“Den Juden zuerst und auch den Griechen“
Eine Schneise durch den Römerbrief

Das zentrale Thema des Römerbriefs verfolgt ein doppeltes Ziel: Einerseits will er zwar die Grenze zwischen Israel und den Völkern in zweifacher Hinsicht einreißen, indem er einmal herausstellt, dass alle unter der Sünde sind, und zum anderen betont, dass durch Gottes Handeln in dem Gesalbten Jesus auch die Völker Zugang zu Gottes reichem Erbarmen haben. Aber andererseits hält er doch entschieden an der Besonderheit Israels fest und stellt sie betont heraus.

„Den Juden zuerst und auch den Griechen“

Eine Schneise durch den Römerbrief

Gestern habe ich zu zeigen versucht: erstens, was Paulus vor seiner Berufungserfahrung herausgefordert hat, dass er an Jesus als Messias glaubende Landsleute bedrängte, und zweitens, wie er von daher das „Damaskuserlebnis“ als Berufung zum „Apostel für die Völker“ verstehen musste. Es hat sich ergeben, dass ihm damit von vornherein das Problem des Verhältnisses der Völker zum Gott Israels und damit auch zum Volk Israel vorgegeben ist.

Meine These ist nun: Das ist sein zentrales Thema gerade auch im Römerbrief – und nicht die Rechtfertigung. Er verfolgt in diesem Brief ein doppeltes Ziel: Einerseits will er zwar die Grenze zwischen Israel und den Völkern in zweifacher Hinsicht einreißen, indem er einmal herausstellt, dass alle unter der Sünde sind, und zum anderen betont, dass durch Gottes Handeln in dem Gesalbten Jesus auch die Völker Zugang zu Gottes reichem Erbarmen haben. Aber andererseits hält er doch entschieden an der Besonderheit Israels fest und stellt sie betont heraus. Im Hintergrund stehen die konkreten Auseinandersetzungen seiner Zeit.

Das ist einmal die Frage, ob die durch die Evangeliumsverkündigung von Jesus als dem Gesalbten zum Glauben an den einen Gott Israels hinzukommende Menschen aus den Völkern in das Volk Israel integriert werden müssen, um ganz dazu zu gehören, d.h. für Männer, ob sie beschnitten werden müssen, oder nicht. Diese Frage schien auf dem Apostelkonvent geklärt gewesen zu sein. Wie der Galaterbrief und der Philipperbrief zeigen, war sie jedoch erneut aufgebrochen.

Und es ist zweitens das Problem, wie das Zusammenleben zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen in gemischten Gemeinden geregelt werden soll, ob unter jüdischen oder nichtjüdischen Bedingungen. D.h. konkret, ob jüdische Menschen darauf verzichten, ihre spezifisch jüdische Lebensweise in diesem Zusammenleben zu praktizieren, oder ob ihnen die nichtjüdischen Mitglieder der Gemeinde solche Praxis ermöglichen, indem sie selbst einige Minimalforderungen der Tora in dieser Hinsicht einhalten. Es ist klar, dass für Paulus von seiner Biographie her die zweite Möglichkeit schlechterdings ausgeschlossen war. Hatte er doch als „Eiferer“ jüdische Landsleute bedrängt, die im Zusammenleben mit Menschen aus der Völkerwelt die Praktizierung jüdischer Lebensweise aufgegeben hatten, und war ihm durch seine Berufung klar gemacht worden, dass die von ihm Bedrängten im Recht waren. Das Zusammenleben unter nichtjüdischen Bedingungen war daher für ihn in höchster Weise legitimiert. Von daher hat er sich entschieden dagegen gewandt, dass Menschen aus den Völkern Forderungen der Tora für sich übernehmen, die die spezifisch jüdische Lebensweise betreffen und Israel von den Völkern abgrenzen. Genau darum ging es meiner Einsicht nach bei dem berühmten Streit zwischen Paulus und Petrus in Antiochia, von dem Paulus in Gal 2,11-14 berichtet.

„Werke des Gesezes“

In diesem Zusammenhang will ich gleich eine wichtige These meines Zugangs zum Römerbrief vorweg nennen. Bei der Wendung érga nómou, von Luther wiedergegeben mit „Werke des Gesetzes“, geht es nicht um das Tun überhaupt, um das von der Tora geforderte ethische Verhalten im Allgemeinen, sondern ganz spezifisch um diejenigen Gebote der Tora, die jüdische Lebensweise von nichtjüdischer abgrenzen. Ich gebe die Wendung érga nómou deswegen nicht mit „Werke des Gesetzes“ wieder, sondern mit der Umschreibung: „was die Tora an religiöser Praxis fordert“. Paulus hat die Auseinandersetzung ins Grundsätzliche vorangetrieben. Als deren konkrete Hintergründe nicht mehr präsent waren, nachdem die Kirche faktisch nur noch Völkerkirche war, konnten seine Aussagen gelesen werden, als richteten sie sich gegen das von der Tora geforderte Tun überhaupt.

Ich gehe nun so vor, dass ich einige wichtige Stellen des Römerbriefes bespreche und an ihnen zu zeigen versuche, dass die angedeutete Perspektive ein Verstehen des Briefes erschließen kann.

In 1,5, noch bei der Angabe des Absenders, sagt Paulus über sich: Durch den (nämlich den Gesalbten Jesus) haben wir es empfangen, ein begnadeter Gesandter zu sein, damit seinem Namen in allen Völkern vertrauensvoll gefolgt werde

Was sich aus den Aussagen des Paulus über seine Berufungserfahrung erschließen ließ, das wird auch hier am Anfang des Römerbriefes ausdrücklich von ihm gesagt: Die auf Jesus bezogene messianische Botschaft schließt die Völker ein; an sie weiß sich Paulus gesandt. Seine auf die Völker ausgerichtete Aufgabe stellt Paulus auch am Ende des nächsten Abschnitts heraus. Nachdem er in 1,12 vermerkt hat, bisher verhindert worden zu sein, nach Rom zu kommen, fährt er in V.13f. fort:

Gerne hätte ich auch bei euch etwas Ernte eingefahren, wie es auch unter den übrigen Völkern der Fall war. Griechen sowohl als auch Barbaren, Gebildeten und Ungebildeten bin ich verpflichtet. So bin ich bereit, auch euch in Rom zu verkündigen.

