Das zerstörte jüdische Erbe

Die Universität Kassel hat zwischen 1987–2005 zwanzig jüdische Gelehrte als Franz-Rosenzweig-Gastprofessoren nach Kassel, dem Geburtsort von Franz Rosenzweig, eingeladen. Selbst “aus rassischen Gründen' verfolgt, haben sich die Geladenen “in ihrer Forschung speziell mit der europäisch-jüdischen Geschichte, Kultur und Bildung auseinandergesetzt'. Im folgenden wird auf einige der weitblickenden Aussagen eingegangen. Die zutiefst berühren und zugeich spannend sind.

Das zerstörte jüdische Erbe

Auseinandersetzung und Vergegenwärtigung

Die Universität Kassel hat zwischen 1987–2005 zwanzig jüdische Gelehrte als Franz-Rosenzweig-Gastprofessoren nach Kassel, dem Geburtsort von Franz Rosenzweig, eingeladen. Selbst „aus rassischen Gründen" verfolgt, haben sich die Geladenen „in ihrer Forschung speziell mit der europäisch-jüdischen Geschichte, Kultur und Bildung auseinandergesetzt". Der Bezug zum „zerstörten jüdischen Erbe" war somit in ihrer eigenen Biographie bereits vorgegeben. Aus ihren persönlichen Verfolgungsschicksalen und der jeweils eigenen „mühevollen Wiedergewinnung einer neuen Lebensidentität" erwuchsen in ihren Vorlesungen Erneuerungsvorschläge für ein neues jüdisches Leben und Denken nach der großen Katastrophe der Schoa.1 Im folgenden wird auf einige der weitblickenden Aussagen eingegangen. Die zutiefst berührenden, aber auch spannenden persönlichen Lebensgeschichten dieser einflußreichen jüdischen Denker sind gerade wegen ihrer Kürze und der lebendigen Schilderung auch für den Unterricht höchst empfehlenswert.

Vergegenwärtigungen des zerstörten jüdischen Erbes

Emil L. Fackenheim (geb. 1916 Halle an der Saale, verst. 2003 in Jerusalem)2 deutet die jüdische Geschichte vor und nach dem Holocaust. Er erinnert daran, daß Hitler das jüdische Leben zerschlagen hat und daß sein Judenhaß viele Christen zum Antisemitismus verführt hat. Er macht deutlich, daß Haß in die Religionen hineinkommt, wenn keine Wahlfreiheit und keine Liebe da ist, „denn mit diesem ersten christlichen Haß [auf das Volk des Juden Jesus] kam Haß überhaupt in die Religion der Liebe". „Das jüdische Volk muß auch den Tikkun-Olam, das Heilwerden der Welt, als Aufgabe übernehmen." Dies könne sogar als ein „Herbeizwingen der Welt zum Gott Israels" gedeutet werden (299 f). Als wichtigstes Denken bezeichnet Fackenheim die Auseinandersetzung aller Menschen — vor allem aber der Christen — mit dem Tikkun. Wenn sie im Tikkun den Frieden fänden, wenn Christen und Muslime zum Gebet nach Jerusalem kämen, „nicht obwohl, sondern weil die Juden zurückgekehrt sind" (309).

Leonhard Ehrlich (geb. 1924 Wien) hat sich besonders von Karl Jaspers, Martin Heidegger und Franz Rosenzweig beeinflussen lassen. Er kritisiert das jüdische Volk und fordert, daß es zu einem heiligen Volk werde. Es sei „zu begierig in die Strömungen der Moderne eingetreten". Im Zuge der Assimilation, der Anpassung an die Umwelt, habe dies auch „zum Phänomen des jüdischen Selbsthasses geführt" (51). Heute schwankt das Judentum „zwischen zuversichtlicher Selbstbestätigung und sorgenvoller Wachsamkeit, zwischen äußerer Bedrohung, innerem Zerfall einerseits und dem freudvollen Tragen der Bürde andererseits, die darin besteht, dazu auserwählt zu sein, daß man Jude sein darf. Der Jude weiß heute um die Fraglichkeit seines Judeseins; und Jude kann er heute nur sein in bewußter Bewährung seines Judentums angesichts dieser Fraglichkeit" (68).

