahezubringen. Diese Anfrage von Toaff verband Ablondi mit dem Vorschlag von Vingiani. Im Jahre 1990, 25 Jahre nach der Veröffentlichung von „Nostra aetate“, bat die CEI ihre Mitgliedskirchen in Italien zum ersten Mal, von nun an den 17. Januar der Vertiefung der Beziehung zwischen der römisch-katholischen Kirche und dem jüdischen Volk und der Entwicklung des jüdisch-christlichen Dialogs zu widmen. Ablondi schrieb:

        „... bevor man über die Möglichkeiten des Dialogs und über die notwendige Zusammenarbeit im Blick auf menschliche Werte nachdenke, mögen sich die Christen mit ihrer geistlichen Beziehung zu jenem gemeinsamen (im Judentum liegenden, Anm. des Verf.) Ursprung beschäftigen, zu dem auch die verschiedenen Konzilstexte einladen.“[7]

Der 17. Januar wurde bewußt gewählt. Es ist der Tag, der der ökumenischen Gebetswoche für die Einheit der Christen vorausgeht, die jedes Jahr weltweit vom 18. bis zum 25. Januar gehalten wird. So könne die gemeinsame Wurzel zwischen Christen und Juden auch als bedeutsam für den innerkirchlich-ökumenischen Dialog unterstrichen werden. Die Intention dieses Tages unterstrich Papst Johannes Paul II. bei seinem Besuch in der römischen Synagoge, als er sagte: „Ihr seid unsere bevorzugten Brüder und, man könnte gewissermaßen sagen, unsere älteren Brüder.“[8] Toaff selbst kommentierte den 17. Januar 1990, daß mit diesem Tage etwas Neues begonnen habe: die Lehre der Verachtung wurde abgeschafft und durch den Tag des Dialogs ersetzt.[9] Nach Monsignore Giuseppe Chiaretti, zur Zeit amtierender Präsident des Sekretariats für Ökumene und Dialog, ist dieser Tag kein Gebetstag, sondern ein Tag der Reflexion über Themen von beiderseitigem Interesse. Christen sollen, indem sie auf das Wort Gottes hören, in die Welt jüdischen Glaubens und jüdischer Kultur eindringen. Giuseppe Laras, Oberrabbiner der Mailänder Judenschaft, begrüßte die Initiative der CEI und hofft, daß sich Juden und Christen brüderlich in die Augen blicken mögen im Bewußtsein, daß beide, Juden und Christen, von Abraham abstammen.

Auf der Ökumenischen Versammlung in Graz wurde der Antrag der CEI von dem neapolitanischen Professor für Dogmatik, Monsignore Bruno Forte, einem hervorragenden Kenner jüdischer, ökumenischer und vor allem auch lutherischer Tradition, im Rahmen eines Vortrages „Versöhnung ohne Umkehr (teschuvà)? Christliches Selbstverständnis und das jüdische Volk“[10] eingebracht. Dies

        „... könnte die einladende Bitte an die Kirchen Europas sein, gemeinsam einen ,Tag des Judentums‘ zu feiern, um von seiten der Christen die Kenntnis der jüdischen Welt und den Dialog mit dem gegenwärtigen Israel zu vertiefen. Daß die katholische Kirche Italiens für diesen Tag den 17. Januar ausgewählt hat, den Tag, der der Gebetswoche für die Einheit der Christen vorausgeht, drückt in guter Weise auf der einen Seite die Selbständigkeit, auf der anderen Seite die Verbindung zwischen der ökumenischen Sache und der Liebe zu Israel, der ,heiligen Wurzel‘ aus; und dies in den verschiedenen Formen, also einerseits in der Kenntnisnahme und im Dialog, andererseits im gemeinsamen Gebet.“

Der Israel-Sonntag

Von der evangelischen Kirche Deutschlands wird seit dem Mittelalter[11] der 10. Sonntag nach Trinitatis als sogenannter ,Israel-Sonntag‘ zum ,Gedächtnis der Zerstörung Jerusalems‘[12] gefeiert. Da dieser Sonntag in zeitlicher Nähe zum 9. Av des jüdischen Kalenders liegt, an dem das Judentum ebenfalls der Zerstörung des Salomonischen und des Herodianischen Tempels gedenkt, liegt die Vermutung nahe, daß man damit andeuten wollte: ,Gott hatte Israel endgültig verlassen und ins Unglück gestürzt, weil es abgelehnt hatte, Jesus als den Messias zu bekennen.‘ Eine solche Interpretation ist heute aus theologischen und geschichtlichen Gründen nicht mehr möglich. Darum wird der Israel-Sonntag in der Evangelischen Kirche Deutschlands seit wenigen Jahrzehnten verstanden als ,Einübung, in Israels Gegenwart zu predigen‘.[13] Die Tatsache, daß es einen ,Israel-Sonntag‘ gibt, reicht nicht aus, um dem von der CEI vorgetragenen Anliegen gerecht zu werden, zumal auch im katholischen liturgischen Rahmen kein solcher Tag dem Anliegen gewidmet zu sein scheint. Darum sollte auch im deutschsprachigen Raum noch einmal über die Möglichkeit nachgedacht werden, den 17. Januar gemeinsam der Vertiefung der Kenntnis jüdischer Tradition und dem Dialog mit dem heutigen Israel zu feiern. Dieser Tag könnte zum einen die ökumenische Perspektive der Erwählung Israels beleuchten, zum anderen der innerkirchlichen Ökumene neue Impulse verleihen.