Als Apostel ist Paulus der nichtjüdischen Welt verpflichtet. Sie kennzeichnet er hier unter griechischer Perspektive. Für Griechen sind alle anderen Barbaren, was kulturelle Rückständigkeit meint. In der hellenistisch-römischen Welt sind Römer unter diesem Gesichtspunkt Griechen; schließlich schreibt Paulus seinen Brief nach Rom auf Griechisch. Aus griechischer Sicht sind unter der Wendung „Griechen und Barbaren“ alle eingeschlossen, für Paulus sind dabei Juden selbstverständlich ausgenommen. Für ihn ist mit dieser Wendung die nichtjüdische Welt zusammengefasst. Als dieser nichtjüdischen Welt Verpflichteter will er nach Rom kommen.

Mit V.16 knüpft Paulus zwar unmittelbar an das gerade Ausgeführte an, führt aber zugleich weiter zur Angabe des Themas des Briefes. Das umschreibe ich in folgender Weise: Gott hilft auch nichtjüdischen Menschen, indem er sich denen solidarisch erweist, die auf ihn vertrauen. Ich übersetze V.16f. in folgender Weise:

Schäme ich mich doch der guten Botschaft nicht. Sie ist ja eine Kraft Gottes, die allen hilft, die darauf vertrauen, jüdischen Menschen zuerst, aber auch griechischen. Gottes Solidarität nämlich wird in ihr offen gelegt, die aus Gottes Treue erwächst und zum Vertrauen auf ihn führt, wie geschrieben steht: ‚Der Gerechte wird aufgrund von Treue und Vertrauen leben’ (Hab 2,4)

Auch hier will ich jetzt nur auf einen Aspekt eingehen. Paulus sagt, dass die gute Botschaft, das Evangelium, als Kraft Gottes – ich biete jetzt Luthers Übersetzung – „selig macht alle, die daran glauben“. Warum lässt er darauf noch folgen – wieder nach Luther: „die Juden zuerst und ebenso die Griechen“? In den Kommentaren wird in der Regel damit geantwortet, weil er die universale Dimension betonen wolle. Aber die ist ja schon mit dem Wort „alle“ gegeben; mehr als „alle“ gibt es nicht. Mit seiner Weiterführung bietet Paulus ja einerseits eine Differenzierung („Juden“ und „Griechen“) und andererseits eine Gewichtung („die Juden zuerst“). Weshalb? Die Differenzierung hier ist sachlich gerade nicht derjenigen von V.14 parallel. Denn aus der Zusammenstellung „Griechen und Barbaren“ hatte Paulus in aller Selbstverständlichkeit die Juden ausgeschlossen. Jetzt, wo es ihm in der Tat um alle geht, nimmt er die biblisch-jüdische Grundunterscheidung zwischen dem Volk Israel und den Völkern auf, zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen. Die Griechen stehen jetzt pars pro toto für die ganze nichtjüdische Welt. „Jüdischen Menschen zuerst“: Dieses „zuerst“ kann Paulus nur bezogen verstehen auf die in seiner jüdischen Bibel bezeugte besondere Bundesgeschichte Gottes mit seinem Volk Israel. Gottes Handeln, wie die Bibel es bezeugt, bezieht sich primär auf das von ihm erwählte Volk; und so ist es für Paulus ganz selbstverständlich, dass auch das im Evangelium bezeugte Handeln Gottes primär Israel betrifft. Aber da er sich vorher betont als jemanden hingestellt hat, der als Verkündiger des Evangeliums den Völkern verpflichtet ist und das seinen Wunsch begründete, die gute Botschaft auch nach Rom zu bringen, liegt für ihn der Ton auf dem Ende von V.16: „aber auch griechischen“.

Hier findet sich also in den programmatisch-thematischen Aussagen am Beginn des Römerbriefes in nuce das Problem angegeben, wie ich es vorher zu Beginn beschrieben habe: Einerseits hebt er den Unterschied zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen auf, und zwar unter dem Gesichtspunkt des Vertrauens auf den im Evangelium wirkenden Gott und des Glaubens an ihn. Dennoch hält er mit dem „zuerst“ zugleich an diesem Unterschied und damit an der Besonderheit Israels fest. Das ist hier nur eben mit dem „zuerst“ markiert; aber es ist nichtsdestotrotz unübersehbar – wenn man denn den Text wahrnimmt. Käme es Paulus nur auf die Aufhebung des Unterschiedes an, müsste und dürfte er das „zuerst“ nicht setzen.

„Dass alle unter der Sünde sind“

In 1,18-3,20 setzt Paulus negativ ein. Hier hebt er den Unterschied zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen in der Hinsicht auf, „dass alle unter der Sünde sind“ (3,9). Dabei ist ihm wichtig, was er schon in 1,20 betont, dass es keine Entschuldigung gibt. Menschen in Israel können sich nicht herausreden, da sie ja die Tora haben, die sie sehr konkret dazu anhält, in Verantwortung vor Gott zu leben. Aber auch Menschen aus den Völkern könnten es besser wissen; sie müssen nicht ahnungslos im Blick auf Gott sein.

