... denn er ist wie du ... Einer alten Übersetzung auf die Spur kommen

Zur Auslegungsgeschichte von 3. Mose 18,19.

»... denn er ist wie du ...«

Einer alten Übersetzung auf die Spur kommen.

Das vom Vorstand des DKR für 2001 vorgeschlagene Leitthema »... denn er ist wie du ...« geht auf die biblischen Weisungen der Nächsten- und Fremdenliebe zurück, wie sie in 3. Mose 19,18 und 34 überliefert sind. Auf den ersten Blick ist das freilich nicht deutlich. Gewöhnlich sind die beiden Gebote in einer anderen Fassung vertraut: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! — Den Fremden, der bei dir wohnt: Liebe ihn wie dich selbst!« So oder so ähnlich lauten die Verse in den geläufigen älteren und neueren christlichen Bibelübersetzungen — bei Luther und in der Zürcher Bibel, in der Jerusalemer Bibel und in der neuen Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift —‚ aber auch in den meisten jüdischen Bibelübersetzungen, angefangen von Moses Mendelssohn, über Leopold Zunz und Samson Raphael Hirsch bis zu Harry Torczyner (Tur-Sinai). Mit »Liebe deinen Nächsten, liebe den Fremden, denn er ist wie du« wird ein ungewohnter Ton angeschlagen, im Schlussteil gegenüber der gängigen Fassung ein offenkundig neuer Akzent gesetzt. Was steckt hinter dieser veränderten Textfassung? Wie ist sie zustande gekommen? Woher stammt sie? Zu weiteren Informationen über die Auslegungsprobleme und -geschichte von 3. Mose 18,19 vgl. Hans-Peter Mathys: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Untersuchungen zum alttestamentlichen Gebot der Nächstenliebe, Orbis Biblicus Orientalis 71, 1986, 6—9. 46—55.

Als Gewährsleute werden heute fast durchgehend Martin Buber und Franz Rosenzweig mit ihrer dem hebräischen Urtext besonders verpflichteten Bibelübersetzung ins Feld geführt. Aber das trifft keineswegs zu. Sowohl in der ersten (1927) wie in der überarbeiteten zweiten (1954) Fassung des großartigen Werkes ist nichts dergleichen zu finden.

Buber-Rosenzweig vermeiden zwar das übliche »wie dich selbst«, ersetzen dies aber nicht durch den Nachsatz »denn er ist wie du«, sondern durch die sprachlich sperrige Wendung »dir gleich« (und zwar in der 1. Auflage unmittelbar mit dem vorhergehenden »liebe deinen Genossen« verbunden, in der 2. Auflage indes davon durch ein Komma getrennt). Auch Schalom Ben Chorin oder Emmanuel Levinas kommt keineswegs, wie gelegentlich behauptet, das Urheberrecht zu. Der Brauch, das hebräische kamocha, mit dem die beiden biblischen Gebote der Nächsten- und Fremdenliebe (3. Mose 19,18 und 34) schließen, mit »er ist wie du« zu übersetzen, ist erheblich älter. Er begegnet bereits gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelegentlich bei jüdischen Autoren wie Moritz Lazarus, Hermann Cohen, Sigmund Maybaum und Leo Baeck. Seine Anfänge reichen aber noch weiter zurück. Die Einsicht, dass in 3. Mose 19,18 und 34 das hebräische kamocha im Sinne von »er ist wie du« zu verstehen ist und die beiden Liebesgebote entsprechend nicht auf den Gedanken der Selbstliebe als Grundlage der Nächsten- und Fremdenliebe hinauslaufen, diese Einsicht ist einem Zeitgenossen und Freund Moses Mendelssohns namens Naphtali Herz Wessely (1725–1805) zu verdanken. Wessely war einer der herausragenden Vertreter der Haskala, der jüdischen Aufklärungsbewegung; zu seiner Zeit bekannt als Sprachwissenschaftler, Exeget und Pädagoge und nicht zuletzt auch als Verfasser neuhebräischer Gedichte. Mendelssohn hatte ihn mit der Aufgabe betraut, einen Kommentar zu seiner deutschen Übersetzung des 3. Buches Mose zu schreiben. In diesem hebräisch verfassten Kommentar hat er sich unter anderem ausführlich zum Gebot der Nächstenliebe geäußert und dabei besonders eingehend den Sinn der Schlusswendung kamocha erörtert.

