Den Christen die Leviten lesen

Übersieht die Kirche die Gesetzestreue des Jesus von Nazaret? Die Theologin Ruth Lapide buchstabiert das Neue Testament aus jüdischer Sicht.

Den Christen die Leviten lesen

Übersieht die Kirche die Gesetzestreue des Jesus von Nazaret?

Die Theologin Ruth Lapide buchstabiert das Neue Testament aus jüdischer Sicht

Peter Rosien

Festversammlung in Wuppertal: Der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Manfred Kock,wirdin den Ruhestand verabschiedet. Unter den geladenen Gästen ist auch die jüdische Theologin Ruth Lapide. Ein Grußwort folgt dem anderen. Zuerst der Bundespräsident, dann die Vertreter der Konfessionen. Schlusswort: Manfred Kock. Ruth Lapide sitzt an einem der Tische. Sie wendet sich an den sie begleitenden Journalisten: »Wieso eigentlich kann hier niemand aus dem Judentum ein paar Worte sagen? Wir sind schließlich die ältere Schwester der Kirche?« So etwas macht der temperamentvollen Jüdin zu schaffen. Ebenso der Umstand, dass bei der Vorbereitung des Bibeljahres 2003 keine Vertreter des Judentums hinzugebeten wurden. Das haben die christlichen Konfessionen unter sich ausgemacht. Und Ruth Lapide findet das nicht richtig, ist doch, wie sie betont, die Bibel von Juden geschrieben worden, einschließlich der Evangelien und der Paulusbriefe.

Zwar können Juden, so sagt Lapide, ein Leben lang treue Juden sein, ohne jemals ins Neue Testament geschaut zu haben. Und sie könnten auch nirgends in ihrer hebräischen Bibel einen Hinweis auf Jesus Christus erkennen. Christen aber bekämen wohl Probleme mit ihrem Glauben, würden sie das Alte Testament der Juden nicht beachten. Dieses Buch, mit dem der Jude Jesus von Nazaret aufwuchs und aus dem er lebte, wird denn auch im Neuen Testament über 400 Mal zitiert. Und so sind keine zwei Religionen geistig so verwandt und dennoch einander derart entfremdet, muss man wohl sagen, wie Christentum und Judentum.

Diese Entfremdung treibt Ruth Lapide um. Ihretwegen ist sie im Jahr 1974 zusammen mit ihrem Mann, dem Judaistik-Professor Pinchas Lapide, von Jerusalem nach Deutschland zurückgekehrt. Zurück in jenes Land, aus dem sie 1939 mit ihren Eltern vor den Nazis in das damalige britische Mandat »Palästina« geflohen war. »In Deutschland ist es passiert, dort liegen starke Wurzeln des Antisemitismus, dort müssen wir an der Verständigung zwischen Juden und Christen arbeiten.« Mit solchen Worten haben sich die Lapides von ihren entgeisterten Kollegen an der Universität von Jerusalem verabschiedet. Bis zum Tod von Pinchas Lapide im Jahr 1997 hat das gelehrte Paar über 60 Bücher vorgelegt, zusammen erarbeitet, aber stets nur unter dem Namen Pinchas Lapide herausgegeben ... Umso schwerer war es für Ruth Lapide, das gemeinsame Anliegen nach dem Tod ihres Mannes allein weiterzuverfolgen. Das aber hat sie mit Bravour geschafft. Sie ist heute eine bundesweit gefragte Vortragsrednerin, ist gesuchte Gesprächspartnerin von Kirchenleuten, Politikern und Professoren aus Theologie und Psychologie. Sie macht Fernsehsendungen und hat einen Lehrauftrag an der Evangelischen Fachhochschule Nürnberg. Ein Buch unter ihrem Namen ist im Frühjahr 2003 erschienen: »Kennen Sie Adam, den Schwächling? - Ungewöhnliche Einblicke in die Bibel« (Kreuz Verlag). Pünktlich zur Verleihung des Hessischen Verdienstordens am 15. August durch Ministerpräsident Roland Koch erscheint Band II: »Kennen Sie Jakob, den Starkoch?«

Ruth Lapide hat ihre eigene Forschungskompetenz als jüdische Theologin bewiesen. Die hebräische Bibel kennt sie aus dem Effeff, ebenso die rabbinische Literatur aus Mischna, Talmud und Midrasch. Alte Schichten dieser Literatur sind zeitgleich mit dem Wirken Jesu und der Abfassung des Neuen Testaments entstanden. Für das Verständnis der Paulus-Briefe und der Evangelien sind sie von unschätzbarem Wert. Und natürlich kennt sich Ruth Lapide rundum im Neuen Testament aus. Die biblischen Sprachen beherrscht sie fließend. Den Koran liest sie auf Arabisch und kann christliche Theologen immer wieder mit ungeahnten Zitaten aus dem heiligen Buch der Muslime überraschen.

In ihrer Arbeit verfolgt Lapide vier große Ziele:

  1. Sie will zeigen, dass jedweder Antijudaismus in der christlichen Theologie und in den Kirchen gegen den Geist des Jesus von Nazaret verstößt, aus dessen Worten, Taten und Kreuzestod also keinesfalls zu begründen ist.
  2. Sie will deutlich machen, dass die christliche Aneignung der jüdischen Tradition oft den Charakter einer Enteignung hat.
  3. Sie will erreichen, dass Christen das jüdische Selbstverständnis ernst nehmen und in Debatten darüber jüdische Theologen hinzuziehen.
  4. Sie will im Dialog eine Annäherung zwischen Juden und Christen herbeiführen, und Gemeinsames herausstellen, nachdem man über Jahrhunderte hin nur das Trennende betont hat.