Sehr aufschlussreich ist es, wie Paulus den Unterschied von jüdischen und nichtjüdischen Menschen in 2,12-29 unter der Perspektive des Gerichtes Gottes aufhebt. In 2,12f. stellt er grundsätzlich und thetisch voran: Denn alle, die unabhängig von der Tora gesündigt haben, werden auch unabhängig von der Tora zugrunde gehen; und über alle, die im Geltungsbereich der Tora gesündigt haben, wird auch durch die Tora geurteilt werden (= gemäß den in ihr geltenden Maßstäben). Denn nicht diejenigen, die lediglich die Tora hören, sind bei Gott gerecht, sondern diejenigen werden gerechtfertigt werden, die die Tora tun. Paulus stellt hier fest, was im Judentum selbstverständlich ist, dass Gott Fehlverhalten innerhalb und außerhalb des Geltungsbereiches der Tora richten wird. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Unterschied irrelevant, weil es nicht auf bloße Kenntnis der Tora ankommt, sondern auf ihr Tun. Bemerkenswert ist, dass Paulus in diesem Zusammenhang in V.13 Rechtfertigungsterminologie gebraucht, d.h. in Bezug auf das von der Tora geforderte Tun.

Die Aufhebung des Unterschieds zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen gelingt Paulus in diesem Zusammenhang, indem er zwei Extrembeispiele nebeneinander stellt. Einmal setzt er den für Menschen aus den Völkern günstigsten Fall, dass sie nämlich das von der Tora Geforderte aufgrund des Gewissens und widerstreitender Erwägungen angesichts anstehender Handlungen tun und damit die von der Tora geforderte Tat als in ihren Herzen eingeschrieben erweisen (2,14-16). Und zum anderen setzt er den für jüdische Menschen denkbar negativsten Fall, dass sie als von der Tora Unterrichtete sie dennoch verfehlen (2,17-24). Hier bringt er zunächst eine Kette von Voraussetzungen, die jüdisches Selbstverständnis zum Ausdruck bringen: Wenn du als Jude bezeichnet wirst, dich auf die Tora stützst und dich Gottes rühmst, Gottes Willen erkennst und prüfst, worauf es ankommt, unterrichtet aus der Tora, und es dir zutraust, ein Führer der Blinden zu sein, ein Licht derer, die im Dunkeln sind, ein Erzieher der Unverständigen, ein Lehrer der Unmündigen, der die Verkörperung von Erkenntnis und Wahrheit in der Tora hat. (V.17-20).

Es ist für das Verständnis des Abschnitts elementar, dass die hier genannten Voraussetzungen von Paulus nicht als negative Aussagen verstanden sein können, sondern außerordentlich positiv gemeint sind. Nur so kann die anschließende Argumentation mit den rhetorischen Fragen funktionieren. Sie nennen ja ein negatives Handeln, das dem in den Voraussetzungen Gesagten widerspricht, das dann also positiv verstanden sein muss: „Du lehrst andere, aber lehrst dich selbst nicht? Du verkündest, nicht zu stehlen, stiehlst aber?“ (usw. V.21-23) David Flusser hat auf eine sachliche Parallele in der rabbinischen Literatur aufmerksam gemacht. In bJom 86a wird das Auseinanderfallen von Lehre und Leben in folgender Weise gegeißelt:

Wer die Schrift liest, die Tora lernt und den Schülern der Weisen dient, aber im Handel nicht verlässlich und in seinem Reden mit den Menschen nicht freundlich ist – was sagen die Menschen über ihn? Wehe diesem Menschen, der Tora gelernt hat! Wehe seinem Vater, der ihn Tora gelehrt hat! Wehe seinem Lehrer, der ihn Tora gelehrt hat! Dieser Mensch, der Tora gelernt hat – seht nur, wie verkommen seine Taten sind, wie verdorben seine Wege! Über ihn sagt die Schrift: „Man sagt über sie: Volk Adonajs sind sie; und doch mussten sie aus ihrem Land ausziehen“. (Ez 36,20)

Nach dieser Relativierung, die in 2,25-29 in ausdrücklichen Folgerungen vorgenommen wird, sieht sich Paulus veranlasst, in 3,1f. zwischendurch an die Besonderheit Israels zu erinnern: „Was ist dann der Vorzug jüdischer Menschen oder was der Nutzen der Beschneidung? Viel in jeder Hinsicht! Zuerst nämlich der, dass sie mit den Worten Gottes betraut worden sind.“ Das wird hier aber nur kurz festgestellt; und dem „erstens“ folgt kein „zweitens“ und „drittens“. In diesem Zusammenhang kommt es Paulus vielmehr auf den Nachweis an, dass der Vorzug des Judentums das Urteil nicht aufhebt, dass alle Menschen unter der Sünde sind. Gegenüber der Verlässlichkeit Gottes „trügt jeder Mensch“ (V.4). So ruft er in V.9b in Erinnerung: Wir haben ja vorher die Anklage erhoben, dass jüdische Menschen sowohl als auch griechische – alle! – unter der Herrschaft der Sünde stehen.

Auf diese These lässt er in V.10-18 eine Kette von Zitaten aus Psalmen und Propheten folgen, die sie aus der Schrift belegen. In V.19 spitzt er zu, dass dieses Stehen unter der Herrschaft der Sünde gerade für jüdische Menschen gilt; ist doch die Tora – damit meint er hier die ganze jüdische Bibel – an sie gerichtet: Wir wissen: Alles, was die Tora sagt, redet sie zu denen im Geltungsbereich der Tora“, also zu Israel, zu Jüdinnen und Juden. Als Ziel solchen Sagens gibt Paulus an, „damit ihnen allen das Maul gestopft werde.

Die eigene Bibel sagt zu denen, die auf sie hören, dass niemand gerecht ist, sondern alle der Sünde verfallen sind. Und dann gilt, dass „die ganze Welt“, einschließlich der jüdischen, „vor Gott schuldig ist“.