Zvi H. Rosen (geb. 1925 Danzig) befaßt sich mit der polemischen Auseinandersetzung von Karl Marx mit Bruno Bauers Auffassung der Judenfrage und der Emanzipation. Bauer hatte sich in die preußische Debatte um die Gleichberechtigung der Juden, die auch von Nicht-Juden unterstützt wurde, eingeschaltet. Er verachtete sowohl das Judentum, „die ekelhafteste Gestalt des Privilegiums" (170), als auch das Christentum als „vollendetes Judentum" (172). Um Freiheit und Emanzipation zu erlangen, müßten beide, Juden und Christen, ihre Religion aufgeben (173). Marx dagegen befürwortete die politische Emanzipation der Juden als endgültige „Lösung aus aller Religion". Rosen sieht in Marx nicht nur einen „Nicht-Antisemiten". Selbst in den Augen seiner antisemitischen Gegner sei Karl Marx „ein Repräsentant des Judentums", von „stockjüdischem Blut" geblieben (178).

Jacob Goldberg (geb. 1924 Lodz) ist einer der besten Kenner des osteuropäischen Judentums, eines Judentums, das der Westen kaum kannte, und dessen Spuren vom Nationalsozialismus restlos vernichtet wurden. Er befaßt sich mit der ersten politischen Emanzipationsbewegung der Juden in Polen und Litauen während des Großen Sejms (1788—1792) und der Einrichtung „jüdischer Bevollmächtigter". Diese setzten sich für die Rechte und Privilegien der Juden ein und forderten die Abschaffung des Rechtes von Gläubigern, jüdische Angehörige als Geiseln zu nehmen, die dann oft gezwungen wurden, zum Katholizismus überzutreten. Gleichzeitig achteten die Bevollmächtigten darauf, daß bei allen emanzipatorischen Veränderungen „auf die jüdische Tradition und jüdisches Brauchtum geachtet wurde" (200).

Die Familie von Benyamin Maoz (geb.1929 Kassel) emigrierte bereits 1937 nach Palästina. Maoz behandelt das Thema „Tod und Trauer" und die damit im Judentum verbundenen Gebote, Gebräuche und Trauerrituale wie Schiwa-Sitzen, Kriah( Einreißen der Kleider) und Kaddisch. Bemerkenswert ist, daß die Trauer von Holocaustüberlebenden manchmal erst sehr spät zu einer heftigen Krise führt. Maoz schließt mit dem wichtigen Hinweis, „daß die jüdische Religion absolut vorschreibt, daß die Trauerrituale ein Ende haben müssen, und wer sie länger als vorgeschrieben ausübt, begeht eine Übertretung und eigentlich eine Sünde" (220).

Schwerpunkte der Arbeit von Rivka Horwitz (geb. 1926 Bad Homburg) sind „die Geschichte des jüdischen Denkens und deren Erneuerung im 19. Jh. sowie die Aktualität der religionsphilosophischen Werke von Franz Rosenzweig und Martin Buber". Thema ihres Hauptvortrags (231-251) ist eine Deutung der Arbeiten von Franz Rosenzweig (1886–1929) und Johann Georg Hamann (1730–1788) über „die Macht der Rede" und die „Verbindlichkeit von Worten". Da für Rosenzweig „Sprache" und „Dialog" zusammengehören, steht „Sprache in erster Linie im Zusammenhang mit Offenbarung", denn „Sprache ist göttlich und menschlich" (245). Es existiere eine communicatio zwischen göttlichen und menschlichen Worten und Gedanken. „Sprechen, Dialog und Offenbarung ist ein und dasselbe" (Rosenzweig, 248). Hamann dagegen findet Gottes Offenbarung „sowohl in der Natur als auch in der Bibel" (249). Für Horwitz spielt Rosenzweig eine zentrale Rolle bei der Rückkehr des jüdischen Volkes zur Religion.

Auseinandersetzung mit dem zerstörten jüdischen Erbe

Ähnlich wie im ersten Sammelband wird auch im zweiten Band über Heilswege für das jüdische Volk aus Niedergeschlagenheit und Verlust heraus nachgedacht. Die Erkenntnisse der zitierten Autoren sollten auch von christlichen Philosophen und Theologen zur Kenntnis genommen werden.

