Das Lied der Hanna

Im Rahmen einer Veranstaltung der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Kassel legten Anfang März Rabbinerin Natalia Verzhbovska und die katholische Theologin Dr. Ilse Müllner das Loblied der Hanna aus 1. Samuel 2,1-11 aus. In diesem Loblied tut Hanna ihren Mund weit auf und lobt den Gott, der den Armen erhöht: Sie erhebt ihre Stimme für die Bedürftigen; für die, die unter Gewalt leiden; für alle, die keine Stimme haben. Als selbstbewusste Frau, die selbst mannigfaches Unrecht und viele Kränkungen erlebt hat, stellt sie sich mitten ins Heiligtum und tut ihren Mund auf für umfassende Gerechtigkeit, für Gleichheit und unteilbare Würde aller Menschen vor Gott. Nachfolgend dokumentieren wir die christliche Auslegung von Prof. Dr. Ilse Müllner.

Dass gestern der Internationale Frauentag war und zwei Frauen des 21. Jahrhunderts hier über eine biblische Frauengestalt sprechen, mag Zufall sein. Dass aber Hanna mit ihrem großen Gesang zur Gerechtigkeit die Samuelbücher eröffnet, ist es nicht. Kein Zufall, denn die Erzählerinnen und Erzähler, die die Anfänge des biblischen Königtums beschrieben haben, wollten, dass wir diese Brille aufsetzen, bevor wir uns mit den großen Königsgestalten beschäftigen. Es ist das Lied der Hanna, dessen Perspektive wir einnehmen, wenn von Saul, David und Salomo die Rede ist, von deren Machtund Heldentaten, von Kämpfen, Siegen und Niederlagen. Kurz: von der Einführung des Königtums im biblischen Israel.

Das Lied der Hanna setzt uns die Brille der Machtkritik auf – eine Brille, mit der ich als katholische Theologin meine Geschichte und meine Gegenwart habe. Deshalb werde ich mich zuallererst dem erzählerischen Kontext dieses Liedes widmen, es dann auf seine machtkritischen Impulse hin befragen, einen Bogen – natürlich – zum Magnifikat der Maria schlagen, um schließlich hier und heute in dieser Kirche zu landen.

Die Samuelbücher erzählen die Entwicklung des Königtums zwar als Erfolgsgeschichte, nicht aber als ungebrochene Geschichte. Eigentlich ist menschliche Herrschaft eine Kompromisslösung. Gott ist der König seines Volks. Die Menschen des Volks JHWHs aber – so erzählt es 1 Samuel 8 – wollen sein wie alle anderen Völker und auch einen König haben. Der Prophet Samuel führt dem Volk, das dieses fordert vor Augen, was es bedeutet, einen menschlichen Machthaber über sich zuzulassen:

1 Sam 8,11b Er wird eure Söhne holen und sie für sich bei seinen Wagen und seinen Pferden verwenden und sie werden vor seinem Wagen herlaufen. 12 Er wird sie zu Obersten über Tausend und zu Führern über Fünfzig machen. Sie müssen sein Ackerland pflügen und seine Ernte einbringen. Sie müssen seine Kriegsgeräte und die Ausrüstung seiner Streitwagen anfertigen. 13 Eure Töchter wird er holen, damit sie ihm Salben zubereiten und kochen und backen. 14 Eure besten Felder, Weinberge und Ölbäume wird er euch wegnehmen und seinen Beamten geben. 15 Von euren Äckern und euren Weinbergen wird er den Zehnten erheben und ihn seinen Höflingen und Beamten geben. 16 Eure Knechte und Mägde, eure besten jungen Leute und eure Esel wird er holen und für sich arbeiten lassen. 17 Von euren Schafherden wird er den Zehnten erheben. Ihr selber werdet seine Sklaven sein. 18 An jenem Tag werdet ihr wegen des Königs, den ihr euch erwählt habt, um Hilfe schreien, aber der HERR wird euch an jenem Tag nicht antworten. (EÜ)

Aber wie es so ist im echten Leben: Die Menschen bleiben bei ihrer Forderung, auch wenn sie lebensfeindlich ist. Und Gott – wie groß! – geht einen Kompromiss ein. Er lässt das Königtum zu; der Stempel des Kompromisses aber wird bleiben. Immer ist klar, dass Macht auch Machtmissbrauch mit sich bringt, dass die Herrschaft einiger Menschen über viele andere gezähmt werden muss. Deshalb – so will es das Deuteronomium, das fünfte Buch Mose, דברים in Kap 17 – muss der König immer eine Rolle der Tora bei sich haben, die ihn daran erinnert, der eigenen Macht nicht auf den Leim zu gehen.