„…was die Tora an religiöser Praxis fordert“

Gerade von der Tora her hat also Paulus den Unterschied zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen hinsichtlich ihrer aller Schuld vor Gott negiert. Der im Leben feststellbare Unterschied erweist sich in der unterschiedlichen Lebensweise, dass sich also Jüdinnen und Juden an bestimmte Forderungen halten, die die Tora ihnen gebietet. Sie konnten schon in den Blick kommen, als Paulus in V.19a vom „Geltungsbereich der Tora“ sprach. Ist davon die Rede, schieben sich ganz von selbst diejenigen von der Tora gebotenen oder verbotenen Handlungen in den Vordergrund, die jüdische Lebensweise von nichtjüdischer abgrenzen. Genau sie dürften mit der Wendung érga nómou – „Werke des Gesetzes“ – gemeint sein, die jetzt in V.20 zum ersten Mal im Römerbrief begegnet. Paulus gebraucht sie nur in bestimmten Zusammenhängen, im Ganzen recht selten, wo es um die Frage der Beschneidung für Nichtjuden und um das Einhalten spezifisch jüdischer Vorschriften durch sie geht. Er hat jetzt festgestellt: Das, was Jüdischsein ausmacht, die sich vor allem in der Beschneidung und in der besonderen Lebensweise manifestierende Unterscheidung, lässt jüdische Menschen hinsichtlich des Verfallenseins an die Sünde gerade nicht von anderen Menschen unterschieden sein. Ich gebe deshalb érga nómou wieder mit „was die Tora an religiöser Praxis fordert“. Paulus folgert in V.20a: „Daher wird aufgrund der von der Tora geforderten religiösen Praxis kein Mensch aus Fleisch und Blut sich vor Gott als gerecht erweisen“ bzw. „als unschuldig“. Es ist daher für nichtjüdische Christusgläubige überhaupt nicht angebracht, sich an diese spezifisch jüdische Praxis halten zu wollen. So gelesen, ergibt sich auch kein Widerspruch zu der in 2,13 gemachten Aussage: „Die Täter der Tora werden gerechtfertigt werden“ bzw. „sich als unschuldig erweisen“.

Natürlich gilt es für Paulus mit seiner jüdischen Tradition auch grundsätzlich, dass sich kein Mensch vor Gott rechtfertigen kann. So hatte er Psalm 143,2 anklingen lassen, wo es heißt: „Geh doch nicht mit deinem Knecht ins Gericht, denn vor Dir wird kein Lebendiger gerechtfertigt“ bzw. „sich als gerecht erweisen.“ Entsprechend heißt es in bAr 17b: „Wenn der Heilige, gesegnet er, mit Abraham, Isaak und Jakob ins Gericht ginge, könnten sie vor der Zurechtweisung nicht bestehen.“ Die Einsicht, dass sich kein Mensch vor Gott rechtfertigen kann, wird in aller Deutlichkeit in MTeh 143,1 ausgesprochen: Wer kann am Tag des Gerichts sagen: Rein bin ich von meiner Sünde? Kein Mensch kann bestehen. Und so sagt die Schrift: ‚Und wer kann den Tag seines Kommens ertragen und wer bestehen bei seinem Erscheinen?‘ (Mal 3,2) … Kein Mensch kann sich selbst im Gericht rechtfertigen. Warum? ‚Fürwahr, sie werden sich an dir verfehlen. Fürwahr, es gibt keinen Menschen, der nicht verfehlt‘ (1Kön 8,46). Und so sagt die Schrift: ‚Fürwahr, kein Mensch ist gerecht auf der Erde, der Gutes tue und nicht verfehle‘ (Koh 7,20).

An die Aussage, dass aufgrund der von der Tora geforderten religiösen Praxis niemand sich vor Gott als schuldlos erweisen wird, schließt Paulus als Erläuterung an: „Wird doch durch die Tora die Sünde erkannt.“ Das ist nicht als Grundsatzaussage derart zu verstehen, dass damit die Tora auf die ausschließliche Funktion festgelegt wird, der Sündenerkenntnis zu dienen. Die Aussage ergibt sich vielmehr aus dem eben erst geführten Aufweis: Gerade die Tora ist es, die die Augen dafür öffnet, dass sich niemand vor Gott rechtfertigen kann. Es gibt in dieser Hinsicht keinen Unterschied zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen. Daher ist es für Paulus auch ein Unding, wenn sich nichtjüdische Menschen an die von der Tora geforderte religiöse Praxis halten wollen, die Israel geboten ist.

Hatte Paulus bis hierhin im Römerbrief den Unterschied zwischen Israel und den Völkern in negativer Hinsicht eingeebnet, so geht er jetzt dazu über, diesen Unterschied auch in positiver Hinsicht zu vergleichgültigen: Durch die in dem Gesalbten Jesus gezeigte Freundlichkeit Gottes erweist sich Gott allen solidarisch, macht er alle gerecht, die darauf vertrauen, daran glauben. Es ist m. E. von entscheidender Wichtigkeit zu erkennen, dass Paulus bei dieser positiven Vergleichgültigung in dem zentralen Abschnitt 3,21-31 nicht Gnade gegen Leistung, nicht Glauben gegen Werke setzt, wobei dann für Leistung und Werke das Judentum stehen muss. Bei der Auslegung dieses außerordentlich gedrängten Textes fallen wichtige Entscheidungen schon bei der Übersetzung. Ich gebe zunächst meine:

Jetzt nun ist außerhalb des Geltungsbereiches der Tora Gottes Solidarität sichtbar geworden, wie es bezeugt ist von der Tora und den Propheten, nämlich Gottes Solidarität durch die Treue des Gesalbten Jesus für alle, die darauf vertrauen. Es gibt ja keinen Unterschied; denn alle haben gesündigt, und es fehlt ihnen am Glanz Gottes, umsonst gerecht gemacht durch Gottes Freundlichkeit, durch die Befreiung, und zwar in Jesus, dem Gesalbten. Den hat Gott – durch Treue – in dessen Blut zum Aufweis der Solidarität Gottes als Sühne eingesetzt, um so die Sünden zu erlassen, die vorher geschehen sind, als Gott es hingehen ließ – zum Aufweis der Solidarität Gottes hier und heute, sodass Gott gerecht ist und die gerecht macht, die sich auf die Treue Jesu gründen. Wo also ist der Ruhm? Er ist ausgeschlossen worden. Durch welchen Aspekt der Tora? Dessen, was sie an religiöser Praxis gebietet? Nein! Vielmehr durch die Tora von Treue und Vertrauen. Wir rechnen nämlich darauf, dass ein Mensch durch Treue und Vertrauen gerecht gemacht wird unanhängig von dem, was die Tora an religiöser Praxis gebietet. Oder ist etwa Gott allein Gott des jüdischen Volkes? Nicht auch der Völker? Ja, auch der Völker! So gewiss Gott einzig ist und das Volk der Beschneidung gerecht machen wird aufgrund von Treue und Vertrauen und die Völker der Unbeschnittenheit durch Treue und Vertrauen. Setzen wir also die Tora außer Geltung durch die Betonung von Treue und Vertrauen? Keineswegs! Vielmehr: Wir richten die Tora auf.

Ich kann selbstverständlich nicht auf alle Aspekte dieses Textes eingehen. Ich bespreche nur wichtige Weichenstellungen. Die erste erfolgt gleich am Anfang. Bei Luther heißt es: „Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes“. Was aber soll „ohne Zutun“ bedeuten, wenn Paulus sofort anschließend feststellt, dass das von ihm hier Ausgesagte „von der Tora und den Propheten bezeugt wird“? Und weiter: In V.19 hatte Paulus die Wendung en to nómo gebraucht, wörtlich: „in der Tora“ bzw. „im Gesetz“, bei Luther: „unter dem Gesetz“. Sachlich ist also gemeint: „im Geltungsbereich der Tora“. Dazu ist die am Beginn von V.21 gebrachte Wendung ein genauer Gegenbegriff: „außerhalb des Geltungsbereiches der Tora“. Und das passt zu der betonten Herausstellung der Völker in V.29, die dort ebenfalls in Beziehung zu Gott gebracht werden. Gottes Gerechtigkeit, Gottes Solidarität – hier wird die bei der Themenangabe in 1,17 gebrachte biblische Wendung aufgenommen, die Gottes helfendes und rettendes Handeln gegenüber seinem Volk Israel und in ihm besonders gegenüber den Schwachen und Armen zum Ausdruck bringt – diese Solidarität Gottes also ist jetzt „außerhalb des Geltungsbereiches der Tora sichtbar geworden“, hat sich also auch gegenüber den Völkern erwiesen. Hier liegt die Intention des Paulus.

Die Gnade Gottes – auch außerhalb des Geltungsbereiches der Tora

Dass alles an Gottes Gnade hängt und dass also der Glaube, das Vertrauen eine ganz entscheidende Rolle spielt, wird hier selbstverständlich von Paulus betont. Aber darin unterscheidet er sich gar nicht von seiner Tradition. Der springende Punkt für ihn ist, dass das durch den Gesalbten Jesus auch für die Menschen aus den Völkern gilt. Die Übereinstimmung hinsichtlich der Gnade Gottes und des Glaubens will ich kurz an rabbinischen Texten aufzeigen. Dass alles an Gottes Gnade hängt, zeigt etwa folgende Passage aus dem Midrasch Mechilta de Rabbi Jischmael:

„Du hast geleitet durch Deine Gnade“ (Ex 15,13). Gnade hast Du uns erwiesen, denn in unseren Händen waren keine Taten. Denn es ist gesagt: „Der Gnadenerweise Adonajs will ich gedenken“ (Jes 63,7). „Die Gnadenerweise Adonajs will ich auf immer besingen usw.“ (Ps 89,2). Und die Welt ist von ihrem Anfang an nur durch Gnade erbaut worden. Denn es ist gesagt: „Ja, ich habe gesagt: Die Welt ist durch Gnade erbaut worden usw.“ (Ps 89,3).

Öfters wird das Hohelied des Glaubens gesungen; ich zitiere aus derselben Schrift:

„Und sie glaubten Adonaj und Mose, seinem Knecht“ (Ex 14,31). Wenn sie Mose glaubten, (gilt der Schluss vom) Leichten auf das Schwere: (dass sie auch) Adonaj (glaubten). Das ist gekommen, um dich zu lehren, dass jeder, der dem treuen Hirten glaubt, (so ist,) als ob er dem Wort dessen glaubt, der sprach, und es ward die Welt … „Und sie glaubten Adonaj“ (Ex 14,31). Groß ist der Glaube, mit dem die Israeliten an den glaubten, der sprach, und es ward die Welt. Denn dank dessen, dass die Israeliten Adonaj glaubten, ruhte der Geist der Heiligkeit auf ihnen und sangen sie ein Lied … (Ex 14,31; 15,1). Und so findest du, dass Abraham, unser Vater, diese Welt und die kommende Welt allein dank des Glaubens geerbt hat, mit dem er Adonaj glaubte. Denn es ist gesagt: „Und er glaubte Adonaj; und er rechnete es ihm als Gerechtigkeit zu“ (Gen 15,6) … Und so findest du, dass die Israeliten allein dank des Glaubens aus Ägypten befreit wurden. Denn es ist gesagt: „Und das Volk glaubte“ (Ex 4,31). Ebenso heißt es: „Die Glaubenden behütet Adonaj“ (Ps 31,24).