Seine dabei angestellten Überlegungen und Ausführungen zu 3. Mose 19,18 sind m. E. auch heute, nach 200 Jahren, noch durchaus lesens- und bedenkenswert. Sie werden daher im Folgenden neu zur Kenntnis gebracht. (Für manchen Rat bei der Übersetzung ins Deutsche ist Efrat Gal-Ed, Köln, zu danken).

Im Anschluss daran finden sich einige weitere Texte, die zeigen, wie in der Welt jüdischer Frömmigkeit und Gelehrsamkeit die von Wessely gelegte Spur der Auslegung von 3. Mose 19,18 und 34 weiterverfolgt und entfaltet worden ist. Alles keine einfache Kost, aber dennoch geeignet als Anstöße, um auch heute in der Spur zu bleiben und unter dem Motto »er ist wie du« allen gegenwärtig sich ausbreitenden Spielarten der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus den Kampf anzusagen und für eine offene, tolerante, humane Gesellschaft einzutreten.


Naphtali Herz Wessely

Biur (Erläuterung) zu 3. Mose 19,18

in: Moses Mendelssohn: Die fünf Bücher Mose zum Gebrauch der jüdischdeutschen Nation, Berlin 1783, 134a

»Und du sollst deinen Nächsten lieben dir gleich [kamocha].« Wenn es die Absicht [des Gebotes] wäre — wie [einige] Ausleger der Schrift s. A. meinen —‚ jeder Mensch solle [seinen Nächsten] lieben, wie er sich selbst liebt, wäre es höchst verwunderlich, würde es uns doch etwas gebieten, was jede Seelenkraft übersteigt. Denn es ist nicht möglich, dass der Mensch den Anderen neben ihm, gar einen ihm Fremden, [in derselben Weise] liebt, wie er sich selbst liebt. Auch ist es nicht möglich, Liebe oder Hass zu befehlen, denn der Mensch herrscht nicht über sie. [...] und ferner, wenn das so wäre, müsste er [dann nicht] auch trauern über die Not jedes Nächsten wie über seine eigene Not. Und [dann] wäre sein Leben kein Leben [mehr]; denn es gibt keine Stunde, in der man nicht sieht oder vernimmt die Not eines [Mitmenschen] aus Israel. Und ebenso verhält es sich mit der Güte, wenn gefordert wird: Man soll Gutes erweisen seinem Nachbarn, genauso wie man es sich selbst erweist. Auch das ist ein [rein] idealer [aber kein durchführbarer] Gedanke. Das hat, wie ich gesehen habe, schon Ramban [Nachmanides] s. A. gesagt, wenn er [im Blick auf das Gebot] » Und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« von »Übertreibung« spricht; denn der Mensch vermag in seinem Herzen nicht [einmal] seinen Freund so zu lieben, wie er sich selbst liebt. Und dem entspricht noch mehr, was R. Akiba gelehrt hat: »Dein Leben hat Vorrang vor dem Leben deines Freundes.« [...] Und dazu [kommt ein Weiteres]: Die Schrift hat nicht genau bestimmt [wen sie meint, wenn sie sagt]: »Und du sollst deinen Nächsten lieben« — den Gerechten und den Übeltäter, den Weisen und den Einfältigen? Ja, dies verwundert sehr. Aber wenn Raschbam [Samuel Ben Meir] s. A. sagt [im Blick auf das Gebot] »Und du sollst deinen Nächsten lieben dir gleich [kamocha]«: [Das gilt nur,] wenn dein Nächster gut ist, aber wenn er ein Übeltäter ist nicht, denn es steht geschrieben: »Die Furcht des Ewigen [ist] Hass des Bösen« (Sprüche 8, 13), dann ist diese Auslegung nicht annehmbar; denn dieses Gebot schließt ganz Israel ein. Und ich mache [dazu ferner] geltend, dass das Wort kamocha in der Sprache der heiligen Schrift diese Absicht nicht enthält, sondern kamocha [dort] die Bedeutung hat: der dir ähnlich ist wie [.. .1 [So wird in 1. Mose 44,18 Joseph von seinem Bruder Juda angesprochen]: »Denn du bist gleich wie Pharao«; [das heißt,] du gleichst in deiner Machtfülle der Machtfülle Pharaos. [So redet in 1. Mose 41,39 Joseph den Pharao an:] »Keiner ist so einsichtig und weise wie du«, [das heißt, keiner] gleicht dir, [keiner] ist dir ähnlich. Und so [heißt es auch in 2. Mose 15,11]: »Wer ist wie du unter den Göttern, Ewiger?« Und so ist es an allen [anderen] Stellen [wo das Wort kamocha vorkommt] und so auch hier [3. Mose 19,18]. Die Begründung [zu dem Gebot] »Du sollst deinen Nächsten lieben« [lautet]: Denn er ist wie du, er gleicht dir, er ist dir ähnlich; denn auch er wurde erschaffen im Bilde Gottes [siehe 1. Mose 1,26 f.; 9,6], und so ist er ein Mensch wie du. Und dies schließt alle Menschenkinder ein, denn sie alle wurden im Bilde [Gottes] erschaffen. Und entsprechend sagte R. Akiba [zu 3. Mose 19,18]: »Dies ist ein großer Grundsatz in der Tora.« Und R. Akiba selbst wiederholte diesen Grundsatz in seinem Lehrespruch [in dem es heißt]: »Geliebt [von Gott] ist der Mensch, denn er wurde geschaffen im Bilde [Gottes].«