Macht – von Anfang an ein Kompromiss, immer schon unter dem Verdacht des Missbrauchs. Und das Hannalied spielt die Ouvertüre zu dieser Geschichte. Hannas Geschichte geht ihrem Lied voran; danach hören wir nichts mehr von ihr. Es ist die Geschichte einer unfruchtbaren Frau, und als ob das nicht schon genug wäre, einer Frau, die eingezwängt ist in eine Familiensituation, in der die zweite Frau des gleichen Mannes mehrere Kinder bekommt. Wie beschämend! Wie kränkend! Was für eine Demütigung! Nein, die Frauen der hebräischen Bibel sind nicht auf ihr Muttersein reduziert – wir denken sofort an Debora, an Hulda, an die Frau im Hohelied, sie alle verkörpern andere Frauenrollen. Aber das Muttersein spielt für die Gesellschaften des Alten Orients natürlich eine wichtige Rolle, wie Familie überhaupt. Es ist zunächst eine ökonomische Frage – das Land will bewirtschaftet werden. Dann auch eine Frage der Gemeinschaftszugehörigkeit – ab dem babylonischen Exil lebt man nicht mehr an einem gemeinsam Ort und hat kein verbindendes Königtum. Schließlich ist Familie auch der Ort des Zusammenhangs über die Generationen hinweg, der Weg, als erinnerter Mensch in die Geschichte einzugehen.

Ihre Not der Unfruchtbarkeit nun trägt Hanna hin vor Gott, im Heiligtum, zu dem sie mit ihrer Familie – nicht ohne auf dem Weg gedemütigt zu werden – jährlich pilgert. Hanna ist verzweifelt und weint sehr (1 Sam 1,10); sie schüttet Gott ihr Herz aus, trägt ihre tiefste Not vor Gott.

1 Sam 1,12b [Der Priester] Eli beobachtete ihren Mund; 13 denn Hanna redete in ihrem Herzen, ihre Lippen bewegten sich, doch ihre Stimme war nicht zu hören. Eli hielt sie deshalb für betrunken 14 und sagte zu ihr: Wie lange willst du dich noch wie eine Betrunkene aufführen? Sieh zu, dass du deinen Weinrausch los wirst! (EÜ)

Eine Frau ist in höchster Not, ein Priester hält sie für betrunken und meint, sie zurechtweisen zu müssen. Es ist schon klar, dass ich diese Szene auf meinem katholischen Ohr höre, das auch ein Ohr der Verletzungen und Zurückweisungen ist, ein Ohr, das zunehmend mehr Geschichten von geistlichem, seelischem und körperlichem Missbrauch kennt. Der Amtsträger nimmt die Frau nicht ernst, stempelt sie als unzurechnungsfähig ab – schwierig, nicht an gegenwärtige Macht- und Herrschaftsverhältnisse in unseren Kirchen zu denken.

Hanna aber besteht auf ihrer Perspektive, und nicht der Priester, wohl aber Gott wendet sich ihr zu. Ihr Gebet wird erhört. Als sie nach dem Abstillen das Kind zum Heiligtum bringt, betet sie den Psalm (2 Sam 2). Ihre eigene Erfahrung hat darin Platz – die Unfruchtbare bekommt sieben Kinder – das Gotteslob geht aber darin nicht auf, sondern wird zu einer Hymne an die Gerechtigkeit. Vom Zerbrechen des Kriegsbogens ist die Rede und vom Ende der Armut; vom Erhöhen aus dem Staub und dem behüteten Weg der Gottesfürchtigen. Das alles aber – anders als das Königtum – wird nicht von Menschen bewerkstelligt, sondern von Gott. Mehr noch: Das Herstellen von Gerechtigkeit gehört zum Wesen Gottes, seine Welt will und muss ein Ort der Gerechtigkeit sein. Deshalb werden in diesem Psalm Bilder der Gerechtigkeit mit Bildern der Schöpfungstheologie verschmolzen: Die Pfeiler der Erde, das Gründen des Erdkreises, der Donner, der mit dem Gericht verbunden ist (V 8–10). Erst auf der Basis göttlicher Gerechtigkeit kann überhaupt von einem menschlichen König gesprochen werden. Nur in der Gerechtigkeitsperspektive, in der Sichtweise der Armen, der Unterdrückten und der Verlierer der großen Weltgeschichte ist von menschlicher Macht, vom König und vom Gesalbten Gottes zu sprechen.