Bevor ich auf die nächste wichtige Weichenstellung, das Verständnis von V.27, komme, sei noch einmal hervorgehoben, dass Paulus ja auch in diesem Abschnitt ausdrücklich die These formuliert, auf die es ihm ankommt, dass „es keinen Unterschied gibt“ (V.22) – zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen, negativ hinsichtlich der Sünde, was er zuvor schon ausführlich herausgestellt hatte, positiv hinsichtlich der Rechtfertigung, was er nun begonnen hat auszuführen. Durch den Gesalbten Jesus hat sich Gott auch den Völkern solidarisch erwiesen. Das ist der Hintergrund für die am Beginn von V.27 stehende Frage: „Wo ist also der Ruhm?“ Er antwortet in aller Entschiedenheit: „Er ist ausgeschlossen worden.“ In der protestantischen Tradition – bis zum neusten deutschsprachigen Kommentar aus dem Jahr 2003 – wird diese Frage auf die „fromme Leistung“ bezogen. Nach diesem Kommentar wird mit der Frage, wo der Ruhm bleibe, auf die Haltung des Menschen hingewiesen, in der er sich seiner eigenen Fähigkeiten, Möglichkeiten und Taten meint rühmen zu können. Ist der Jude (!) der Ansicht, er könne sich auf die Thora berufen und vor Gott und den Menschen Werke geltend machen, deren Erfüllung das Gesetz fordert, so täuscht er sich von Grund auf und vertraut in Wahrheit nur auf die „sarx“, das hinfällige und vergängliche „Fleisch“ (Lohse, 137).

Diese dem Judentum unterstellte Meinung wird auch im Judentum abgelehnt. Ich zitiere aus einem Midrasch:

Wenn es schon nötig ist, dass ein Mensch vor einem König von Fleisch und Blut sich demütig verhält, um wie viel mehr vor dem Ort (= Gott). Und man hat gelehrt: „Sei stark wie ein Tiger, rasch wie ein Adler, schnell wie eine Gazelle und mutig wie ein Löwe, um den Willen Deines Vaters im Himmel zu tun.“ Es wird dann gerade nicht fortgefahren: damit du dich vor Gott rühmen kannst, sondern vielmehr: „um dich zu lehren, dass es keinen Stolz vor dem Ort (= Gott) gibt. Elija sagt: Jeder, der die Ehre des Himmels vermehrt und die eigene Ehre vermindert, vermehrt sich die Ehre des Himmels und vermehrt sich seine Ehre; aber jeder, der die Ehre des Himmels vermindert und die eigene Ehre vermehrt – die Ehre des Himmels bleibt an ihrem Ort, und seine Ehre vermindert er sich“ (BemR 4,20).

Gemeint ist in Röm 3,27 vielmehr der Ruhm, den Israel insofern hat, als ihm die Tora anvertraut worden ist und es sich also von den Völkern unterscheidet. Solcher Ruhm wird etwa in Bar 4,1-4 ausgesprochen. Damit kommen wieder diejenigen Gebote und Verbote besonders in den Blick, die jüdische Lebensweise von anderer abgrenzen. Und darauf geht Paulus auch in der Fortsetzung ausdrücklich ein, wenn er fragt, durch welchen Aspekt der Tora der Ruhm, nämlich der Ruhm Israels, ausgeschlossen sei. Er verneint zunächst, dass er unter dem Aspekt ausgeschlossen sei, dass die Tora érga fordert. Luthers Übersetzung: „Durch das Gesetz der Werke?“ Hier ist nun in meinen Augen völlig klar, dass bei Verbindungen des Plurals érga („Taten“) mit nómos (Tora, „Gesetz“) nicht allgemein das von der Tora geforderte gute Tun gemeint sein kann. Denn das vermögen im besten Fall nach Röm 2,14-16 auch nichtjüdische Menschen, während jüdische im schlechtesten Fall es nach 2,17-24 nicht tun. Diesen Unterschied hatte Paulus schon erledigt, während er ja hier eine Hinsicht festhält, in der der Ruhm nicht ausgeschlossen ist, der Unterschied also bleibt.

Nebenbei ist begrifflich auffällig, dass Paulus, wo es um das von der Tora geforderte gute Tun geht, nicht die Wendung érga nómou gebraucht. In 2,14 formuliert er ta tou nómou und in 2,15 im Singular to érgon tou nómou.

Der Text Röm 3,27 wird dann durchsichtig und verständlich, wenn érga (Taten, „Werke“) hier wie schon in 3,20 die für Israel spezifischen Gebote und Verbote meint, die jüdische Lebensweise ausmachen und von anderer Lebensweise unterscheiden, also die religiöse Praxis. Das heißt also: Unter dem Aspekt dessen, was die Tora von Israel an religiöser Praxis fordert, ist sein Ruhm nicht ausgeschlossen. Das stellt Paulus hier ausdrücklich fest; und das sollte man auch erst einmal wahrnehmen. Diese religiöse Praxis markiert die Unterscheidung, die bleibt; in ihr manifestiert sich die Besonderheit Israels, die Paulus keineswegs in Frage stellt. Das ist in diesem Kontext jedoch nur ein Nebenpunkt. Hier kommt es Paulus darauf an darzulegen, dass der Unterschied zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen auch in positiver Hinsicht aufgehoben ist durch die Treue des Gesalbten Jesus, worauf sich alle vertrauensvoll einlassen können und so Rechtfertigung, Anerkennung vonseiten Gottes erfahren. So antwortet er auf die Frage, durch welchen Aspekt der Tora der Ruhm ausgeschlossen sei – ich gebe zunächst Luthers wörtliche Übersetzung: „durch das Gesetz des Glaubens“ und umschreibe das so: durch die Tora, insofern sie die Treue Gottes und seines Gesalbten Jesus bezeugt und damit auf Vertrauen und Glauben auch der Menschen aus den Völkern zielt. Das erläutert Paulus in V.28: „Wir rechnen nämlich darauf, dass ein Mensch durch Treue und Vertrauen gerecht gemacht wird unabhängig von der von der Tora geforderten religiösen Praxis.“ Die Gegenüberstellung ist hier nicht die von Glaube und Leistung, wie es die klassische lutherische Sicht will. Vielmehr spricht Paulus den Menschen aus der Völkerwelt die gleiche Zuwendung Gottes zu, die bisher für Israel galt. Nur unter dieser Voraussetzung ist es ja sinnvoll, dass Paulus im folgenden Vers 29 auf Israel und die Völker im Schema von „nicht nur – sondern auch“ zu sprechen kommt. V.28 ist nicht die zentrale These, auf die der Abschnitt zuliefe, sondern lediglich eine Zusammenfassung von vorher schon Gesagtem, die hier als Erläuterung dient.