(Mischna Abot 3,14) Und dies gilt auch dann, selbst wenn er Böses tut; er wurde erschaffen in der Ähnlichkeit Gottes zu herrschen und zu wählen und er vermag Gutes zu wählen. Und entsprechend sagte Ben Azzai: [Der Vers 1. Mose 5,1] »Dies ist das Buch der Nachkommen Adams« ist ein noch größerer Grundsatz, denn in diesem Schriftvers heißt es [weiter: »Am Tag, da Gott den Menschen schuf,] in der Ähnlichkeit Gottes macht er ihn«. Und so wiederholte Ben Azzai diesen großen Grundsatz in seinem Lehrespruch [‚ in dem es heißt]: »Achte jeden Menschen.« [Mischna Abot 4,3] Und so hat auch Salomo gesagt: »Es verachtet seinen Nächsten der Unverständige, doch der Verständige schweigt.« (Sprüche 11,12)

Und da wir das alles schon in unserer Erläuterung von Mischna Abot verdeutlicht haben, ist es [unverkennbar] angebracht, [den Vers 3. Mose 19,18] ins Deutsche zu übersetzen mit: »Liebe deinen Nächsten, weil er ist wie du.«


Moritz Lazarus

Die Ethik des Judentums (I), Frankfurt 1899, 352

Im Gesetzbuch, in der Thora, wird mit schlichten Worten gefordert: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« (3. Buch Mose 19,18) Und warum wie dich selbst? Weil er ist wie du!, ein Mensch, ein Kind Gottes, also in der erhabendsten Beziehung des Menschen: dein Bruder.


Leo Baeck

Die Schöpfung des Mitmenschen, in: Verband der Deutschen Juden (Hg.): Soziale Ethik im Judentum, Frankfurt 1914, 9—15: 11

Die Gottesebenbildlichkeit ist das, was jedem zukommt, jedem sein Gepräge gibt, mir nicht mehr, aber auch nicht weniger als irgendeinem andern. Wir gehören alle zu Gott, wir sind alle dieselben. Im Wichtigsten und Entscheidenden sind wir gleich, alle ohne Unterschiede; in jedem Menschen ist das Größte. Über die Grenzen, welche die Völker und die Rassen, die Stände und die Kasten, die Kräfte und Gaben abstecken wollen, geht die Einheit und geht die Hoheit des Menschlichen. Wer immer ein anderer ist, mag er fern oder fremd oder auch feindlich zu mir stehen, er gehört zu mir, als Wesen von meinem Wesen, mit mir von Gottes wegen verbunden. Er ist, wie das biblische Gleichniswort, das alles enthält, es besagt: mein »Bruder«, mein »Nächster«. Ich kann an mein Leben glauben, nur wenn ich an das seine glaube. Nur wenn ich vor ihm Ehrfurcht hege, habe ich die Ehrfurcht vor dem, was das Beste, das Menschlichste in mir ist. Damit ist erst der Mitmensch geschaffen und somit erst das ganze Menschenleben: ich und der andere als ein Untrennbares, als sittliche Einheit.

Seinen klassischen Ausdruck hat das in dem Satze der Thora gefunden, der gewöhnlich übersetzt wird: »Liebe deinen Nächsten wie dich.« In der ganzen Treue des Sinnes und dem eigentlichen Gehalte des Wortes sagt er: »Liebe deinen Nächsten, er ist wie du.« Auf diesem »wie du« liegt der ganze Nachdruck. Darin ist jene Einheit alles Menschlichen ausgesprochen, die den Sinn des Erdenlebens umschließt und weit mehr bedeutet, als das unbestimmte Wort von der Liebe.