Ze'ev Levy (geb. 1921 Dresden) untersucht das Verhältnis von Emmanuel Levinas zu Hermann Cohen, Martin Buber und Franz Rosenzweig (126–141). Levy bejaht die Grundlagen der Ethik von Levinas, „die Verantwortung des Einzelnen für die Anderen". Levinas stimmte mit Rosenzweig dahingehend überein, daß „die Antwort des Menschen auf Gottes Liebe die Überführung dieser Liebe zu den anderen Menschen sein soll". Cohen spricht vom „Nebenmensch", Levinas vom „Mitmensch". Der Unterschied liegt in „der ihr vorausgehenden Korrelation zwischen Gott und Mensch" (129). Levy bejaht auch die „Ich-und-Du"-Philosophie von Martin Buber. Daraus könne „das Verantwortungsgefühl für die Anderen" abgeleitet werden. Levinas war der Ansicht, daß Buber Gott zu einseitig als „ewiges Du" vorstellt. Gott sei zwar ein persönlicher Gott, es sei aber wichtig, „daß Gott zwischenpersönliche Beziehungen unter den Menschen hervorruft" (135). Levy sieht das wichtigste Forschungsergebnis von Emmanuel Levinas in derAussage: „Das Du, der Andere, hat Vorrang über das Ich, über das Selbst; das zieht die Verantwortung des Ich für die Anderen nach sich" (133).

Albert H. Friedlander (geb. 1927 Berlin, verst. 2004 in London)3 schrieb eindrücklich über „Jüdisches und christliches Denken nach der Zeit der Schoa" (26—38). Friedlander führt die Aussage von J. B. Metz, „Eine christliche Theologie, die sich nicht mit Auschwitz beschäftigt, ist des Zuhörens nicht wert", ergänzend weiter: „Nach Auschwitz müssen alle Religionen zu einem neuen Denken kommen." Obwohl jüdischer Glaube selbst auf dem Weg in die Todeskammern bestehen blieb „im festen Glauben an den kommenden Messias, auch wenn er zögern sollte" (29), kann man heute, so Metz, „nur noch beten, weil damals in Auschwitz gebetet wurde" (29). Daraus folgert Friedlander: „Wir können den Schrecken nicht ausradieren. [...] In der Erinnerung begegnen wir uns [...] und finden wir Gott" (39). Friedlander sieht das Denken nach der Schoa als ein Denken nach dem „Ende der Nacht", wie es auch in Gedichten von Dan Pagis und Paul Celan zum Ausdruck kommt. Mit Arnold Zweig sieht Friedlander ein Europa, das zusammenwächst, „dank des Grauenhaften, das wir erlebten" (38). Ob die Zukunft „einen Schimmer von Hoffnung" in sich trägt, muß die Zukunft selbst beantworten (38).

Rudolf Fischer (geb. 1922 Wien) überlebte mit seinen Eltern in Shanghai. In seiner Abhandlung „Der Faschismus und die Verführung durch Nietzsche" (52–58) führt Fischer aus, daß sehr wohl eine Beziehung besteht zwischen Nietzsches Philosophie und Hitlers Nationalsozialismus. Dem steht ein Trend in den USA entgegen, der Nietzsche „gründlich entnazifiziert" hat (55). Er erinnert aber, daß damals in Österreich auch der Zionismus als Faschismus gedeutet wurde, ebenso wie die Christlich-Soziale Partei und die Vaterländische Front (53). Nietzsche wird auch als „Pate" oder „Vorläufer" des Faschismus bezeichnet, denn „Wenn Gott tot ist, und es keine [allgemein anerkannten] Werte gibt, [...] müssen alle Möglichkeiten offen sein [...]. Dann ist auch das Nazi-Experiment erlaubt" (57). In Nietzsches Ecce Homo und seinem Gebrauch des Wortes „Übermensch" sieht Fscher bereits „eine nazihafte Brutalität zumindest vorgeschlagen" (57).

Gerda Elata-Alster (geb. 1930 Wien) hat die Verfolgungszeit in Holland überlebt. In ihrem Beitrag „Schaue nicht zurück (nicht einmal im Zorn). Sodom als Transzendenz" (75–92) verwebt sie ihre eigenen Lebenserfahrungen aus der Schoa mit der Geschichte von Sodom und Lot. Wie die Salzsäule kann auch die Schoa „als gewesen seiend" nicht mehr ausgewischt werden (89). Der Gedanke, „nicht zurückschauen", „sich nicht umdrehen", zieht sich durch alle von ihr behandelten Themen: über die Tora, die Schekhina, die Rolle der Frauen in der Heilsgeschichte Israels, die „Gerichtsverhandlung (Gen 18,23-32) zwischen Abraham, dem Fürsprecher der Menschen, und Gott, dem Richter (81). Elata-Alster schließt ihre Überlegungen mit einem Gedanken von „zwei Schöpfungen", einer männlichen, „von Ordnung schaffenden Worten Gottes hervorgerufen", und einer weiblichen, „der Schekkina, in der die Ordnung dann fehlte, es aber auch geselliger war. Nur Männer konnten das absolute Übel schaffen, nur Frauen [...] konnten den Erlöser bringen" (92).