Worauf Paulus hinaus will und was am Anfang mit der Wendung „außerhalb des Geltungsbereiches der Tora“ schon angeklungen war, das sagt er nun anschließend. Zunächst V.29: „Oder ist etwa Gott allein Gott des jüdischen Volkes? Nicht auch der Völker? Ja, auch der Völker!“ An dieser Abfolge wird noch einmal deutlich, dass das Problem für ihn nicht an der Frage „göttliche Gnade oder menschliche Leistung“ hängt, sondern dass es um das Hinzukommen der Völker ohne Beschneidung geht. Für ihn liegt der Ton auf der durch den Gesalbten Jesus gewirkten endzeitlichen Gleichstellung der Völker mit Israel unter dem Gesichtspunkt der durch Glauben/Vertrauen gewonnenen Rechtfertigung. Das macht er in V.30 ausdrücklich: So gewiss Gott einzig ist und das Volk der Beschneidung gerecht machen wird aufgrund von Treue und Vertrauen und die Völker der Unbeschnittenheit durch Treue und Vertrauen.

Abschließend beteuert Paulus in V.31, dass er mit dieser Propagierung von Treue und Vertrauen die Tora keineswegs annulliert, sondern ihr im Gegenteil zur Geltung verhilft. Jüdinnen und Juden sollen das ihnen Gebotene selbstverständlich halten, einschließlich der spezifischen religiösen Praxis. Von den aus den Völkern hinzukommenden Menschen werden, wie es Paulus später in Röm 8,4 formuliert, „die Rechtsforderungen der Tora“ ausgeführt. Das meint das von der Tora Gebotene ausschließlich der érga nómou, der Israel gebotenen religiösen Praxis.

Bis einschließlich Kap. 8 befasst sich Paulus mit Fragen, die damit zusammenhängen, dass er den Unterschied zwischen Israel und den Völkern in positiver Hinsicht eingeebnet hat. Seine Argumentation lässt sich von daher durchsichtig machen. Darauf kann ich jetzt nicht mehr eingehen. Ich möchte nun noch den anderen Hauptpunkt wenigstens anskizzieren, dass er dennoch entschieden an der Besonderheit Israels festhält und sie betont herausstellt. Was er schon in 3,1-3 hatte anklingen lassen, das führt er in Kap. 9-11 eindrücklich aus. Ich weise nur auf wenige Punkte hin. In Röm 9,4f. sagt Paulus von seinen nicht an Jesus glaubenden Landsleuten:

Sie sind ja doch Israeliten, ihnen gehören die Sohnschaft, der Glanz, die Bundesschlüsse, die Gabe der Tora, der Gottesdienst und die Verheißungen; ihnen gehören die Väter, und von ihnen kommt der Gesalbte seiner Herkunft nach.

Paulus weiß nichts von der auf Jesus bezogenen Gemeinde als einem „wahren Israel“; der Ehrenname Israel gehört seinen jüdischen Landsleuten. Was er von Jesus sagt, dass er Sohn Gottes sei; was er von den Menschen in der Gemeinde sagt, dass sie Kinder Gottes seien, das sagt er hier ohne Wenn und Aber von seinen jüdischen Landsleuten. Die Bundesschlüsse und alles mit ihnen Verbundene sind nicht vergessen. Die Gabe der Tora ist eindeutig positiv; und der Gottesdienst meint nach antikem Sprachgebrauch den am Tempel in Jerusalem vollzogenen Kult. All das hier Aufgezählte hat Paulus im Blick, wenn er gegen Ende des großen Zusammenhangs von Kap. 9-11 in 11,29 formuliert: „Unwiderruflich sind die Gnadengaben und die Berufung Gottes.“ Charismen, Gnadengaben, sind es, was er hier aufzählt und was Israel zukommt, ganz unabhängig davon, ob es an Jesus als Gottes Gesalbten glaubt oder nicht, weil Gott sich in seiner Treue nicht vom Verhalten derer abhängig macht, denen er sich zusagt.

„Sind denn nicht alle aus Israel ‚Israel’?“

Das ist der Punkt, den Paulus ab Röm 9,6 betont herausstellt. Er bekräftigt zunächst seine gerade gemachte Aufzählung: „Keineswegs aber ist es so, als wäre das Wort Gottes hinfällig geworden.“ Das Aufgezählte sind ja Zusagen Gottes, und die gelten.

Das Verständnis von V.6b bedeutet eine ganz wichtige Weichenstellung. Normalerweise liest man den Satz als Aussage. In der Übersetzung Luthers: „Denn nicht alle sind Israeliten, die von Israel stammen.“ Von daher ist die gängige Interpretation, dass Paulus innerhalb Israels differenzierte. Aber hatte er nicht gerade seine nicht an Jesus glaubenden Landsleute betont als „Israeliten“ bezeichnet? Sollte er das schon wieder vergessen haben? Und auch mit dem folgenden Kontext kommt man dann in Schwierigkeiten. Mir ist es vor einigen Jahren wie Schuppen von den Augen gefallen, dass dieser Satz nicht als Aussage gelesen werden darf, sondern als rhetorische Frage gelesen werden muss: „Sind denn nicht alle aus Israel eben Israel?“ Selbstverständlich sind sie es. Alle Kinder Jakobs, der den Ehrennamen „Israel“ erhielt, sind Israeliten. So entspricht es jüdischem Selbstverständnis. Bei Abraham und Isaak ist das anders, wie Paulus gleich weiter ausführt. Von Abraham geht es zu Isaak und nicht zu Ismael und den anderen Abrahamskindern, von Isaak zu Jakob und nicht zu Esau. Genau diese Linie zeichnet Paulus in V.6-13 nach in der Intention, die Zusagen Gottes ganz allein bei ihm selbst festzumachen und nicht bei ihren menschlichen Adressaten.