Im Zentrum dieser theologischen Arbeit steht der Jude Jesus von Nazaret. Nach dem Verständnis von Ruth Lapide war er Rabbi aus einer der Schulen der Pharisäer, trotz mancherlei Sonderguts ein treuer Lehrer der Tora. Die Tora umfasst die fünf Bücher Mose mit theologischen, geschichtlichen, und gesetzlichen Texten. Wie Lapide betont, ist diese Tora das ganzheitliche Zentrum des jüdischen Glaubens. Sie enthält viele Ge- und Verbote, die für Juden im Talmud ausgelegt werden. Insgesamt ist die Tora, sagt Lapide, viel mehr als Weisung Gottes. Sie ist Ausdruck seiner Güte und Barmherzigkeit. Und so ist denn auch das Zentrum der Tora das Doppelgebot der Liebe (zu Gott und zum Mitmenschen), dass Jesus oft zitiert. Nach Lapide war die Tora für Jesus Lebenshilfe im Glanz der Liebe. Sie hat er »in allen Synagogen in Galiläa« (Markus 1, 39) gepredigt; sie hat er in streitfreudigen Lehrgesprächen mit seinen pharisäischen Kollegen ausgelegt. Von ihr wollte er um keinen Preis Abstriche machen, auch nicht ein Jota, wie Matthäus ihn zitiert (Kapitel 5, 17 und 18). Ruth Lapide betrübt: »Christen übersehen das immer gerne.« Und weil auch das Buch Levitikus mit seinen vielen Einzelgesetzen zur Tora gehört, kann man sagen, mit Jesus liest sie den Christen gewissermaßen die Leviten. Das Fazit der jüdischen Theologin: »Nichts, was Jesus tat, lehrte oder unterließ, sprengte die Grenzen des Judentums.«

Mit solchen Sätzen sind Christen natürlich unvermittelt in ihrer Identität gefragt. Wenn Jesus voll und ganz ins Judentum gehört, was ist denn dann das Eigene am christlichen Glauben? Was ist die »Gute Nachricht«, das Evangelium? Pflegen Christen am Ende ein missverstandenes Judentum? Ruth Lapide hält sich hier mit Antworten deutlich zurück. Das müssen Christen schließlich unter sich selbst klären.

Und ganz sicher haben Christen auch dutzende Antworten auf diese Fragen parat. Für den Autor dieser Zeilen gehören zwei »Antwort-Linien« zu den heute am deutlichsten erkennbaren. In aller Kürze:

Die eine geht über die Wörtlichnahme jener Texte, in denen Jesus als menschgewordener Sohn Gottes dargestellt wird, der den Erlösertod am Kreuz auf sich genommen hat und vom Tod auferweckt wurde. Die Gottessohnschaft Christi und der Trinitätsglaube sind hier wichtiger als das, was der geschichtliche Jesus gelehrt haben mag.

Eine andere Art, auf die Herausforderung des »rein jüdischen« Jesus einzugehen, liegt in der Anerkennung der bibelkritischen Einsicht, derzufolge keiner der neutestamentlichen Autoren Jesus selbst gekannt hat. Bei der fragwürdigen Authentizität der Überlieferung in den Evangelien sind unsere Jesus-Bilder somit stets literarkritisch mehr oder weniger gut begründbare Konstrukte. So lässt sich ein »rein jüdischer«, nur die Tora lehrender Jesus durchaus darstellen. Aber ich denke, man muss dazu schon einige Texte mit gegenläufiger Tendenz umdeuten, für nicht authentisch erklären oder als »falsch übersetzt« ansehen. Auf die gleiche Weise aber kann man auch einen Jesus ins Zentrum rücken, für den das Wesentliche in der Unmittelbarkeit des Einzelnen zu Gott geschieht. Dieser Gott, der sich mit dem Gesetz in das Herz des Menschen geschrieben hat (Jeremia 31, Vers 33), braucht keine Mittler, weder die Torarolle noch den »inkarnierten Gottessohn«. Vor aller Weisung ergeht sein großes Ja-Wort an den Menschen, voraussetzungslos und bedingungslos, wie zum Beispiel im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas, 15, 11 bis 32). Jesus als Verkünder dieses Gottes öffnet das Judentum gewissermaßen ins Universale.

Was immer man als das Eigene des christlichen Glaubens im Gegenüber zum jüdischen Glauben ansieht, der Dialog mit Ruth Lapide ist stets spannend, erfrischend und bereichernd. Diese jüdische Theologin hat ein riesiges Arsenal an Argumenten für ihren Standpunkt. Sie spricht und schreibt plastisch, offen und verständlich. Dialog ist ihre ganze Leidenschaft. Umso mehr bekümmern sie zwei Umstände. Zum einen hat sie den Eindruck, dass der christlich-jüdische Dialog immer zaghafter wird. Der notwendige Streit ums Eingemachte des Antijudaismus werde vermieden. Zum anderen stößt Lapide bei nicht wenigen ihrer jüdischen Glaubensgenossen auf Unverständnis. Dort glaubt man einfach nicht daran, dass Antijudaismus durch theologische Arbeit aufgelöst werden kann. Motto: Was geht uns das Buch der Christen an? – So wandert Ruth Lapide auf der Grenze zwischen Judentum und Christentum. Es ist einsam dort. Doch Grenzgänger können gut vermitteln, sie kennen beide Seiten.

 

Editorische Anmerkungen

Quelle: PUBLIK-FORUM Zeitung kritischer Christen, Nr. 15, 15. August 2003 www.publik-forum.de