Das Wesen des Judentums

2. Auflage, Frankfurt 1922, 204 f.; 4. Auflage, Frankfurt 1926, 210 f.

Der »Mitmensch« gehört im Judentum unlösbar zum »Menschen«. [...] Ich und der andere werden hier zu einer religiösen und sittlichen Einheit. Es gibt im Grunde keinen anderen. Es gibt hier keinen »Menschen« ohne den »Mitmenschen«. Keinen Glauben an Gott ohne den Glauben an ihn wie an mich. Als den großen Grundsatz der Thora hat daher einer der Meister aus dem Geschlechte nach der Zerstörung des Tempels, Ben Asai, den Satz bezeichnet, der von der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen spricht. »Ben Asai sagte: "Dies ist die Geschichte des Menschen: als Gott den Menschen schuf, machte er ihn in seinem Ebenbilde" — der Satz trägt die ganze Thora.«

Die Anerkennung, die wir dem andern schulden, ist demnach unbedingt und unbeschränkt; denn sie beruht ausschließlich darauf, dass er ein Mensch und darum ein Mitmensch ist, Wesen von meinem Wesen, Würde von meiner Würde. Das Wort aus dem dritten Buche Mosis, welches Akiba den bestimmenden Satz der Bibel genannt hat, das gemeinhin übersetzt wird: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, bedeutet in der ganzen Treue des Sinnes: »Liebe deinen Nächsten, er ist wie du.« In diesem »wie du« liegt der ganze Gehalt des Satzes. Der Begriff Mitmensch ist darin gegeben: Er ist wie du, er ist im Eigentlichen dir gleich, du und er sind als Menschen eins. Und dieses Wort ist hier nicht bloß Philosophie und nicht nur schwärmerische Sentimentalität, sondern unbedingtes Gebot, das Wort der deutlichen Forderung, dass wir in dem anderen den, der wie wir ist, ehren sollen. Nicht weil er vielleicht dieses oder jenes leistet und gilt, sollen wir ihn achten, sondern weil er Mensch ist. Sein Wert besteht in eben dem, was unseren Wert ausmacht; sein Wert ist in der Tiefe gegründet und zum Ziele emporgewiesen, ist unendlich, wie der unsere.

Wir können vor uns Ehrfurcht haben, nur wenn wir vor ihm auch Ehrfurcht hegen, Gott hat ihn wie uns gemacht. So hat es der Prophet hergeleitet: »Haben wir nicht alle einen Vater, hat uns nicht ein Gott erschaffen! Wie dürfen wir treulos sein einer gegen den anderen, den Bund unserer Väter zu entweihen!« In ein kurzes Wort hat einer der alten Weisen des Talmud, Ben Soma, es gefasst: »Ehre ist, die Menschen ehren.« Ähnlich hat auch sein Zeitgenosse, jener Ben Asai, es gesagt, um das »wie du« der Nächstenliebe zu seiner Höhe emporzuführen: »Sprich nicht: Weil ich gering bin, soll auch mein Nächster gering wie ich sein; weil ich verachtet bin, soll mein Nächster gleich mirverachtetsein.« Und einer der Lehrer nach ihm, Rabbi Tanchuma, fügte dem erläuternd zu: »Wenn du so tätest, wisse, wen du verachten würdest: ihn, den Gott in seinem Ebenbilde geschaffen hat.«


Franz Rosenzweig

Der Stern der Erlösung, 2. Auflage 1930 = 1954, II, 196

Die Liebestat des Menschen ist ja nur scheinbar Tat. Es ist ihm von Gott nicht gesagt, seinem Nächsten zu tun, was er sich selbst getan haben möchte. Diese praktische Form des Gebots der Nächstenliebe zum Gebrauch als Regel des Handelns bezeichnet in Wahrheit nur die untere negative Grenze, die es im Handeln zu überschreiten verbietet, und wird deshalb auch besser schon äußerlich in negativer Form auszusprechen sein. Sondern der Mensch soll seinen Nächsten lieben wie sich selbst. Wie sich selbst. Dein Nächster ist »wie du«. Der Mensch soll sich nicht verleugnen. Sein Selbst wird eben hier im Gebot der Nächstenliebe erst endgültig an seiner Stätte bestätigt. Die Welt wird ihm nicht als ein unendliches Gemeng vor die Augen gerückt, und mit dem hinweisenden Finger auf dies ganze Gemenge ihm gesagt: das bist du. Das bist du — höre also auf, dich davon zu unterscheiden, gehe in es ein, in ihm auf, verliere dich daran. Nein, sondern ganz anders: aus dem unendlichen Chaos der Welt wird ihm ein Nächstes, sein Nächster, vor die Seele gestellt, und von diesem und zu-nächst nur von diesem ihm gesagt: er ist wie du. »Wie du« also nicht »Du«. Du bleibst Du und sollst es bleiben. Aber er soll dir nicht ein Er bleiben und also für dein Du bloß ein Es, sondern er ist wie Du, wie dein Du, ein Du wie Du, ein Ich...