Der 17. Januar und die Weltgebetsoktav (18. bis 25. Januar)

Eine der wenigen innerkirchlich-ökumenischen Äußerungen, die den Dialog mit dem Judentum in ihr Denken mit einbezieht, ist in dem Papier ,Die Kirche Jesu Christi. Der reformatorische Beitrag zum ökumenischen Dialog über die kirchliche Einheit‘ zu finden, das auf der Vollversammlung der Leuenberger Gemeinschaft im Jahre 1994 in Wien erarbeitet und verabschiedet wurde.[14] Unter dem Punkt: ,Die Gemeinschaft der Heiligen in der Gesellschaft der Gegenwart‘ wird über die ,Kirche im Dialog‘ nachgedacht. Im ersten Punkt, der dem Dialog mit dem Judentum gewidmet ist, wird kurz das Verhältnis von Christentum und Judentum im Spiegel der Geschichte dargestellt und neu bestimmt. Wir lesen in einem der Schlußsätze dieses Abschnittes:

        „Die kritische und konstruktive Unterstützung [von Schwesterkirchen, für die die Begegnung von Juden und Christen zum Alltag ihres gesellschaftlichen und kirchlichen Lebens gehört und die nicht an Judenverfolgungen beteiligt waren. Anm. des Verfassers] in der Bearbeitung des Verhältnisses von Kirche und Judentum in den einzelnen Kirchen kann zu einem wichtigen Element der Kirchengemeinschaft reformatorischer Kirchen werden.“[15]

Erst im Folgenden wird das Verhältnis der Kirchen zu den anderen Religionen behandelt, um deutlich zu machen, daß das Verhältnis zu Israel ein qualitativ und fundamental anderes ist als das Verhältnis der Kirchen zu den anderen Religionen. Auch wenn das Papier von der Kirche als Volk Gottes spricht,[16] fehlt ihm nicht der Hinweis auf den untrennbaren Zusammenhang mit der Erwählung Israels als Volk Gottes und ergänzt, daß diese an Israel ergangene Verheißung mit dem Christusgeschehen nicht hinfällig geworden ist, denn Gottes Treue hält an ihr fest.

Aber das Leuenberger Kirchenpapier ist eine der wenigen Ausnahmen. Ansonsten ist die innerkirchliche Ökumene eher israelvergessen. Wenn die Kirchen ihr theologisches Verhältnis zum Judentum über das Ölbaumgleichnis (Röm 11,17 ff.) bestimmen, wird deutlich, daß die Kirche als ganze in den einen Ölbaum, Israel, eingepfropft ist und aus seiner Wurzel lebt. Ökumenische Arbeit bestünde also darin, die ihr von Gott geschenkte und vorgegebene Einheit sichtbar zu machen und Zeugnis davon zu geben.

Die Feier des 17. Januar als Begegnung mit jüdischer Tradition und jüdischen Menschen am Vortag der Ökumenischen Gebetswoche für die Einheit der Christen kann und wird das ökumenische Nachdenken anregen und fördern. Darum müßte der Beschluß von Graz in der praktischen Umsetzung durch die Kirchen Gestalt gewinnen. Der Tag würde dem innerkirchlich-ökumenischen Dialog dienen und auch die Beziehung der Christen zum Judentum fördern. Und damit wäre viel gewonnen.

Editorische Anmerkungen

*Holger Banse, Pfarrer, war bis 2012 Vorsitzender der Oberbergischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und Synodalbeauftragter des Kkr. Altenkirchen für Christlich-Jüdischen Dialog und Ökumene. In 2013 trat er eine Pfarrstelle in Adenau an. Seit 1992 ist er zudem Mitglied der Mailänder Gruppe „TESCHUVA“.
Quelle: Freiburger Rundbrief (Jahrgang 6/1999).