Felix Tych (geb. 1929 Warschau) überlebte in Warschau mit falschen Papieren als „verwaister Neffe" einer polnischen Gymnasiallehrerin. Seine Familie wurde ermordet. „Seither habe ich nie mehr in meinem Leben gebetet" (99). Tych untersuchte vor allem das soziale Umfeld des Holocaust, d. h. die Einstellung und das Verhalten der Mehrheitsbevölkerung, „als die jüdische Bevölkerung in ihrer unmittelbaren Umgebung ausgerottet wurde" (105). Der Mord am jüdischen Volk geschah nicht vor den Augen des „Tätervolks", wohl aber vor den Augen der Polen. Damit wurden sie zu einem Volk von vielschichtigen Zeugen, aktiv oder passiv, profitierend, leidend, zustimmend oder ablehnend (106). Die polnische Bevölkerung deutet Tych generell als antinazistisch: „Die Polen nahmen nicht an Massenexekutionen und am industriellen Judenmord teil." Obwohl darauf die Todesstrafe stand, waren etwa 200 000 Polinnen und Polen an der Rettung von etwa 50 000 jüdischen Frauen, Kindern und Männern beteiligt (108). Nach 1942 änderte sich die Einstellung. Die Unterscheidung zwischen „Herrenvolk" und „Hundsvolk" hatte sich eingenistet und führte nach dem Krieg zu polnischen Mordaktionen, bei denen mehr als tausend Juden ums Leben kamen. Sogar Ritualmordbeschuldigungen kamen wieder auf (Mai 1945 und Juli 1946) und führten zu bestialischen Morden an Juden. Eine längst fällige Wende bewirkte die Rede von Präsident Alexander Kwasniewski in Jedwabne im Juli 2001.4

Chaim Schatzker (geb. 1928 Lemberg) gelangte 1941 mit 200 anderen Kindern nach einer zweijährigen Odyssee, davon ein Jahr auf einem Schiff vor Jugoslawien, nach Palästina. Alle anderen Passagiere, darunter seine Mutter, wurden von den Deutschen ermordet. Schatzkers Beitrag zeigt die Entwicklung der deutsch-jüdischen Jugendbewegung „Kameraden" (gegr. 1916 in Breslau). Als „Dritte Generation der Emanzipation" waren die Mitglieder bereits weit „von den geistigen Quellen des Judentums entfernt" (161). Ihre Diskussionen kreisten um Judentum und Deutschtum (161), um Gesellschaft und Gemeinschaft und um innere Wahrhaftigkeit angesichts der „Verlogenheit und Falschheit hinter der Fassade der gesellschaftlichen Normen" (157). Schatzker stellt fest, daß alle jüdischen Jugendorganisationen zu einer „Zurückwendung zum Judentum, zum eigenen inneren Wesen und Sein" tendierten, auch die „Kameraden" (162 f.), da eine Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung „nur durch zuvor innerlich veränderte Menschen eintreten" kann (159).

Mihály Vajda (geb. 1935 Budapest), aus einer nicht-religiösen jüdischen Familie stammend, verdankt sein Leben dem SS-General Karl Pfeiffer von Wildenbruch, der „verhinderte, daß die Pfeilkreuzler die Insassen der beiden Gettos abschlachteten (172). Vajda sagt, er sei schon als zehnjähriges Kind Kommunist geworden (173), denn für die ungarischen Juden waren die Russen die „Retter". Er studierte in Budapest Philosophie, fand aber wegen seiner Verbindung zur „Budapester Schule" um Georg Lukács keine wissenschaftliche Anstellung. In seinem vorliegenden Beitrag „Das ist keine Krankheit, eher Gesundheit" (Imre Kertesz) befaßt er sich vor allem mit der „Holocaust-Literatur" von Kertesz, der von sich selbst sagt: „Ich bin ein Medium des Geistes von Auschwitz". Kritisch hinterfragt Vajda, ob das Trauma von Auschwitz, „das größte Trauma der Menschen seit dem Kreuz", tatsächlich (literarische) Kultur schaffen könne (178). Eine mögliche Erklärung für das Trauma Auschwitz sieht Vajda angedeutet bei Nietzsches Rede über den Kreuzestod Jesu als „Schuldopfer, und zwar in seiner widerlichsten, barbarischsten Form, das Opfer des Unschuldigen für die Sünden der Schuldigen!" (183). „Auschwitz als Ereignis, Auschwitz als Gott" (183). Das „tatsächlich Unerklärbare" ist nicht das Böse. „Es ist das Gute" (Kertesz 184). Vom modernen europäischen jüdischen Intellektuellen sagt Kertesz: „Sein Judentum als Judentum bedeutet ihm nichts. Das Judentum als Erfahrung bedeutet ihm alles" (185).