 Ebd. III, 18

 Liebe deinen Andern, er ist kein Andrer, kein Er, sonder ein Ich wie Du, »er ist wie du«


Martin Buber

Vorwort zu Hermann Cohen: Der Nächste, Berlin 1935, 6—7

»Sei hebend zu deinem Genossen als zu einem der wie du ist«, heißt es in der Schrift, und kurz danach, wie um durch die besondere Hervorhebung in alle Zeit jeden etwa möglichen Mißverstand auszuschalten: »Sei hebend zum Gastsassen als zu einem der wie du ist«. Rea, Genosse, ist der Mensch, mit dem ich gerade zu tun habe, der mir eben jetzt begegnende Mensch, der Mensch also, der mich in diesem Augenblick »angeht«, gleichviel ob er mir volkeigen oder volksfremd ist. Ich soll, buchstäblich übersetzt, »ihn lieben«: mich ihm hebend zuwenden, ihm Liebe erzeigen, Liebe antun; und zwar als einem, der »wie ich« ist: liebesbedürftig wie ich, der Liebestat eines Rea bedürftig wie ich — wie ich es eben von meiner eignen Seele her weiß. Daß es so zu verstehen ist, ergibt sich aus den auf den zweiten Satz folgenden Worten: »Denn Gastsassen seid ihr im Land Ägypten gewesen« — oder, wie es anderswo noch deutlicher heißt: »Ihr kennt ja die Seele des Gastsassen, denn Gastsassen seid ihr im Land Ägypten gewesen«. Ihr kennt diese Seele und ihre Not, ihr wißt, wessen sie bedarf, und darum, ihr, denen es einst verweigert worden ist, verweigert es nun nicht!

Wagen wir es, von da aus die Begründung des ersten Satzes in Worte zu fassen. Sei hebend zu deinem Mitmenschen als zu einem der wie du ist — ihr kennt ja die Seele des Menschen, dem es nottut, daß man hebend zu ihm sei, denn Menschen seid ihr und leidet selber die Menschennot.

So ist eine Botschaft des »alten Testaments« zu lesen.


Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten II:

1918—1939, Heidelberg 1973, 632

Brief vom 27. 1. 1937 an Hans Kosmala

Das vierte Wort des ersten Satzes [von 3. Mose 19,18] ist keineswegs zu verstehen: »Wie dich selbst«, sondern »dir gleich«, »als dir gleich«. Das, woran hier gerührt wird, ist die Ebenbildlichkeit, aber auch jene Grundtatsache der menschlichen Empfindung, auf die immer wieder Bezug genommen wird, wo in den Geboten, die die Behandlung des Ger (Gastsasse) und des Knechts betreffen, gesagt wird: »Ihr kennt seine Seele, denn ihr seid es selber einmal gewesen.«


Emmanuel Levinas

Wenn Gott ins Denken fällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, Freiburg/München 1985 = 1999, 115

Was den Bibeltext(3. Mose 19,18) betrifft, [...] so sehe ich mich in erheblich größerer Verlegenheit als die Übersetzer [die den Vers mit »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« wiedergeben]. Was bedeutet »wie dich selbst«? Buber und Rosenzweig kamen hier mit der Übersetzung in größte Schwierigkeiten. Sie haben sich gesagt: »wie dich selbst«, bedeutet das nicht, daß man am meisten sich selbst liebt? Abweichend von der [...] [verbreiteten] Übersetzung, haben sie übersetzt: »Liebe deinen Nächsten, er ist wie du.« Doch wenn man schon dafür ist, das letzte Wort des hebräischen Verses, kamocka, vom Beginn des Verses zu trennen, dann kann man das Ganze auch noch anders lesen: »Liebe deinen Nächsten, dieses Werk ist wie du selbst«; liebe deinen Nächsten, das bist du selbst; »diese Liebe des Nächsten ist es, die du selbst bist«. [...] [Ob] dies eine äußerst gewagte Lesart darstellt? Aber das Alte Testament verträgt mehrere Lesarten, und erst wenn das Ganze der Bibel zum Kontext des Verses wird, klingt der Vers in seinem vollen Sinn.

Editorische Anmerkungen

Quelle: "...denn er ist wie du", Themenheft 2001, hrsg. v. Deutscher Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR), Bad Nauheim.