Die Institutionen der Macht sind Kompromisse. Sie sind irgendwie nötig, weil wir Menschen sie brauchen. Aber sie müssen in der Perspektive des Hannalieds gesehen und gestaltet werden. Macht darf niemals um ihrer selbst willen sein, sondern ihr muss es um die Freiheit gehen, um das Ende des Hungers und das Leben in Fülle.

Hanna ist die erste Psalmistin der Samuelbücher. Sie spricht ihre Gebete (das notvolle Murmeln und das poetisch Wortreiche) noch bevor der große Psalmendichter David die Bühne der erzählten Welt betritt. So wird ein poetischer Rahmen um die Samuelbücher gelegt – Hanna in 1 Sam 2 und David in 2 Sam 22. Die beiden Lieder sind durch mehrere Stichwortverbindungen (z. B. Gott als Fels) miteinander verknüpft; sie eröffnen und beschließen die Samuelbücher und geben ihnen einen theologischen Interpretationsrahmen. So ist Hanna mit David als Psalmensänger*in verbunden. Die Samuelbücher haben aber nicht nur einen poetischen, sondern auch einen Frauenrahmen: Hanna am Anfang kämpft um die Geburt eines Kindes. Rizpa in 2 Sam 21 kämpft wie Antigone (Martin Buber) für die Ehre ihrer toten Kinder um eine Bestattung.

In der christlichen Bibel wird die Perspektive der Hanna aufgegriffen und Maria in den Mund gelegt. Auch da zu Beginn einer Erzählung, quasi als hermeneutische Brille vor der Jesusgeschichte des Lukasevangeliums (Lk 1,46–56). Gott wird auch hier als derjenige gepriesen, der für Gerechtigkeit sorgt, der die Herrschenden von ihren Thronen stürzt und die Niedrigen erhöht. Die Hungernden sättigt er mit seinen Gaben, und lässt die Reichen leer ausgehen.

Macht muss gezähmt werden, weil sie in der Menschheitsgeschichte immer zum Missbrauch tendiert hat. Es ist kein Zufall, dass diese existenzielle politische Wahrheit von den Autorinnen und Autoren der biblischen Schriften zwei Frauen in den Mund gelegt werden. Die Brücke zwischen dem Hannalied und dem Magnificat der Maria bedeutet für mich:

  • eine Erinnerung daran, dass die Autor*innen jener Schriften, die später das Neue Testament wurden, das Jesusereignis auf der Basis ihrer Heiligen Schriften, der Schrift Israels zu verstehen gesucht haben.
  • eine Erinnerung an die Verbindung von Frauen untereinander über Zeiten, soziale Kontexte und individuelle Lebensgeschichten hinweg.
  • eine Erinnerung daran, immer wieder danach zu fragen, wo wir die Mächtigen und wo die Ohnmächtigen sind. Die Erhöhung der Schwachen und Armen – es fällt uns immer wieder zu leicht, uns mit den Schwachen zu identifizieren und unsere eigene Schuldgeschichte des Machtmissbrauchs zu verdrängen. Ja, es gibt Kontexte, in denen ich auf der Seite der Schwachen stehe. Für die allermeisten von uns aber gilt, dass wir in verschiedene Machtzusammenhänge verstrickt sind, auch solche, wo wir auf der Seite der Mächtigen agieren.

Der Bogen von Hanna zu Maria ist mir als Christin aber auch deshalb wichtig, weil er dazu einlädt, diesen Bogen nachbiblisch weiterzuführen. Hin zu Frauen, die sich der Worte unserer Traditionen bedienen, um Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch zu kritisieren. Die ihre politische Analyse mit persönlicher Erfahrung verknüpfen und ins Gebet nehmen. Mystik und Widerstand fällt mir ein, das politische Nachtgebet und Dorothee Sölle fallen mir ein, Wil Gafney, Luise Schottroff, Amanda Gorman … Wer fällt Ihnen ein?

Editorische Anmerkungen

Prof. Dr. Ilse Müllner, Jhg. 1966. Studium der Katholischen Theologie in Wien und Tübingen. Promotion 1996. Von 1997 bis 2004 Studienrätin im Hochschuldienst an der Universität Essen im Bereich Altes Testament. 2001-2002 und 2003-2004 Lehrstuhlvertretung Altes Testament an der Universität Kassel. Seit April 2004 Professorin für Biblische Theologie am Institut für Katholische Theologie der Universität Kassel (Fachbereich 01).