Michael Löwy (geb. 1938 Sao Paulo) ging in seiner Forschung der Entstehung religiöser und nicht-religiöser Eschatologien und geschichtsphilosophischer Utopien nach. Nach seiner Habilitation über den ungarischen Marxisten Georg Lukács wandte er sich der Soziologie der Religionen zu und traf dabei auch persönlich auf Gershom Scholem (jüdischer Messianismus und Freiheitsutopie). In seinem Beitrag setzt er sich mit dem Werk von Hanna Ahrendt und Walter Benjamin auseinander (200 ff.). Benjamin hatte, um nach seiner Festnahme durch Franquisten der Gestapo nicht in die Hände zu fallen, am 24. September 1940 den Freitod gewählt. Löwy geht der engen geistigen Verbindung nach, die Arendt und Benjamin in ihrem Geschichtsverständnis von Imperialismus, Totalitarismus, Rassismus und Antisemitismus („Pseudogottheit der Neuzeit", Hanna Arendt, 203) verband. In seinem Studium der lateinamerikanischen „Theologie der Befreiung", die aus den Quellen der Propheten und dem Buch Exodus schöpft, sieht Löwy Parallelen zur „Theologie der Revolution" von Walter Benjamin. Mit Hannah Arendt stimmt er überein, daß „der Zionismus und der Kommunismus für die jüdischen Intellektuellen dieser Generation die einzigen Fomen der Rebellion waren, die ihnen zur Verfügung standen" (205).

Walter Grab (geb. 1919 Wien, verst. 2000 in Tel Aviv) legt eine ausgezeichnete Abhandlung über „Heinrich Heine und die Revolution von 1848" vor (241-256). Heine verstand Hegels Philosophie als Aufgabe, „die Volksmassen aus ihrer Apathie zu wecken und zu revolutionären Aktionen gegen ihre Unterdrücker aufzurufen". Grab sieht darin einen Zusammenhang mit Heines Interesse an den Saint-Simonisten und den Jakobinern. Den Saint-Simonismus nennt Grab eine „pantheistische Genußreligion", die für alle Menschen „im Diesseits Zufriedenheit und Glück" erhoffte (243). Mit dem Saint-Simonismus stellte sich Heine gegen „die christliche Überbetonung des Spirituell-Überirdischen" und die Illusion „jenseitiger Belohnung" (245). Heines Interesse an den Jakobinern entsprang seinem Wunsch nach einer Weltanschauung, die alle nationalen Scheidemauern niederreißt (244). Gleichzeitig fürchtete er die „heidnische Wildheit" revolutionärer Volksmassen. Nach Grabs Analyse war Heine überzeugt, „daß das Volk nur von oben emanzipiert werden" darf (244). Über die Obrigkeitshörigkeit des einfachen Volkes spottet er: „Der Obrigkeit gehorchen, ist / Die erste Pflicht für Jud und Christ. / Es schließe jeder seine Bude / Sobald es dunkelt, Christ und Jude" (250). Mit Heine versteht Grab die „Selbstemanzipation des Menschen aus den Fesseln des Rassenhasses" und der Fremdenfeindlichkeit weiter „als Auftrag an ein künftiges Geschlecht" (255).