Aus dem großen Zusammenhang von Röm 9-11 will ich jetzt nur noch auf 11,28 eingehen, wo Paulus seine nicht an Jesus glaubenden Landsleute unter zwei Gesichtspunkten in den Blick nimmt: „In Hinsicht auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen, in Hinsicht auf die Erwählung aber Geliebte um der Väter willen.“ Paulus formuliert hier in einer Konstruktion mit „zwar – aber“, d.h. der Ton liegt auf dem zweiten Teil, während der erste nur eingeräumt wird. Im Blick auf die Verkündigung von Jesus als dem Gesalbten erfährt Paulus die Mehrheit seiner Landsleute als feindlich (vgl. 2Kor 11,24). Aber damit fängt er sofort etwas Positives an: „um euretwillen“. Dahinter dürfte die konkrete geschichtliche Erfahrung stehen, dass erst die mehrheitliche Ablehnung der messianischen Verkündigung in Israel diese Botschaft zu den Menschen aus den Völkern kommen ließ. Aber wenn es um seine jüdischen Landsleute geht, ist für Paulus das Evangelium nicht der entscheidende Gesichtspunkt. Relevanter ist Gottes Erwählung, und da gilt, dass sie Gottes Geliebte sind und bleiben. Paulus ist kein Vorläufer Markions. Gottes Geschichte mit seinem Volk ist für ihn fundamental, nicht nur die vergangene, sondern auch die weitergehende.

Zum Schluss will ich noch auf Röm 15,7-13 mehr hinweisen als eingehen. Hier bietet Paulus ein äußerst komprimiertes Fazit des ganzen Briefes. Nach Kap. 14 dürften im Hintergrund Auseinandersetzungen über die Frage stehen, wie jüdische und nichtjüdische Menschen in den Gemeinden ihr Zusammenleben organisieren, unter jüdischen oder unter nichtjüdischen Bedingungen. Beide Formen wurden praktiziert; eine Einigung war offensichtlich nicht möglich. Angesichts dessen, dass das Ziel das einmütige Lob Gottes ist, mahnt Paulus nun dazu, einander zu akzeptieren und aufzunehmen. Das sollen sie tun, „wie euch der Gesalbte aufgenommen hat“, also als in den Gesalbten Inkorporierte, als messianische Verkörperung. In V.8 blickt Paulus aber wieder über die Gemeinde hinaus, indem er eine Aussage über den Gesalbten in Bezug auf Israel macht: „Ich sage ja, der Gesalbte ist Diener des Volks der Beschneidung geworden zum Erweis der Treue Gottes, um die den Vätern und Müttern gegebenen Verheißungen zu bestätigen.“ Paulus sagt hier also von Jesus als dem Gesalbten eine diakonische Funktion gegenüber Israel aus „zum Erweis der Treue Gottes“. Was er in Röm 9-11 ausgeführt hat, wird hier auf eine knappst mögliche Formulierung gebracht: Gott hält Treue zu seinem Volk – unabhängig von dessen Verhalten. Und für diese Treue steht auch Jesus als Gesalbter ein. Er tut es so, dass er die den Vorfahren gegebenen Verheißungen bestätigt. Er hat sie nicht erfüllt. Sie sind auch alles andere als nichtig; sie gelten. Die den Vorfahren gegebenen Verheißungen sind vor allem die Verheißungen von Nachkommenschaft und Land und vom sicheren und gerechten Leben im Land. Als Gesalbter ist Jesus so Diener Israels, dass er solche Verheißungen nicht etwa aufgelöst, außer Kraft gesetzt, sondern bestätigt hat. Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass Paulus hier mit den Verheißungen nicht die Kategorie der Erfüllung verbindet, sondern die der Bestätigung. Wenn von Jesus die Erfüllung der auf Israel bezogenen Verheißungen behauptet würde, ginge das nur durch deren Spiritualisierung beim gleichzeitigen Wegziehen der Israelbezeichnung vom faktisch existierenden Judentum. Beides will Paulus ganz offensichtlich nicht. Wenn also Jesus als Gesalbter diese Verheißungen bestätigt hat, was heißt das dann für seine Gemeinde, wenn anders sie sóma christoú, messianische Verkörperung, ist? Müsste sie dann nicht seine dienende Funktion gegenüber Israel in dieser Hinsicht einnehmen und wahrnehmen und also für die Gültigkeit und Realisierung dieser Verheißungen einstehen?

Im Blick auf die Völker stellt Paulus in V.9 fest, dass sie Gott für sein Erbarmen loben, dass ihnen, wie das folgende Schriftzitat deutlich macht, durch Jesus als den Gesalbten gebracht worden ist. Damit nimmt er zusammenfassend auf, was er schon im Thema des Briefes in 1,16 hat anklingen lassen und was er von 3,21 an immer wieder ausgeführt hat. Israel und die Völker stehen zusammen im Lob Gottes; der Unterschied ist aufgehoben, aber an der Besonderheit Israels wird festgehalten. Dass die Völker Gott loben, wird von Paulus im Folgenden mit einer Kette von Schriftzitaten begründet. Ich schließe mit dem Zitat aus Dtn 32,43 LXX, einer Aufforderung an die Menschen aus den Völkern, die ich als die schönste Verhältnisbestimmung für Christinnen und Christen zum Judentum empfinde: „Freut euch, ihr Völker, mit seinem Volk!“

Editorische Anmerkungen

Vortrag auf dem 31. DEKT, Köln, 9. Juni 2007, Lehrhaus Judentum.

Der vorhergehende Vortrag vom 8. Juni: „Eiferer für Gott“ und „Apostel für die Völker“ - Paulus vor und nach „Damaskus“
in: Begegnungen, Heft 3, 2007, 2-9

Quelle: Begegnungen, Heft 4, 2007

Englische Übersetzung