Chaim Seeligmann (geb. 1912 Karlsruhe) wandte sich als Jugendlicher ganz bewußt dem Judentum zu und ging aus Überzeugung nach Palästina (Kibbuz Givat Brenner). Sein ganzes Leben widmete er der Kibbuzbewegung: als Arbeiter, Lehrer, Förderer und Forscher. Seeligmann ist überzeugt, daß die Kibbuzbewegung in all ihren Strömungen das „Originäre Israels und seiner Menschen" ist (266). Er schildert die Entwicklung des Kibbuz seit der ersten Gründung (Deganja, 1910), die verschiedenen Einwanderungswellen, die innen- und außenpolitischen Entwicklungen und deren Auswirkungen auf das Leben im Kibbuz. Der zentrale Begriff der Bewegungen war „Gemeinschaft" (267), wie sie auch von den Jugendbewegungen gefördert wurde. Die Kibbuzim standen für wirtschaftlichen Erfolg, für kulturelle und geistige Entwicklung. Sie brachten Künstler, Wissenschaftler, Politiker und große Denker hervor. Mit dem „Rückkehrgesetz" nach der Gründung des Staates Israel und den neuen großen Einwanderungswellen „änderte sich der Charakter Israels" (270). Der Zusammenbruch des Realsozialismus Ende der achtziger Jahre trug weiter zum Schwinden der Ideologie der Kibbuzbewegung bei. Doch Seeligmann hofft, daß „ein neuer Kibbuz mit neuen Inhalten" auch im 21. Jh. „universell eine neue Aufgabe vor sich hat".

Yaacov Ben-Chanan (geb. 1929 Riga als Marcel Ansohn) konnte aus dem Rigaer Getto flüchten. Zwei deutsche Offiziere brachten ihn nach Posen, wo er mit gefälschten Papieren bei einer deutsch-baltischen Pflegemutter überlebte (274). Seiner Familie hatte es an nichts gefehlt, außer am Jüdischen: „Ich erbte ein Nichts! [...] Das jüdische Erbe in unserer Familie war [...] zerstört, aber dennoch auf gespenstische Weise gegenwärtig, verborgen unter einer Hülle von Schweigen und Scham" (277 f.). Mit 45 Jahren begann er mit dem Studium der jüdischen Religion und Geschichte, denn „vor seinem jüdischen Erbe kann niemand davonlaufen" (281). „Jüdisches Erbe ist ein dialektisches Erbe, ist Leben und Denken in Widersprüchen" (282). „Wir müssen unser Erbe in unsere Sprache und unser Denken übersetzen, angefangen mit dem schwierigsten aller Codeworte, eben diesem Wort ,Gott'. Wir dürfen weder unserer Tradition noch unserem eigenen geistigen Standort die Treue kündigen. Beide kommen aus einer Geschichte, über die wir nicht beliebig zu verfügen haben" (283). Die Historiker mahnt Ben-Chanan: Wer ein Erbe vermitteln will, muß hinter den wissenschaftlichen Quellen der Geschichte „den wirklichen Menschen zu erkennen versuchen". Diese Leistung hat Schmied-Kowarzik mit den vorliegenden Bänden vorzüglich erbracht.

Abschließende Bemerkungen

Die in den beiden Bänden beschriebenen Schicksale, die lebendige Vergegenwärtigung des zerstörten jüdischen Erbes und die unumgängliche Auseinandersetzung damit sind von großer Bedeutung für die Weitergabe dieses Erbes. Dabei ist ein Hinweis von Ben-Chanan zu bedenken. Er sieht den Beginn der Zerstörung des jüdischen Erbes bereits dort, wo dies in der totalen Assimilation, teils unter Druck, vielfach aber aus freier Entscheidung geschah. Die Assimilanten „tragen dafür vor der Geschichte die Verantwortung" (280). Notwendig für die Wiederbelebung dieses von außen und von innen zerstörten Erbes ist der Wiederaufbau des gemeinsamen jüdischen Gebetslebens und der feste Glaube an den Einen Gott des Himmels und der Erde.

  1. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Vergegenwärtigungen des zerstörten jüdischen Erbes, Franz-Rosenzweig-Gastvorlesungen, Bd. 1 (Kassel 1987-1998), Kassel 1997; ders., Auseinandersetzungen mit dem zerstörten jüdischen Erbe, Franz-Rosenzweig-Gastvorlesungen, Bd. 2, (Kassel 1997-2005), Kassel 2004. Im zweiten Band kommen zusätzlich vier Professoren zu Wort, die schon vor der Einrichtung der Franz-Rosenzweig-Gastprofessur in Kassel gelehrt haben.
  2. Vgl. Giuseppe Veltri, Philosophie als religiöse Aufgabe. Der jüdische Philosoph Emil L. Fackenheim, in Freiburger Rundbrief 11(2004)38-41; sowie den Nachruf von Max Privorozki, ebd., 75 f.
  3. Vgl. den Nachruf von Hans Hermann Henrix in Freiburger Rundbrief 12(2005)73 f.
  4. Vgl. Polen: Kirche und Staat bitten um Vergebung, in: Freiburger Rundbrief 8(2001)288 f.